7

Um zum Sun-Valley-Memorial-Krankenhaus zu kommen, mußte Decker auf dem Freeway gegen die späte Nachmittagssonne nach Westen fahren. Blinzelnd klappte er die Sonnenblende nach unten, die aber auch nicht viel gegen das grelle Licht half. Dann wühlte er im Handschuhfach herum, bis er eine Sonnenbrille fand. Ein billiges Ding – die Gläser waren total verkratzt –, aber immer noch besser, als blind zu fahren.

Vielleicht hatte Lilah ja wenigstens irgendwas unter der Augenbinde hindurch gesehen. Sie war aus einem leichten Material, das zwar mehrfach gefaltet worden war, aber sie hatte nicht ganz eng angelegen. Lilah hätte schon an irgendeiner Seite was erspähen können.

Wenn er Glück hatte.

An der Ausfahrt Branch Street verließ er den Freeway, bog nach links und fuhr eine weitere Meile über Nebenstraßen. Der heftige Wind wirbelte Staub auf, der im Licht des späten Nachmittags wie Goldstaub wirkte.

Die Zweigstelle Foothill des LAPD war für den östlichen Teil des San Fernando Valley zuständig – der letzten ländlichen Bastion von Los Angeles mit Meilen von Weideland. Langsam, aber stetig wurde aber auch dieses Gebiet kommerziell erschlossen, obwohl die Rancher ein stures Volk waren und sich häufig weigerten zu verkaufen, selbst wenn sie dabei richtigen Profit machen konnten. Es waren Menschen, die an ihren Gewohnheiten hingen und – wie Deckers Vater – nicht wüßten, was sie mit dem ganzen Geld tun sollten, wenn sie keine Arbeit mehr hätten, die den Körper fordert und Schwielen an den Händen hinterläßt.

Als er mit dem Plymouth von den Bergen weg auf den Foothill Boulevard bog, veränderte sich die Gegend. Statt offener Felder sah man nun Ziegeleien und Holzgroßhandlungen, Altmetallhändler, Dachdeckereien, Großgärtnereien und riesige Discountläden, die alles zu Schleuderpreisen anboten. Dann schlängelte sich der Boulevard noch ein Stück an großen, unbebauten Parzellen vorbei, bis schließlich das Krankenhaus auftauchte.

Das Sun Valley Memorial – ein dreistöckiges, grün verputztes Gebäude – grenzte an eine Gärtnerei, wo Tagetes und Chrysanthemen in voller Blüte standen. Decker stellte den Wagen auf den halb vollen NUR FÜR NOTFÄLLE gekennzeichneten Parkplatz und legte das Schild POLIZEI IM EINSATZ auf das Armaturenbrett. Dann fuhr er mit dem Aufzug nach oben und stieg im zweiten Stock aus.

Der Besucherbereich war klein und fast leer. Rechts saßen eine Frau und ein Junge im Teenageralter und spielten Karten. Auf der anderen Seite las ein Mann in einer Zeitschrift, und eine ältere Frau lauschte aufmerksam einem Arzt, der immer noch seinen Chirurgenkittel anhatte und leise auf sie einredete. Der Schalter mit dem Hinweis INFORMATION war nicht besetzt.

Decker durchquerte die Eingangshalle und ging dann durch einen langen Flur, bis er die Schwesternstation fand. Dort hielt er einem jungen Mann in weißer Uniform seine Dienstmarke hin.

»Sergeant Decker vom LAPD. Ich hab vorhin mit Dr. Kessler telefoniert, und er hat mir gesagt, ich könnte vorbeikommen, um mit Lilah Brecht zu reden. Sie ist in Zimmer 255.«

Der Mann beugte sich über die Theke und betrachtete die Dienstmarke. »Lilah Brecht …«

»Ja, Lilah Brecht. Sie wurde heute morgen eingeliefert; sie wurde überfallen und verletzt.«

»Lilah Brecht …«, wiederholte der Mann.

Decker lächelte und fragte: »Können Sie bitte Dr. Kessler für mich ausrufen lassen?«

»Ich weiß, wer Lilah ist. Ich bin Pfleger auf ihrer Station. Ich meine mich zu erinnern, daß Dr. Kessler irgendwas gesagt hat, daß Sie kommen würden. Er hat es bestimmt auf Lilahs Krankenblatt notiert.«

Decker wartete.

»Ich weiß nicht genau, wo das Blatt jetzt ist«, sagte der Pfleger und kratzte sich an einem seiner stark behaarten Unterarme. »Vielleicht unten in der Neurologie. Aber es spielt eh keine Rolle. Sie ist im Augenblick nicht ansprechbar.«

»Hat man sie unter Beruhigungsmittel gesetzt?«

»Nein, nein.« Der Krankenpfleger runzelte sie Stirn. »Man setzt Leute mit möglichen Kopfverletzungen nicht unter Beruhigungsmittel. Sie schläft. Es war ein langer Tag für sie. Ihr Bruder hat vor etwa einer halbe Stunde versucht, mit ihr zu reden, aber sie war …«

»Ihr Bruder? Sie meinen Dr. Brecht?«

»Yep …«

»Er war hier?«

»Was ist denn daran so merkwürdig? Er ist doch schließlich der Bruder der Patientin.«

»Ich hab ihn gesucht«, sagte Decker. »Ihm eine Nachricht in seiner Praxis hinterlassen, und eine hier im Krankenhaus …«

»Ich hab keine Nachricht von Ihnen gesehen.«

Decker seufzte entnervt. »Ist er eben erst gekommen, oder war er den ganzen Tag hier?«

»Ich würd sagen, er ist vor ungefähr einer halben Stunde gekommen. Als er sah, daß sie schlief, hat er gesagt, er käm in einer halben Stunde wieder. Aber das war, wie gesagt, vor einer halben Stunde. Also sollte er … gleich zurück sein.«

»Ich werf nur mal einen kurzen Blick in Lilahs Zimmer«, sagte Decker.

»Okay«, antwortete der Krankenpfleger mit den behaarten Unterarmen. »Aber wecken Sie sie nicht auf.«

Decker sagte, das würde er nicht. Ihr Zimmer lag am Ende des Flurs – eines der wenigen Privatzimmer, die es in diesem Krankenhaus gab. Sie schlief aufrecht sitzend im Bett; Glukoselösung tropfte aus einem Infusionsgerät in ihren Arm. Man hatte ihr die Haare aus der Stirn gekämmt und das Gesicht gesäubert, das voller Blutergüsse und geschwollen war. Beide Augen waren verquollen, und über den Augenbrauen hatte sie Kratzer und Schnittverletzungen abbekommen. Ihr Mund war geöffnet, die roten Lippen durch die trockene Luft aufgesprungen. Ihre Gesichtsfarbe hatte sich deutlich gebessert. Zwar war sie immer noch blaß, doch die kalte, äscherne Färbung war verschwunden. Sie trug das übliche Krankenhausnachthemd verkehrt herum, also mit dem Schlitz nach vorne, doch ihre Brust war züchtig mit der Bettdecke zugedeckt. Leise rief er ihren Namen.

Keine Reaktion.

Er sah auf seine Uhr und beschloß, ein paar Minuten zu warten. Er zog sich einen Stuhl ans Bett und wollte gerade die Beine ausstrecken, als ihn eine barsche Stimme aufschreckte, die wissen wollte, wer zum Teufel er denn wäre.

Der Mann schien Anfang Dreißig zu sein, von mittlerer Größe und Gewicht. Er war vorzeitig kahl geworden, nur noch einige dünne blonde Haarsträhnen standen von seinem rosa glänzenden Schädel ab. Doch was ihm auf dem Kopf fehlte, wurde durch einen rotblonden Vollbart und dichte Augenbrauen ausgeglichen. Er hatte eng zusammenstehende blaßblaue Augen und eine lange, spitze Nase. Er trug eine lange weiße Jacke über einem bestickten Arbeitshemd und Jeans. Seine Füße steckten in uralten Earth-Sandalen – die Dinger, bei denen die Zehen höher als die Fersen waren. Decker hatte geglaubt, die wären genau wie die Nehrujacke längst verschwunden.

»Ich bin Sergeant Decker von der Los Angeles Police.«

Der Mann stutzte. Als er wieder sprach, war seine Stimme erheblich leiser geworden. »Ich glaube nicht, daß sie im Augenblick in der Verfassung ist, mit der Polizei zu reden. Vielleicht morgen.«

»Sie sind Frederick Brecht?«

»Ja, ich bin Dr. Frederick Brecht.«

Mit Betonung auf Doctor, wie Decker bemerkte. Er überragte Brecht, den er auf einsfünfundsiebzig und fünfundsiebzig Kilo schätzte, um gut fünfzehn Zentimeter. Auch wenn dieser einen ähnlichen Teint wie Lilah hatte, sahen die beiden Geschwister sich kaum ähnlich.

»Ich bearbeite den Überfall auf Ihre Schwester, Doctor, und hab schon den ganzen Tag versucht, Sie zu erreichen.«

Brechts Schädel wurde tiefrosa. »Was will die Polizei von mir?«

»Sie sind gestern Abend mit Ihrer Schwester aus gewesen«, sagte Decker. »Vielleicht ist Ihnen etwas aufgefallen …«

»Nein, gar nichts«, sagte Brecht. »Andernfalls hätte ich mich mit Ihnen in Verbindung gesetzt. Sonst noch was?«

»Doctor, wie wär’s, wenn wir, solange Lilah schläft, in der Cafeteria eine Tasse Kaffee trinken? Vielleicht können Sie mir helfen, indem Sie ein paar Fragen beantworten.«

»Ich habe Ihnen aber nichts zu sagen«, beharrte Brecht.

Lilah stöhnte.

»Patienten sind selbst im Schlaf sensibel für ihre Umgebung«, dozierte Brecht. »Ich glaube, dieses Gespräch regt sie auf. Ich fürchte, ich muß Sie bitten, diesen Raum sofort zu verlassen.«

»Doctor, ich weiß, daß das ein ungünstiger Zeitpunkt für Sie ist …«

»Ungünstig ist eine maßlose Untertreibung, Sergeant. Ich bin in keinerlei Verfassung, vernommen zu werden.« Brecht berührte mit den Fingerspitzen seine Stirn. »Ich kann nicht klar denken. Vielleicht morgen.«

Decker war von Brechts Verhalten überrascht, das überhaupt nicht zu dem zwanglosen, guruhaften Aussehen paßte. Er hatte mit einem verständnissinnigen Gespräch gerechnet und erlebte nun alles andere als das.

»Morgen ist natürlich auch in Ordnung«, sagte Decker. »Es ist nur so … Sie wissen doch … Nun ja, vielleicht wissen Sie es nicht, aber Zeit spielt in solchen Fällen eine sehr wichtige Rolle, Doc.«

Brecht schloß die Augen und öffnete sie langsam wieder. »Also schön, ein paar Minuten …«

Decker legte dem Arzt einen Arm um die Schulter und schob ihn vorsichtig zur Tür hinaus. »Sie sehen aus, als könnten Sie eine Tasse Kaffee brauchen.«

»Ich trinke nie etwas Koffeinhaltiges«, erklärte Brecht mit schwacher Stimme.

»Dann ist jetzt der richtige Moment für eine Ausnahme.«

»Nein, nein.« Brecht seufzte. »Mir fehlt wirklich nichts.

Nein, das ist nicht wahr. Ich bin völlig fertig. Wer wäre das nicht?«

»Das stimmt.«

Sie fuhren mit dem Aufzug ins Erdgeschoß. Es war fünf Uhr durch, und die Cafeteria hatte gerade begonnen, das Abendessen auszugeben. Das Angebot des Tages war Hackbraten mit Kartoffelpüree, Erbsen und einem Kaffee oder Softdrink für $4.99.

»Hungrig?« fragte Decker.

»Ich esse kein rotes Fleisch«, sagte Brecht.

Decker nahm sich einen Apfel.

»Der ist gespritzt«, bemerkte Brecht. »Wenn Sie schon chemisch behandeltes Obst essen müssen, würde ich eher eine Orange als einen Apfel nehmen. Da absorbiert die dicke Schale den größten Teile der Pestizide, und es bleiben nur Spuren von Gift im Fruchtfleisch zurück.«

Decker starrte ihn an. »Ich glaub, dann nehm ich nur ’nen Kaffee.«

»Koffein kann Herzkrankheiten und Unfruchtbarkeit auslösen.«

»Meine Frau ist schwanger«, sagte er und fragte sich dann, warum er das gesagt hatte.

»Großer Gott, ich hoffe, sie ist so vernünftig, keinen Kaffee zu trinken. Man hat festgestellt, daß einige Geburtsschäden auf den Genuß von Koffein zurückgeführt werden können!«

Decker schwieg. Jetzt, wo er darüber nachdachte, fiel ihm auf, daß Rina seit einiger Zeit Pfefferminztee trank. Er fragte sich, ob der auch irgendwie schädlich war, sagte aber nichts. Er füllte sich einen Styroporbecher mit Kaffee und lotste Brecht zu einem Ecktisch. Dort nahm er sein Notizbuch heraus.

»Wie lange sind Sie schon bei der Polizei?« fragte Brecht.

Decker unterdrückte ein Lächeln und nippte an der dünnen Kaffeebrühe. »Ich bin seit siebzehn Jahren beim LAPD, seit fünfzehn lauf ich schon mit goldener Dienstmarke herum.«

Brecht sah Decker an, dann starrte er auf die Tischplatte.

»Ich … bitte für diese Frage um Entschuldigung … Officer Decker, ist das richtig?«

»Sergeant Decker. Detective Sergeant, falls Sie die genaue Dienstbezeichnung wissen wollen.«

»Ich bin normalerweise sehr professionell in meinem Verhalten, Sergeant. Aber im Augenblick … Sie werden das sicher verstehen …«

»Natürlich.«

»Was …« Brecht zögerte. »Wann ist es passiert?«

»Die genaue Uhrzeit weiß ich nicht«, sagte Decker. »Ich hatte gehofft, Sie könnten mir dabei helfen. Sie waren doch gestern Abend mit ihr aus.«

»Ja, das stimmt. Aber als wir uns trennten, war alles in Ordnung. Wann haben Sie davon erfahren?«

»Die Meldung kam heute morgen kurz vor sieben über die Zentrale«, sagte Decker. »Das Hausmädchen hatte angerufen. Wie haben Sie es erfahren?«

»Ich hab in meiner Praxis angerufen.«

»Wann?«

»Vor etwa einer Stunde. Meine Sekretärin war durch Ihren Besuch in Panik geraten. Ich brauchte mindestens fünf Minuten, um sie zu beruhigen und herauszubekommen, was passiert war. Sie hatte sich große Sorgen gemacht … daß mir auch etwas passiert sein könnte.«

»Sie scheint eine treue Seele zu sein.«

»Althea liegen meine Interessen sehr am Herzen.«

»Warum haben Sie sich erst so spät in Ihrer Praxis gemeldet?«

»Ich … es war ein außergewöhnlicher Tag. Ich war sehr beschäftigt.«

»Womit?«

»Was hat meine Arbeit mit Lilah zu tun?«

Decker wartete.

Brecht seufzte. »Nun, wenn Sie es unbedingt wissen wollen, ich mußte mich um meine Mutter kümmern.«

»Davida Eversong.«

»Die Grande Dame der Leinwand.« Brecht runzelte die Stirn. »Sie kann einen ganz schön nerven, aber schließlich ist sie meine Mutter. Was soll ich machen?«

»Sie waren also die ganze Zeit auf der Beauty-Farm?« sagte Decker.

»Nein, nein, nein, in ihrem Strandhaus in Malibu. Da hält Mutter sich zur Zeit auf. Sie hat keine Ahnung von der Sache mit Lilah, und ich bestehe darauf, daß Sie ihr auch nichts erzählen.«

»Wie viel wissen Sie über den Fall, Doctor?« fragte Decker.

Brecht erstarrte. »Was wollen Sie damit sagen, Sergeant?«

»Ganz ruhig. Ich meinte das rein medizinisch. Haben Sie das Krankenblatt Ihrer Schwester gelesen?«

Brecht entspannte sich langsam wieder. »Noch nicht. Als ich kam, war es nicht an ihrer Tür, und ich hatte nicht die Energie, danach zu suchen. Ich hab um ein Gespräch mit dem behandelnden Arzt gebeten.« Er sah Decker an. »Gibt es etwas, was ich wissen sollte?«

Decker antwortete nicht.

Brechts Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Sie wurde vergewaltigt, nicht wahr?«

»Leider ja.«

»O Gott!« Er schnappte nach Luft, »o mein Gott, ich kann es nicht fassen …« Er schnappte erneut nach Luft. »Könnten Sie mir bitte ein Glas Wasser besorgen?«

Decker sprang auf und holte Wasser. Immer noch zitternd, hielt Brecht das Glas umklammert und trank gierig.

»Möchten Sie noch eins?« fragte Decker.

Brecht hielt eine Hand hoch und schüttelte den Kopf. Dann atmete er tief durch. »Nein … nein, danke.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja … schon gut. Es ist nur … der Schock.« Er holte noch einmal tief Luft. »Was ist denn genau passiert?«

»Wir setzen immer noch einzelne Steinchen zusammen, Doctor. Ich hoffe, ein vollständigeres Bild zu haben, nachdem ich mit Ihrer Schwester gesprochen habe.«

»Ich kann es einfach nicht fassen …« Brecht begrub sein Gesicht in den Händen, dann schaute er auf. »Stellen Sie Ihre Fragen, Detective.«

»Wann hat Ihre Mutter angerufen und Sie gebeten, nach Malibu zu kommen?«

»Heute morgen. Sie hatte furchtbare Schmerzen. Also bin ich sofort losgefahren, um sie zu behandeln.«

»Um wie viel Uhr rief sie an?«

»Zwischen halb neun und neun.«

»Haben Sie deshalb Ihre ganzen Termine abgesagt?«

»Ja. Mein erster Termin war um zehn. Ich hatte an Mutters Tonfall erkannt, daß es auf keinen Fall mit einer kurzen Visite getan war. Und als ich erst mal da war, brachte ich es nicht über mich … Ich beschloß, mich den ganzen Tag um sie zu kümmern.«

»Ihre Sekretärin sagte, Ihre Nachricht, die Termine abzusagen, wäre bereits auf dem Anrufbeantworter gewesen, als sie um acht Uhr in die Praxis kam.«

Brechts Schädel nahm erneut eine dunklere Färbung an. »Vielleicht hat Mutter ja auch um halb acht angerufen. Ich kann mich wirklich nicht genau erinnern.«

Decker ließ die Worte im Raum stehen. Das mit dem Anruf war jetzt nicht so wichtig. Von Malibu nach Tarzana war ein gebührenpflichtiges Gespräch. Wenn Mama Eversong tatsächlich ihren Sohnemann angerufen hatte, konnte Decker die genaue Uhrzeit von der Telefongesellschaft erfahren. »Was fehlt denn Ihrer Mutter?«

»Es ist das Alter.« Brecht klang matt. »Sie ist über Siebzig und hat Diabetes, Arthritis, Bursitis, Osteoporose – aber was soll ich Sie mit den Einzelheiten langweilen? Herkömmliche Medikamente allein haben wenig Linderung gebracht. In Verbindung mit meiner ganzheitlichen Behandlung wird Mutter etwas besser mit den Schmerzen und den skeletomuskularen Problemen fertig. Doch im Grunde sind das einfach Alterserscheinungen, und damit kann sie nicht umgehen.«

»Sie behandeln sie also jedes Mal, wenn sie anruft?«

Brecht seufzte. »Ich versuche jeweils die Situation abzuschätzen. Wenn ich nur den Wunsch nach Aufmerksamkeit und keinen echten Schmerz in ihrer Stimme höre, dann rede ich ihr das aus. Aber diesmal hörte sie sich an, als ob sie wirklich Hilfe brauchte.«

»Und der Anruf kam gegen halb acht?«

»Nehm ich an. Aber wenn Sie eine Bestätigung für meine Anwesenheit im Strandhaus brauchen, werd ich Mutter bitten, daß sie Ihnen eine kurze Notiz schreibt. Ihre Telefonnummer kann ich Ihnen leider nicht geben.«

»Das macht nichts«, sagte Decker. »Die hab ich bereits.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

»Sie haben die Nummer vom Strandhaus meiner Mutter?«

»Ich habe sämtliche Telefonnummern von Ihrer Mutter. Ich hab den ganzen Tag bei ihr angerufen, aber es hat sich niemand gemeldet.«

»Meine Mutter geht aus Prinzip nicht ans Telefon. Sie ist der Meinung, das ist was für Sekretärinnen.«

»Hat sie eine Sekretärin?«

»Nein.«

»Offenbar hat sie aber auch keinen Anrufbeantworter.«

»Sie findet Maschinen unzivilisiert.«

»Sie geht also nie ans Telefon, wenn es klingelt?«

»In ihrem Strandhaus nicht. Auch nicht in ihren Apartments.« Brecht schluckte.

»In der Beauty-Farm hinterläßt jeder, der sie sprechen will, eine Nachricht an der Rezeption. Ab und zu holt sie diese Nachrichten ab.«

»Warum hat sie dann überhaupt Telefone?«

»Um selber zu telefonieren – so wie heute morgen.« Brecht atmete kräftig durch den Mund aus. »Wie ich bereits sagte, wenn Sie eine Bestätigung für meine Anwesenheit dort brauchen, werde ich dafür sorgen, daß sie Ihnen eine schreibt.«

Als ob eine Notiz von Davida Eversong irgendein Gewicht haben würde. Die Arroganz der Reichen. Oder vielleicht war Brecht einfach daran gewöhnt, daß Mama sich um ihn kümmerte. Wie sie ihm früher in der Schule Entschuldigungen geschrieben hatte. Bitte entschuldigen Sie, daß Doctor Freddy heute nicht kommen kann.

»Ich werde sogar darauf bestehen, daß Mutter die Bestätigung notariell beglaubigen läßt«, fügte Brecht hinzu.

»Ich würde ihr gern ein paar Fragen stellen«, sagte Decker.

»Ich fürchte, das ist nicht möglich.«

»Warum?«

»Es ist einfach so. Zumindest im Augenblick. Ich kann das nicht weiter erklären. Vielleicht in ein oder zwei Tagen.«

Decker ließ es dabei bewenden. Brecht war zwar kooperativ, aber nur bis zu einem bestimmten Punkt. Wollte er Mama schützen oder sich selbst? Nicht daß Decker einen Grund gehabt hätte, Brecht zu verdächtigen. Dennoch blieb die Tatsache bestehen, daß Lilahs Safe weit aufgestanden hatte. Was zum Teufel war da drin gewesen?

»Sie waren gestern Abend mit Ihrer Schwester essen.«

»Ja. Ich hab sie gegen …« Brecht hielt inne und starrte Decker an. »Muß ich Ihnen die genaue Zeit sagen?«

»So genau Sie’s können, Doctor.«

»Ich hab sie gegen acht abgeholt. Wir sind zu einem vegetarischen Restaurant in Fairfax gefahren. Es wird von Sikhs geführt und verwendet ausschließlich labfreien Käse. Es ist erstaunlich, wie viele vegetarische Lokale Käse mit Lab verwenden. Lab ist …«

»Ich weiß, was Lab ist, Doctor. Es ist ein Enzym, das als Bindemittel bei der Käseherstellung verwendet wird. Es stammt aus dem Magen von Kühen.«

Brecht starrte ihn an. »Ihr Ernährungs-IQ ist für mich um eine Stufe gestiegen, Sergeant.«

Decker wußte durch die koschere Ernährungsweise, was Lab war. Rina hatte ihm ausführlich erklärt, warum normaler Käse ohne Zertifikat als inakzeptabel angesehen wurde. Es leuchtete ihm zwar nicht sehr ein, warum ein Enzym als unkoscher galt – eine Kennzeichnung, von der er geglaubt hatte, daß sie sich generell nur auf Lebensmittel bezieht. Aber es war ihm egal. Koscherer Käse schmeckte genauso gut wie anderer und machte Rina glücklich. Und wenn sie glücklich war, war er es auch.

»Wann waren Sie wieder bei Ihrer Schwester?« fragte Decker.

»Gegen elf, halb zwölf. Das Restaurant ist ziemlich weit von ihr entfernt. Man fährt ganz schön lange.«

»Sind Sie noch mit ins Haus gegangen und haben sich unterhalten?«

»Nein, ich war nach einem ziemlich stressigen Tag müde und wollte möglichst schnell ins Bett.«

»Also haben Sie Ihre Schwester einfach abgesetzt?«

»Natürlich nicht! Das wäre doch rüpelhaft. So was würde ich nie tun. Ich hab das Auto abgestellt und sie zur Tür gebracht. Nachdem sie sicher im Haus war, bin ich weitergefahren.«

»Alles schien normal zu sein, als sie hineinging?«

»Ja. Sie schaltete das Licht im Wohnzimmer an, sagte mir gute Nacht und schloß die Tür.«

»Schaltet sie das Licht im Wohnzimmer immer aus, wenn sie ausgeht?«

Brecht stutzte. »Du lieber Himmel, jetzt geht das schon wieder los mit diesem Detailkram. Erinnern Sie mich daran, daß ich beim nächsten Mal ein Diktaphon und eine Videokamera mitnehme!«

Decker wartete.

»Vielleicht war das Licht auch schon an«, sagte Brecht. »Ich kann mich nicht erinnern.«

»War das Licht im Schlafzimmer an?«

»Woher soll ich das denn wissen?«

»Sie konnten das nicht sehen?«

»Ich nehme an, ich hätte theoretisch ihr Schlafzimmerfenster vom Auto aus sehen können, aber ich hab nicht darauf geachtet.«

»Haben Sie irgendwas Ungewöhnliches gehört?«

»Gar nichts.«* »Haben Sie irgendein fremdes Auto in der Nähe des Hauses parken gesehen?«

»Nein.«

»Sie sagen, Sie haben Ihre Schwester gegen elf, halb zwölf zur Tür begleitet?«

»Ja.«

»Sie sind nicht mit ins Haus gegangen?«

»Nein. Lilah hat mich gefragt, ob ich im Gästezimmer übernachten wollte, aber ich hab’ gesagt, ich würde lieber nach Hause fahren. Nun wünsche ich bei Gott, ich wär geblieben. Ich hab furchtbare Schuldgefühle deswegen.«

Decker nickte.

»Natürlich konnte ich ja nicht ahnen …«

»Natürlich nicht«, sagte Decker.

»Verdammt, wenn ich doch nur da geblieben wäre!«

»Wenn Sie da geblieben wären, hätte man Sie vielleicht noch schlimmer zugerichtet als Lilah.«

»Besser mich als sie!«

»Ich will ja nur sagen, es hätte Sie beide erwischen können.«

»Sie verstehen das einfach nicht.« Brecht holte tief Luft. »Ich bin nicht ich selbst. Haben Sie irgendeine Ahnung, wer meiner Schwester etwas so Schreckliches angetan haben könnte?«

»Zur Zeit ziehen wir jede Möglichkeit in Betracht, Doctor.«

»Mit anderen Worten, Sie haben keinen Verdächtigen.«

Decker schwieg.

»Sind wir jetzt fertig, Sergeant?«

»Gleich. Haben Sie übrigens einen Schlüssel zum Haus Ihrer Schwester?« fragte Decker.

Brechts Stimme bekam einen harten Klang. »Ja, ich habe einen Schlüssel. Warum?«

»Wir dürfen nichts außer acht lassen«, sagte Decker. »Wußten Sie, daß Ihre Schwester im Wandschrank im Schlafzimmer einen Safe hat?«

Brecht rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Mir gefällt diese Fragerei nicht.«

Decker wartete.

»Ja, ich weiß, daß sie einen Safe in dem Wandschrank hat. Na und?«

»Wissen Sie, was sie darin …«

»Natürlich nicht!«

»Nicht die geringste Ahnung?«

»Nein, Sergeant.«

»Kennen Sie die Kombination …«

Brecht erhob sich von seinem Stuhl. »Warum sollte ich die Kombination von ihrem Safe kennen?«

»Mein Bruder und ich besitzen die Kombination vom Safe meiner Eltern«, sagte Decker. »Ich hab zwar keine Ahnung, was für Wertsachen sie darin haben, aber sie haben uns die Kombination gegeben, für den Fall, daß ihnen was passiert.«

Brecht schien irgendwie über seinem Stuhl zu schweben, dann setzte er sich langsam wieder.

Decker zuckte die Achseln. »Wo Sie doch ein so enges Verhältnis zu Ihrer Schwester haben – Sie haben einen Schlüssel von ihrem Haus –, da dachte ich, sie hätte Ihnen vielleicht auch die Kombination anvertraut.«

»Hat sie aber nicht.« Brecht berührte mit den Fingern seine Stirn. »Darf ich annehmen, daß der Safe geöffnet wurde?«

»Sie können annehmen, was Sie wollen.«

Brecht schlug die Hände zusammen. »Es geht also nicht nur um Körperverletzung, sondern auch noch um Raub?«

»Möglicherweise ja.«

»Sie erzählen einem ja nicht gerade viel«, sagte Brecht.

»Ich versuche jetzt erst mal ein paar Tatsachen sicherzustellen. Nur noch einige wenige Fragen, und dann können wir Schluß machen, Doctor. Was haben Sie gemacht, nachdem Sie Lilah abgesetzt hatten?«

»Ich bin sofort nach Hause gefahren.«

»Haben Sie noch irgendwelche Anrufe gemacht?«

»Nein, nicht um diese Uhrzeit.«

»Bei Ihrem Auftragsdienst nachgefragt?«

»Ah … nein.«

»Fragen Sie nicht routinemäßig bei Ihrem Auftragsdienst nach, bevor Sie ins Bett gehen?«

»Wenn es einen Notfall gibt, piepsen die mich an. Ich denke, was wichtig ist, erfährt man schon.« Brecht faltete die Hände über der Brust. »Ich denke, das ist jetzt wirklich alles.«

»Gedulden Sie sich bitte noch ein wenig, Doctor. Wie viele Brüder haben Sie und Lilah?«

Brecht öffnete den Mund und klappte ihn wieder zu. »Was?«

»Wie viele Brüder Sie haben? Eine ganz einfache Frage.«

»Äh … zwei.«

Decker sah ihn an. »Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich mir sicher. Wir haben noch zwei Brüder – das heißt Halbbrüder.«

»Und wie heißen die?«

Brecht zögerte erneut. »Was hat das mit der Sache hier zu tun?«

Decker zuckte die Achseln. »Wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen.«

»O Gott«, sagte Brecht. »Nein, das ist unmöglich. Das könnten die niemals. Oder etwa doch?«

Decker antwortete nicht. Brecht hatte seine Brüder zwar nicht von sich aus zur Sprache gebracht, doch jetzt schien er sie ganz offenkundig belasten zu wollen.

»Ich habe gehört, daß Ihre Schwester eine ziemlich heftige Auseinandersetzung mit King hatte.«

»Das hat Ihnen bestimmt das Dienstmädchen erzählt.« Brecht schnalzte mit der Zunge. »Kingston hat ihr einen tierischen Schrecken eingejagt. Wenn Carl nicht gewesen wäre, wer weiß, was er mit Lilah angestellt hätte. Damit will ich nicht sagen, daß er etwas zu tun hat mit … mit Lilah.« Er sah Decker an. »Ich sollte Ihnen das eigentlich gar nicht erzählen …«

Aber er würde es trotzdem tun, dachte Decker.

»Kingston war immer krankhaft eifersüchtig auf Lilah, auch wenn er so getan hat, als wollte er sie nur beschützen.

In Wirklichkeit ist er wütend, daß Mutter sie als Universalerbin eingesetzt hat. Seit Jahren drängt er Mutter, ihr Testament zu ändern. Obwohl Mutter ihm von Zeit zu Zeit Geld zusteckt.«

»Sie steckt ihm Geld zu?«

»Damit er den Mund hält, nehm ich an. Ich weiß wirklich nicht viel über Kingstons Angelegenheiten. Wir haben schon eine ganze Weile keinen Kontakt mehr.«

Decker nickte. Ihm war klar, daß der gute Freddy Brecht nicht in der Lage war, ein objektives Urteil über den Charakter seines Bruders King abzugeben. Aber es konnte ja nie schaden, sich Meinungen anzuhören.

»Sie meinen, daß Kingston in den Safe Ihrer Schwester eingebrochen sein könnte, um Geld zu stehlen?«

Brecht wurde plötzlich rot. »Dafür habe ich keinerlei Beweis … ich weiß wirklich nicht, warum ich das gesagt habe. Vermutlich weil Kingston immer knapp bei Kasse ist. Obwohl er Hunderttausende in seiner Fabrik da verdient.«

»Was für eine Fabrik?«

»Eine Abtreibungsfabrik.« Brecht verzog das Gesicht. »Ich glaube, er hat sein Geschäft mittlerweile noch auf andere Bereiche ausgedehnt – Unfruchtbarkeitsbehandlungen sind der letzte Schrei. Erst zahlen die Frauen, um ihre Babys umzubringen, dann zahlen sie, um welche zu kriegen.«

»Kingston ist Gynäkologe?«

»Ja. Wie kann man sich nur auf so was Natürliches wie Gebären spezialisieren?«

»Entschuldigen Sie, Doctor, aber ist Ihr anderer Bruder nicht ebenfalls Gynäkologe?«

»Das ist richtig. Aber John scheint zumindest ein bißchen mehr Respekt vor dem ungeborenen Leben zu haben.« Er gestikulierte mit dem Zeigefinger. »Nicht daß ich grundsätzlich gegen Abtreibung wäre wie diese verrückten Recht-auf-Leben-Leute. Aber Kingstons Fabrik ist schlichtweg widerlich. Seine sogenannte Praxis ist das genaue Gegenteil dessen, wozu wir uns als Ärzte bekennen.«

Decker war sich nicht sicher, ob Brechts Schimpferei seiner tiefsten Überzeugung entsprach oder ob es für ihn nur eine weitere Möglichkeit war, seinen Bruder King schlechtzumachen. »Haben Sie guten Kontakt zu John, Doctor?«

Brecht schüttelte den Kopf. »Er hat mehr Kontakt zu Kingston. Die beiden sind eine Generation und arbeiten auf demselben Gebiet, deshalb ist das wohl natürlich.«

»Steckt Ihre Mutter John ebenfalls Geld zu?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Brecht. »John scheint sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Ich hab nicht viel mit ihm zu tun, aber ich hege auch keine feindseligen Gefühle ihm gegenüber.«

»Könnten Sie mir bitte Kingstons Namen buchstabieren?«

»Warum das denn?«

»Ich möchte sichergehen, daß das Hausmädchen mir die richtige Schreibweise gegeben hat.«

»K-I-N-G-S-T-O-N M-E-R-R-I-T-T.«

Kingston Merritt. Offenbar waren er und John ebenfalls Halbbrüder.

»Haben Sie die Telefonnummern der beiden?«

»Nein. Sie stehen aber im Telefonbuch. Johns Praxis ist in Huntington Beach, die von Kingston in Palos Verdes.« Brecht stand auf. »Wenn Sie nichts dagegen haben, es war ein furchtbar langer Tag, und ich würde jetzt gern nach meiner Schwester sehen. Hoffentlich haben Sie über der ganzen Fragerei nicht die Tatsache aus den Augen verloren, daß da draußen ein Wahnsinniger rumläuft, der Leuten weh tut.«

»Das ist mir schon bewußt.« Decker stand auf. »Ich geh mit Ihnen rauf … mal sehen, ob Lilah in der Lage ist zu reden.«

»Und wenn nicht?«

»Dann komm ich morgen wieder.«

»Ich ruf die Station an und frag, ob Lilah wach ist«, sagte Brecht. »Dann sparen wir uns den Weg, falls sie noch schläft.«

Decker zögerte.

»Sie können auch anrufen, wenn Sie möchten«, schlug Brecht vor.

Decker deutete auf das Haustelefon in der Cafeteria. Brecht sprach ein paar Worte in den Apparat, dann hängte er ein.

»Sie schläft noch.«

Decker betrachtete sein Gesicht und kam zu dem Schluß, daß er die Wahrheit sagte. Und selbst wenn nicht, hätte er eh nicht viel von einem Gespräch mit Lilah, wenn Freddy ihm im Nacken saß. Vielleicht war es besser, wenn er morgen zurückkam, nachdem sie sich ausgeschlafen hatte. Er dankte Brecht für seine Hilfe. Doch eins mußte er noch tun, nämlich den Beutel mit Lilahs Kleidung in die Gerichtsmedizin bringen. Dann war sein Arbeitstag vorbei.

 

Das Haus war wie ausgestorben. Es war schon fast sieben, und kein Essen stand auf dem Tisch – keine Söhne, die ihn an der Tür begrüßten, keine Frau, die seinen Mantel und den nicht existierenden Hut entgegennahm, und kein Hund, der ihm die Zeitung brachte. Seine Phantasie von einer Ehe – mit einem Schlag erschüttert.

»Hallo«, rief er. »Wohnt hier jemand?«

Er ging in die Küche. Leer. Dann sah er aus dem Fenster hinters Haus. Rina stand am Grill und schürte gekonnt das Feuer. Sie trug ein Hemdkleid aus Jeansstoff unter einer weißen Metzgerschürze. Sie lachte, und ihre langen schwarzen Haare wehten offen im Wind. Die Jungen machten mit den Pferden ein Rennen. Ihre Jarmulken hüpften im Galopp auf und ab, ihre Gesichter strahlten im Licht der untergehenden Sonne. Ginger raste hechelnd und jaulend hinter ihnen her, sichtlich die Anstrengung genießend.

Häusliches Glück, nur daß er nicht dabei war.

Er ging nach draußen.

»Du kommst tatsächlich rechtzeitig!« Rina küßte ihn auf die Wange. Ihre Haut roch nach Holzfeuer. »Zieh dich um. Das Essen ist in zirka zwanzig Minuten fertig.«

Er schielte auf den Grill – marinierte Steaks. Außerdem hatte Rina Kraut- und Nudelsalat gemacht und zwei Flaschen Dos Equis auf Eis gelegt. Der Gartentisch war für vier Personen gedeckt, also hatte sie ihn zumindest zum Essen erwartet. »Ich wußte gar nicht, daß es Schwangerschaftsschürzen gibt.«

»Ich muß aussehen wie ein Zelt.«

»Ein schönes Zelt. Da möchte ich jeden Tag drin wohnen.« Er umarmte sie von hinten. »Wie fühlst du dich?«

»Gut. Ich hab ein Nickerchen gemacht, nachdem du weg warst.«

»Das ist gut. Du solltest dich ein bißchen verwöhnen, solange du das noch kannst.«

Sie drehte sich um und umarmte ihn, so gut es ging. »Alles in Ordnung?«

»Klar.«

»Du siehst müde aus. Du gehst ganz steif.« Sie streckte einen Arm aus und drückte ihn sanft im Nacken. »Oh, du bist ja total verspannt, Peter.«

»Berufsrisiko.«

»Soll ich dich massieren?«

»Danke, später.« Er nahm sich eine Flasche Bier, dann fielen ihm die Colaflaschen auf, die ebenfalls in der Kühlbox waren. Cola. Mit Koffein. Er trat von einem Fuß auf den anderen und bemühte sich, locker zu wirken. »Darfst du das Zeug während der Schwangerschaft überhaupt trinken?«

»Ich trink im Augenblick keine Softdrinks. Die machen dick. Außerdem ist Cola koffeinhaltig, und Koffein verkneif ich mir auch. Deshalb trinke ich morgens auch keinen Kaffee mehr.« Sie lächelte schelmisch. »Oder ist dir das noch nicht aufgefallen, Peter?«

Es war ihm nicht aufgefallen, und er kam sich deswegen blöde vor.

Sammy, der ältere der beiden Jungen, hatte seinen Stiefvater von weitem erspäht und winkte: »Hey, Peter, guck mal.«

Er trieb sein Pferd an und galoppierte auf die Bergkette zu, die sich hinter dem Haus erhob. Als Jacob sah, wie sein Bruder die väterliche Aufmerksamkeit auf sich zog, trat er sein Pferd in die Flanken und versuchte, ihn einzuholen.

Decker hielt die Hände an den Mund und rief: »Flottes Tempo, Jungs. Weiter so.« Dann wandte er sich wieder Rina zu. »Die haben ihren Spaß.«

»Du klingst ja ganz neidisch. Möchtest du nicht mitmachen?«

Decker zögerte. Sein Arm und seine Schulter pochten vor Schmerz. Er hatte am Nachmittag vergessen, seine Tabletten zu nehmen, aber er würde es auf keinen Fall in Rinas Gegenwart tun. »Ist schon okay. Ich leiste dir Gesellschaft.«

»Sei doch nicht albern, Peter. Geh schon.«

»Ich hab gesagt, es ist okay.«

»Hast du Schmerzen in der Schulter.«

»Meiner Schulter geht’s gut, Rina. Einfach blendend!«

Rina blickte nach unten.

Na prima, dachte er. Sie war gekränkt, und er hatte ein schlechtes Gewissen, weil er so unfreundlich reagiert hatte. Aber er war auch ihre Fragerei leid, und er war leid, ihr zu sagen, es wäre okay, wenn es das nicht war. Warum hörte sie nicht auf zu fragen?

Warum hörte er nicht auf, seine Tochter anzurufen?

»Hat Cindy angerufen?«

»Nein.«

»Super.«

Rina nahm seine Hand, sagte aber nichts. Cindy tat ihm weh, und sie konnte absolut nichts dagegen tun. Sie konnte ihn noch nicht mal trösten. Das Thema Tochter war genauso tabu wie seine Schußverletzung. »Rabbi Schulman hat vor etwa einer Stunde angerufen. Er erwartet dich heute Abend um neun in seinem Arbeitszimmer.«

»Geht in Ordnung.«

»Er hat mir erzählt, er hätte noch einen anderen Mann dazugebeten. Einen baal teschuwah, der in der unteren schiur ist …«

»Es gibt tatsächlich jemanden, der noch unter mir ist?«

Rina antwortete nicht. Sie konnte nicht vertragen, wenn er sich selbst so herabsetzte. Seine Fortschritte im Studium der Torah waren ein weiteres Tabuthema. Der Judaismus war eine schwierige Religion für einen Anfänger. Obwohl Peter großartige Fortschritte gemacht hatte, fühlte er sich immer noch unsicher in seinem neuen Glauben – er war nervös wegen der Dinge, die er nicht wußte, anstatt sich für das zu loben, was er wußte. Dabei war er so klug. Wenn er sich doch nur entspannen und sich über die Intelligenz freuen könnte, die Gott ihm geschenkt hatte. »Rav Schulman hat mich gebeten, dich zu fragen, ob du einverstanden bist. Er meinte, du wärst ein perfektes Vorbild für den Neuling.«

»Kein Problem.«

Sein Gesicht blieb unbewegt. Er schien das Kompliment überhaupt nicht zu registrieren. Rina legte ihm einen Arm um die Taille. »Soll ich dir ein heißes Bad einlaufen lassen?«

»Danke, Darling, aber ich warte bis nach dem Essen mit dem Baden.«

Erneut starrte er sehnsüchtig zu den Jungen. Rina wußte, er war hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch zu reiten und dem Schmerz, den er dabei ertragen müßte.

»Guck mal, Peter«, rief Jacob seinem Stiefvater zu und raste wieder auf den Berghang zu.

»Ich wünschte, sie würden nicht so schnell reiten«, sagte Rina.

»Sie machen das schon ganz prima.«

»Warum reitest du nicht raus und paßt ein bißchen auf die beiden auf? Du könntest doch White Diamond nehmen, Peter. Sie ist sanft und wird dich nicht allzu schlimm durchschütteln.«

Mit zusammengebissen Zähnen sagte Decker: »Ich hab dir doch gesagt, mir fehlt nichts.«

Rina seufzte. »Das hast du. Und zwar sehr überzeugend, darf ich vielleicht hinzufügen.«

»Okay.« Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Okay, ich will ganz ehrlich sein. Mir tut der Arm ein bißchen weh.« Nach diesem Eingeständnis nahm er zwei Advil-Tabletten heraus und spülte sie mit einem Schluck Bier hinunter. »In wenigen Minuten geht’s mir wieder prima, aber im Augenblick ist es ein bißchen unangenehm. Du hast gewonnen. Ich habe über meine Gefühle gesprochen. Bist du jetzt zufrieden?«

»Ich steh immer noch unter Schock.«

Decker schlang lachend seinen linken Arm um sie. »Du bist ein guter Kumpel, weißt du das?«

»Ja, das weiß ich.«

Die Jungen ritten den Hang hinauf.

»Nicht so weit!« brüllte Rina. »Kommt zurück!«

Ohne auf das Bitten ihrer Mutter zu achten, ritten sie weiter den steilen Pfad hinauf.

»Peter, sag ihnen, sie sollen aufhören!«

»Laß ihnen doch ihren Spaß.«

»Es wird langsam dunkel. Sie werden sich verirren.«

»Sie kommen schon zurecht, Darling. Reg dich nicht auf.«

»Ich reg mich nicht auf. Ich mach mir nur Sorgen. Das ist ein Unterschied.«

»Na schön«, sagte Decker mit gequälter Stimme. »Ich seh schon, daß du keine Ruhe gibst, bis ich ihnen nachreite. Ich werd’ mich noch nicht mal umziehen. Bist du jetzt zufrieden, Rina?«

»Wenn dein Arm …« Sie verstummte. »Ja, jetzt bin ich zufrieden, Peter.«

»Na wunderbar.« Er drückte einen Kuß auf ihre Stirn und brummelte im Fortgehen vor sich hin. Doch in seinem tiefsten Inneren war er überglücklich, daß sie ihm einen Vorwand gegeben hatte zu satteln. Und nicht White Diamond für Cowboy Pete. Zum Teufel mit den Schmerzen, er würde sich Cobra schnappen, den größten verdammten Hengst im Stall. Hoch zu Roß – da war er der King. Aber es würde ihm nicht im Traum einfallen, Rina zu erzählen, wie er sich fühlte. Er hatte für diesen Tag genug über seine Gefühle geredet.