14

Immer noch mit seinem langen weißen Kittel von der Morgenvisite bekleidet, schaute Kingston Merritt kurz bei seinen Damen an der Rezeption vorbei.

Keine Nachricht von der Alten. Gott, wie er diese Frau haßte. Sie haßte und gleichzeitig liebte. Warum nur? fragte sich Merritt. Warum hatte sie diese Macht über ihn? Sie hatte sich als Kind kaum um ihn gekümmert und erbarmungslos an ihm rumgemeckert, wenn sie mal da war. Sie war grausam und herzlos. Außer … außer zu den seltenen Gelegenheiten, wenn sie, sich von ihrer anderen Seite zeigte – als lebenslustige Frau mit einem Lachen so sanft wie ein Sommerwind. Dann ging sie mit ihm in den Zirkus, drückte seine Hand und stellte ihn nach der Vorstellung dem Löwendompteur vor. Dann war er sich als was Besonderes vorgekommen …

Doch das war nun der letzte Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Von ihm aus konnte sie sich zum Teufel scheren. Es war ganz bestimmt ihre Schuld, daß Lilah verletzt worden war. So wie es überhaupt ihre Schuld war, daß Lilah sich von ihm abgewendet hatte.

Er plauderte lächelnd mit den Damen, während eine ihm eine Tasse Kaffee brachte und eine andere die Liste mit den Terminen für den heutigen Tag. Eine ganze Menge – vierzig Namen, etwa zwei Drittel allerdings Routineuntersuchungen. Hinter dem Namen von Mrs. Lewis war ein Stern bei einem Abstrich war ein Karzinom am Gebärmutterhals entdeckt worden. Für sie würde er sich etwas mehr Zeit nehmen müssen. Er würde sie noch heute Abend ins Krankenhaus einweisen und sie morgen früh um sieben nach der Ausschabung um sechs operieren. Mrs. Arlin kam zu ihrer dreimonatlichen Fibromkontrolle, Mrs. Bennington ebenfalls. Dann hatte er noch drei Kontrolluntersuchungen sechs Wochen nach der Entbindung. Der Rest waren Schwangerschaften, bei fünf davon ging es um einen Abbruch. Eine der Kandidatinnen war bereits im fünften Monat. Ein Abbruch im zweiten Drittel der Schwangerschaft war sehr viel schwieriger, weil der Fötus schon ziemlich weit entwickelt war. Gut, daß sie zu ihm gekommen war.

Er steckte den Terminplan in die Kitteltasche und zog sich mit dem Kaffee in sein Büro zurück. Aus einem großen Fenster hatte er eine wunderbare Aussicht auf die Halbinsel Palos Verdes und den stahlgrauen Ozean, in dem sich der bewölkte Himmel widerspiegelte. Merritt setzte sich an seinen Schreibtisch, nahm eine Flasche Bourbon aus einer verschlossenen Schublade und tat einen Schuß in seinen Kaffee. Dann lehnte er sich zurück und schlürfte seinen Morgentrank. Die Tasse war zu Hälfte geleert, als sein Privatanschluß klingelte. Er wartete einen Augenblick, dann nahm er ab.

»Hallo, Mutter. Wie schön, daß du dich auch schon meldest. Ich hab bereits zwanzigmal bei dir angerufen.«

»Wo zum Teufel warst du gestern?«

»Wo ich war? Wo zum Teufel warst du?«

»Hab mit der Polizei geredet …«

»Was ist mit Lilah passiert, Mutter? Ich wollte sie gestern besuchen, aber sie hatte bereits das Krankenhaus verlassen.«

»Wie hast du das überhaupt erfahren?«

»Ich bin auf der Farm an einen weiblichen Detective geraten …«

»Du warst in der Beauty-Farm?«

»Ja, war ich … hat Frederick dir das etwa nicht gesagt?«

Längere Zeit herrschte an beiden Enden Schweigen.

Schließlich sagte Merritt: »Dann hat Frederick dir wohl gar nichts gesagt.«

»Dann müssen Frederick und ich uns wohl mal ein bißchen unterhalten.«

»Mutter, der Detective sagte mir, daß Lilah überfallen wurde. Was ist genau passiert?«

»Komisch, das gleiche wollte ich dich auch gerade fragen.«

Merritt merkte, wie sein Gesicht anfing zu glühen, und knallte den Hörer auf. Wenige Sekunden später klingelte es erneut an seinem privaten Anschluß. Er nahm den Hörer.

»Das war eine widerwärtige und gemeine Unterstellung, Mutter.«

»Kingston, das war nicht böse gemeint. Um Himmels willen, wir stehen doch auf derselben Seite! Ich dachte nur, du wüßtest vielleicht, was genau passiert ist, weil du mit der Polizei gesprochen hast.«

»Ich weiß überhaupt nichts, weil ich sofort losgefahren bin, um Lilah zu sehen. Aber da war sie schon weg. Also erzähl du mir, was passiert ist. Wurde Lilah tatsächlich überfallen?«

Langes Schweigen. Merritt hörte Fingergetrommel durch das Telefon.

»Ich hab viel zu tun, Mutter. Also stimmt es, oder stimmt es nicht?«

»Ich glaube ja.«

»Du glaubst?«

»Nun ja, Lilah bildet sich ja häufiger mal was ein …«

»Der Detective hat gesagt, sie wurde geschlagen. Um Himmels willen, wie sollte sie sich das denn eingebildet haben?«

»Sie hatte ein paar Blutergüsse. Nichts Ernstes.«

»Ich will sie sehen.«

»Kingston, das ist keine gute Idee …«

»Mutter, ich bestehe darauf, sie zu sehen! Egal was sie von mir denkt, mir liegt immer noch sehr viel an ihr. Wenn sie medizinische Hilfe braucht, ich hab Beziehungen zu den besten Ärzten in der Stadt. Weiß Gott wie viele mir einen Gefallen schulden, weil ich ihre Töchter diskret aus einer heiklen Situation gerettet hab.«

»Freddy hat alles unter Kontrolle.«

»Freddy? Du läßt Freddy diese Situation regeln? Auf einmal vertraust du Freddy?«

»Ich nicht, Lilah. Sie hat Vertrauen …«

»Zu Freddy?« Merritt stieß ein tiefes Lachen aus. »Na schön, Mutter. Dann soll doch Freddy sich um Lilah und um deine sämtlichen Angelegenheiten kümmern.«

»King, ich weiß, daß ihr beide euch haßt …«

»Natürlich weißt du das. Du hast doch unseren Haß geschürt.«

»Hab ich nicht!«

»Mutter, du hast Freddy gegen mich aufgebracht, indem du ihn immer mit mir verglichen und ihn schlechtgemacht hast.«

»Du warst ja auch intelligenter. Ich war einfach nur ehrlich.«

»Du hast aus ihm einen kleinkarierten, neidischen Menschen gemacht – die Hülse von einem Menschen. Und deshalb hat er Lilah gegen mich aufgehetzt.«

»Ich hab meine Pflicht als Mutter so gut erfüllt, wie ich das konnte. Niemand ist perfekt. Und jetzt führ dich nicht auf wie ein verwöhntes Balg.«

»Mutter, ich kann mich aufführen, wie ich will. Im Augenblick bist du diejenige, die mich braucht. Jetzt hör mir gut zu. Ich werde Lilah sehen, und du wirst das in die Wege leiten. Du wirst ihr erklären, wie viel sie mir bedeutet und wie gerne ich ihr helfen möchte. Du wirst sie davon überzeugen, Mutter, daß sie mich empfangen muß.«

»Lilah hat ihren eigenen Willen, King.«

»Du wirst sie schon überzeugen. Du kannst doch sehr überzeugend sein, wenn’s um deine Interessen geht. Nichts läuft mehr, aber auch gar nichts, bis ich Lilah gesehen habe. Sind wir uns darüber einig?«

Wieder erklang Fingergetrommel durch die Leitung.

»Ich leg jetzt auf, Mutter.«

»King, laß uns doch noch mal drüber reden …«

»Nichts läuft mehr, bis ich sie sehen kann. Habe ich das klar ausgedrückt?«

»Keine Sorge, King. Das war unmißverständlich.«

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und eine zaghafte Stimme fragte auf Spanisch, wer da sei. Nachdem Decker erklärt hatte, wer er war, ging die Tür ganz auf. Auf Decker machte das Hausmädchen immer noch einen mitgenommenen Eindruck, aber sie sagte, es ginge ihr besser. Dann führte sie ihn durch eine blitzsaubere Küche zur hinteren Tür und sagte, Lilah wäre draußen im Stall und würde ihre Pferde striegeln. Das war eine vernünftige Beschäftigung in ihrer Situation. Arbeiten, bei denen man sorgfältig sein mußte, lenkten das Gehirn ab und verhinderten, daß sich morbide Gedanken breitmachten. Er bedankte sich bei Mercedes und ging zum Stall hinüber, doch vor dem Eingang wurde ihm der Weg versperrt.

»Hallo, Mr. Totes«, sagte Decker. »Lilah hat mich hergebeten, weil sie mit mir reden möchte.«

»Ist gut, Carl«, rief Lilah. »Er kann reinkommen.«

Der dürre Mann ging nicht sofort zur Seite, sondern blieb starr in militärischer Haltung stehen – die Arme verschränkt, die Beine gespreizt, den Brustkorb nach vorne gedrückt und die Stirn über mißtrauischen Augen in Falten gelegt. Totes mußte zwar letztlich den Weg freimachen, aber er ließ sich reichlich Zeit dabei.

Decker trat in den Stall und traf Lilah bei Apollo – dem Palominohengst, den Totes bei ihrer ersten Begegnung geritten war. Sie kämmte die goldene Mähne des Pferdes und flüsterte ihm beruhigend ins Ohr, während sie verhedderte Strähnen entwirrte. Man hatte dem Tier Zügel und Gebißstange angelegt, aber keinen Sattel. Lilahs Kluft war eine Mischung aus Cowgirl und Vamp. Sie trug hautenge Jeans, die in zweifarbigen Stiefeln aus Elefantenleder steckten, und ein schlauchartiges schwarzes Top. Irgendwie kriegte sie es hin, in dem Aufzug nicht billig aussehen. Sie nahm seine Anwesenheit nicht zur Kenntnis, und Decker wußte, daß sie mit ihm spielte. Doch das Schweigen störte ihn nicht. Ihm bot sich ein harmonisches Bild – wie eine goldhaarige Schönheit eine andere striegelte. Schließlich klopfte Lilah dem Pferd den Hals, und drehte sich zu Decker um. Sie hatte immer noch blaue Flecken im Gesicht, aber es heilte gut.

»Ich wollte gerade ausreiten, Peter. Mal sehen, ob ich’s noch kann. Kommen Sie doch bitte mit.«

»Reiten?«

»Ein Ritt wird mich entspannen. Und wenn ich entspannt ist, kann ich mich besser konzentrieren. Das wird uns letztlich beiden zugute kommen. Sie brauchen keine Angst vor den Pferden zu haben. Die sind sehr gut ausgebildet.«

Lilah mochte zwar seine Privatnummer kennen, aber sie konnte nun wirklich nichts von seinem Hobby wissen, von den sechs Pferden, die bei ihm im Stall standen. Und er dachte auch nicht daran, ihr was Persönliches zu erzählen. Er schob lässig die Hände in die Tasche und dachte: kein Problem, amiga. Er konnte ein Schlitzohr genauso gut spielen wie einen Hinterwäldler.

»Ich bin nicht ganz passend dazu angezogen, Miss Brecht.«

Sie lächelte verführerisch. »Wissen Sie, was mir aufgefallen ist, Peter? Wenn Sie nervös werden, nennen Sie mich Miss Brecht. Regen Sie sich doch nicht so auf.«

Nach außen hin war Decker gelassen, aber innerlich total angespannt – wütend und sexuell erregt zugleich. Er kam sich wie ein Idiot vor, konnte sich aber nicht einfach umdrehen und weggehen, ohne das Gesicht zu verlieren.

Bring es hinter dich, Deck. Reit das verdammte Pferd, und dann verschwinde.

»Ich hab fünfundvierzig Minuten Zeit, Lilah. Wenn Sie die mit Reiten zubringen wollen, hab ich nichts dagegen. Aber ich komme nicht noch mal hierher.«

»Ach ja, die Grundregeln.« Sie warf sich die Haare über die Schulter und fuhr mit den Fingern über ihre Wangen. »Ich hab versucht, die blauen Flecken mit Make-up abzudecken. Sieht man das?«

Decker betrachtete prüfend ihr schönes Gesicht und erklärte, sie sähe gut aus. Was auch stimmte. Unter den Augen war ihre Haut zwar noch ein bißchen blau, aber ansonsten hätte sie durchaus auf das Titelblatt von Vogue oder vom Playboy gepaßt. Er spürte, wie sein Gesicht anfing zu glühen. Sie bemerkte seine Verlegenheit, verkniff sich jedoch einen Kommentar, sondern sagte: »Carl, sattle High Time für Sergeant Decker.«

»Welcher ist das?« fragte Decker.

»Der Appaloosa. Das gefleckte Pferd, Peter. Sie ziehen besser Ihre Jacke aus. Es ist heiß. Sie können auch ohne Hemd reiten, wenn Sie wollen.«

»Nein, danke.«

»Ach ja, Sie mit Ihren roten Haaren. Sie verbrennen wahrscheinlich eher, als daß Sie braun werden. Ich verstehe gar nicht, warum Mutter Sie sich als Cowboy vorgestellt hat. Rothaarige können keine Cowboys spielen.«

»Ihre Mutter hat Ihnen also von unserer kleinen Plauderei erzählt?«

»Nein. Bloß daß sie meint, Sie würden einen wunderbaren Cowboy abgeben. Viel besser als einen Detective. Ehrlich gesagt, ich seh Sie weder als das eine noch als das andere.«

Decker zuckte die Achseln und sah weg. Dann zog er seine Jacke aus und hängte sie über einen Sattelhaken. Dabei beobachtete er, wie Totes einen Westernsattel über High Time warf. Totes’ Gesicht hatte keinen feindseligen Ausdruck; allerdings hatte es im Grunde überhaupt keinen Ausdruck. Er erledigte seine Aufgaben mit gekonnten Bewegungen. Als der Stallbursche fertig war, ging Decker zu dem Pferd und betrachtete es gründlich.

»Sie beißt nicht, Peter«, sagte Lilah. »Schleichen Sie sich nur nicht von hinten an sie ran.« Dann wandte sie sich an Totes. »Carl, führ High Time hinaus, und zeig Sergeant Decker, wie man aufsteigt.«

Aufsteigen konnte er eigentlich ganz gut. Doch er folgte Totes kommentarlos.

Totes tippte gegen den Steigbügel. »Tunse einen Fuß hierhin. Dann mit dem andern Bein über das Pferd und hinsetzen. Sie müssen nix tun, nur sitzen. Sie können die Zügel halten, aber nicht dran ziehen. Pferd läuft hinter der Miss her. Wenn Sie anfangen zu ziehen, kommt’s durcheinander.«

»Verstanden«, sagte Decker.

Totes wandte sich abrupt ab. Decker stieg auf das Pferd, das ganz ruhig dastand und mit dem Schwanz nach den Fliegen schlug. Lilah stellte sich mit ihrem Pferd links neben ihn. Er bemerkte, daß sie angespannt wirkte, und fragte, ob sie Schmerzen hätte. Sie sagte, es ginge ihr schon viel besser, zumindest körperlich. Dann zog sie an High Times Gebißstange, und es ging los. Sie ritt ohne Sattel auf einer Art Indianerdecke.

Sofort spürte er, wie die Sonne ihm auf dem Schädel brannte. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn, auf den Wangen und in den Achselhöhlen. Der Himmel war blau und klar, kein Windhauch ging, und die Luft war voller Fliegen, Mücken und Brummer. Die Gipfel der Berge schienen in der Hitze zu schimmern. Schon nach einer Minute merkte er, daß er im Grunde ganz dankbar für diese unerwartete Wendung der Dinge war. Reiten tat ihm nicht nur gut, es gab ihm auch das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben.

»Danke für Ihr Entgegenkommen«, sagte Lilah.

»Nur dieses eine Mal.«

»Die guten alten Grundregeln.« Lilah senkte den Kopf. »Tut mir leid, wenn Ihre Frau sich meinetwegen aufgeregt hat.«

Decker anwortete nicht. Statt dessen rollte er seine Ärmel hoch und nahm Block und Stift heraus.

»Das ist ja nicht zu glauben!« sagte Lilah. »Sie können sich beim Reiten Notizen machen.«

»Carl hat gesagt, ich soll nichts weiter tun außer auf dem Pferd sitzen. Außerdem hab ich einen ausgezeichneten Gleichgewichtssinn.«

»Das wird ja das reinste Gekritzel.«

»So sieht meine Schrift eh immer aus.«

»Hören Sie denn nie auf zu arbeiten?«

»Sagen Sie mir endlich, weshalb ich hier bin?« sagte Decker.

Lilah zügelte das Tempo. »Können Sie mir denn nicht eine Minute Zeit lassen, um meine Gedanken zu sammeln?«

Decker sah auf seine Uhr. »Wir haben nur noch fünfunddreißig Minuten, Lilah.«

»Sie sind unmöglich.«

»Warum reiten Sie ohne Sattel?«

Sie sah zu ihm und lächelte ihn mit zusammengekniffenen Lippen an. »Ich möchte eine enge Verbindung zu meinen Tieren haben … möchte fühlen, wie sich ihre Muskeln bewegen.«

Decker gab keine Antwort. Er ritt nie ohne Sattel, weil er glaubte, daß selbst die sanftmütigsten Pferde immer noch Tiere waren. Ein Sattel gab Sicherheit, falls es zu einer unvorhergesehenen Situation kam.

Die nächsten fünf Minuten ritten sie schweigend. Ihre Ranch war viel größer, als er sie in Erinnerung hatte, aber vielleicht hatte er auch nicht das ganze Gelände gesehen. Wie sein Grundstück grenzte es an die San Gabriel Mountains, war aber erheblich größer. Ein staubiger Pfad teilte das Grundstück in zwei Hälften. Etwa hundert Meter vor ihnen verschwand dieser Pfad in einem dichten Eukalyptushain. Direkt rechts neben Decker war die Obstplantage, dahinter ein weiteres Gebäude, das wie ein Gästehaus aussah. Links von ihm war der Garten mindestens vierzig Ar voller Nutzpflanzen.

»Das ist ja ein Riesengrundstück«, sagte Decker.

»Ich benutze es ja auch kommerziell.«

»Wie das?«

»Jedes Obst und jedes Gemüse, das in der Beauty-Farm auf den Tisch kommt, stammt aus diesem Garten oder aus einem meiner Gewächshäuser. Das ist die einzige Möglichkeit, die Qualität zu kontrollieren.«

»Ich sehe gar keine Gewächshäuser.«

»Das sind ja auch nicht die großen Fertigdinger. Ich habe mehrere kleine Gewächshäuser, die unauffällig an sonnigen Stellen stehen. Alle sind klimatisch kontrolliert und frei von Pestiziden. Ich baue auch der Jahreszeit nicht gemäße und exotische Früchte an – nur einige wenige, um den Gaumen zu reizen. Außerdem züchte ich tropische Pflanzen – hauptsächlich Orchideen und Bromelien. Daraus kann man wunderschöne Tischdekorationen für den Speisesaal der Beauty-Farm machen.«

»Sie haben ja eine regelrechte Großgärtnerei hier.«

»Meine Gäste haben eben schon einen gewissen Anspruch.«

»Das scheint mir ja reichlich viel Gemüse für die Küche der Beauty-Farm.«

»Es kommt nichts um.«

Einige Minuten ritten sie schweigend.

»Das ist ja eine nette Abwechslung«, sagte Decker. »Wollen Sie mir jetzt sagen, was Sie bedrückt? Wir haben nur noch zwanzig Minuten.«

»Setzen Sie mich nicht unter Druck.«

»Ganz wie Sie wollen …«

»Hören Sie auf!« schrie sie. »Hören Sie auf! Hören Sie auf.«

Erneutes Schweigen. Das Summen in der Luft schien viel lauter, bis Apollo plötzlich anfing zu wiehern und sich aufbäumte.

»Was hat er?« fragte Decker.

»Nichts.« Lilah zog hektisch an den Zügeln. »Mein Gebrüll hat ihn wahrscheinlich erschreckt. Er ist sehr sensibel.«

Sie bekam das Pferd wieder unter Kontrolle.

»Was wollten Sie mir sagen, Lilah?« fragte Decker.

»Ich bin jetzt zu aufgeregt.«

»Lilah, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit. Wenn Sie sich von mir unter Druck gesetzt fühlen, dann beende ich die Sache jetzt auf der Stelle.«

»Tun Sie’s doch!« sagte sie. »Ganz wie Sie wollen!«

Na prima, dachte er. Was für eine unglaubliche Zeitverschwendung. Er zog kräftig an den Zügeln und drehte das Pferd in Richtung Stall. Dann trat er den Appaloosa in die Seiten, und High Time wechselte in einen langsamen Galopp. Diesmal folgte Lilah ihm.

»Sie können ja reiten!«

Decker antwortete nicht.

»Warum haben Sie so getan, als könnten Sie’s nicht?«

»Wie wär’s, wenn ich die Fragen stelle, Miss Brecht?« Er preschte los, zwang das Tier durch rasches Ziehen an den Zügeln, die Richtung zu wechseln, und raste auf den Eukalyptushain zu. Dort galoppierte er über die schattigen Pfade und kurvte dabei um die Bäume herum wie auf einem Rodeo. Lilah versuchte ihm zu folgen. Apollo war zwar schnell – sicher ein Palomino von reinstem Geblüt aber sie war einfach nicht gewandt genug, um mithalten zu können. Er ließ sie in einer Staubwolke hinter sich. High Time legte sich in die Kurven, als hätte sie Servolenkung – ein Pferd, das Decker auch gern besessen hätte. Wenige Minuten später drosselte er das Tempo, damit Lilah ihn einholen konnte. Er lehnte sich zurück und atmete den Mentholgeruch ein.

»Sie sind großartig!« sagte sie atemlos.

»Wenn wir schon reiten, will ich auch was davon haben.«

Apollo bäumte sich erneut auf. Er stieg mit den Vorderhufen so hoch, daß er fast senkrecht stand.

»Beugen Sie sich nach vorn, Lilah …«

»Ich weiß, wie ich mit meinem Pferd umgehen muß!«

Doch ihre Stimme klang zittrig. Der Palomino balancierte weiter auf den Hinterhufen und trat protestierend nach den Ästen der hohen Bäume.

»Sie sitzen immer noch zu gerade. Sie werden nach hinten fallen.«

»Ich versuch’s ja. Ist aber nicht so einfach ohne Sattel.«

»Benutzen Sie Ihre Oberschenkel«, wies Decker sie an. »Drücken Sie, so fest Sie können.«

»Das mach ich doch!«

»Jetzt ziehen Sie die Zügel stramm und geben ihm einen Tritt in die Seiten. Das sollte ihn wieder auf die Vorderhufe bringen.«

»Ich versuch’s ja, verdammt noch mal! Er ist einfach störrisch!«

Decker stellte sich auf seine Steigbügel und schob High Time näher an das sich wild gebärdende Pferd heran, sorgsam bedacht, den gefährlichen Hufen auszuweichen. Lilah gelang es, die Balance zu halten, während Decker versuchte, an ihr Pferd heranzukommen. Schließlich beugte er sich hinüber, packte Apollos Gebißstange und zwang das Pferd mit einem heftigen Ruck nach vorn. Erde und Blätter aufwirbelnd, landete Apollo schließlich auf allen vieren und ging dann im Kreis. Lilah ordnete die Zügel und brachte ihn wieder unter Kontrolle.

»Mit ihm stimmt wirklich was nicht«, sagte Decker. »Wir sollten zurückreiten.«

»Ich bin jetzt bereit, mit Ihnen zu reden.«

»Dann aber schnell. Mir gefällt nicht, wie Ihr Pferd sich aufführt.«

»Er spürt meine Unruhe.«

»Dann sollten wir die Pferde tauschen. Ich bin nicht unruhig.«

»Er erholt sich schon wieder. Besser als ich. Die ganze letzte Nacht und jede Minute heute hatte ich … hatte ich dieses unheimliche Gefühl, daß etwas Furchtbares passieren wird. Noch schlimmer, als was bereits passiert ist. Ich bin außer mir vor Angst.«

»Lilah, ich weiß, daß Sie mir das nicht glauben, aber was Sie empfinden, ist völlig normal. Es wäre anormal, wenn Sie keine Angst hätten.«

»Nein, nein, das ist keine normale Angst, Peter. Die hab ich nämlich auch. Diese … diese übersinnliche Wahrnehmung ist etwas anderes. Eine Prophezeiung. Ich bin eine Prophetin und kann tiefe Schwingungen aus einer unterirdischen Welt empfangen. Sie kommen direkt aus der Hölle. Es ist einfach entsetzlich!« Sie fing an zu zittern. »Verstehen Sie das nicht? Es ist eine Warnung! Sie müssen mich irgendwie vor diesen Dämonen schützen!«

Hatte die Vergewaltigung sie so in Panik versetzt, daß sie anfing zu halluzinieren? Decker hatte schon erlebt, daß körperliche Gewalt ganz normale Menschen im wahrsten Sinne des Wortes um den Verstand brachte. Genauso verhielt sich Lilah.

»Lilah, ich arbeite wirklich intensiv an der Lösung Ihres Falles, aber ich kann Ihnen nicht helfen, Ihre persönlichen Dämonen abzuwehren. Wenn Sie glauben, daß es jemand auf Sie abgesehen hat – und dieses Gefühl kann ich gut nachvollziehen heuern Sie einen Leibwächter an. Ihre Mutter kennt sicher jemanden. Wenn nicht, kann ich Ihnen jemand empfehlen.«

»Sie verstehen das nicht«, sagte sie flehentlich.

»Lilah …«

»Es ist schlechtes Karma!« Tränen strömten ihr die Wangen hinunter. »Ein furchtbares Gefühl von Verhängnis. Irgendwer hat es tatsächlich auf mich abgesehen, Peter. Bei dem Diebstahl ging es um mehr als um die Memoiren meines Vaters. Es ging darum, mir alles zu nehmen, was mir lieb und wert ist. Es ist ein persönlicher Rachefeldzug gegen mich!«

»Deshalb wäre ein Leibwächter …«

»Nein, das würde nichts nützen. Derjenige wird zurückkommen und mich fertigmachen. Meine Kräfte sagen mir, daß es so ist! Ich hab so furchtbare Angst!«

Apollo bäumte sich wieder auf, die Vorderhufe gegen die Sonne gestreckt. Einen Augenblick tänzelte er auf zwei Beinen. Seine Flanken waren vom Licht der Sonne, das durch die Zweige drang, gesprenkelt. Hunderte goldener Punkte schimmerten auf seinem honigfarbenen Fell. Dann krachte er mit seinen gut tausend Pfund zurück auf den Boden – Erde, Zweige und Blätter spritzten ihnen ins Gesicht.

Der Palomino bäumte sich immer wieder auf. Lilah, die sich verzweifelt festhielt, war totenbleich im Gesicht geworden. Decker versuchte, sich näher an sie heranzuschieben, doch die kräftig ausschlagenden Hufe hielten ihn auf Distanz. Apollos letztes Aufbäumen geriet zur perfekten Kapriole. Das Pferd sprang in die Luft, sich mit den ausgestreckten Hinterbeinen kräftig nach vorne abstoßend, die Vorderbeine elegant angewinkelt.

Schwerfällig landete der Hengst wieder und verlor für einen Augenblick den Halt, als er mit dem linken Hinterhuf eine vorstehende Baumwurzel erwischte. Er geriet ins Stolpern, stürzte aber nicht. Lilah hatte ihre Arme um den Hals des Tieres geschlungen, doch ihr Griff lockerte sich mit jeder heftigen Bewegung des Kopfes. Sie war immer weiter nach vorne gerutscht und saß jetzt auf dem Widerrist des Pferdes. Die Decke war heruntergefallen. Decker schob High Time näher heran und streckte die Hand nach Apollos Zügeln aus. Als er gerade danach greifen wollte, ging Apollo durch.

Decker trat High Time in die Seite und preschte mit vollem Tempo los. Er machte sich so flach wie möglich, während er den gefleckten Schimmel fluchend um die Bäume lenkte und spürte, wie die scharfen Spitzen von niedrig hängenden Zweigen ihm den Rücken aufkratzten. Adrenalin schoß durch seinen Körper, sein Herz hämmerte gegen den Brustkorb, seine Hände zitterten. Doch er hatte sich noch so weit unter Kontrolle, um das Pferd in strategisch wichtigen Momenten lenken zu können – was verhinderte, daß er durch einen Sturz zu Brei geschlagen wurde.

Apollo raste wie besessen, fegte unberechenbar zwischen Bäumen hindurch und entging manchmal nur um Zentimeter einem Ast oder einem dicken Stamm. Sein Tempo überstieg bei weitem seine normalen Fähigkeiten. Mehrere Male machte das Pferd ohne ersichtlichen Grund einen Satz nach vorn, dabei wäre Lilah einmal fast von einem Ast enthauptet worden. Verzweifelt hielt sie sich fest, ihr Haar flog im Wind. Decker zwang High Time, noch schneller zu laufen. Staub drang ihm in Augen und Mund. Er spuckte, rieb sich die Augen an der Schulter und legte sich noch mehr ins Zeug. Mit jedem schmerzenden Muskel trieb er das Pferd voran.

Der Palomino hatte zwei Meter Vorsprung. Indem er sein Pferd aufs heftigste forderte, gelang es Decker, Schritt zu halten. Lilahs Pferd konnte dieses mörderische Tempo unmöglich noch lange durchhalten. Hoffentlich schlaffte das verdammte Vieh ab, bevor es sie umbrachte.

High Time galoppierte, ohne auch nur ein einziges Mal mit den Hufen wegzurutschen. Die guten alten Appaloosa. Nichts kann sie aus dem Tritt bringen. Doch jedes Mal, wenn das Pferd eine besonders schwierige Stelle zu passieren hatte, war er gezwungen, das Tempo zu drosseln. Dadurch vergrößerte Apollo den Abstand wieder. Lilah hatte jegliche Kontrolle über ihr Pferd verloren. Der Palomino raste nach seinem eigenen teuflischen Rhythmus.

Decker verfluchte seine Borniertheit. Lilahs böse Schwingungen waren keine verrückte Phantasie mehr, sondern furchtbare Realität. Seine Kleider waren mittlerweile völlig durchnäßt, und ihm tropfte der Schweiß von der Stirn. Er spürte, wie sein ganzer Körper von Grauen ergriffen wurde. Doch er wußte, daß seine Angst nichts im Vergleich zu dem war, was Lilah durchmachte. So schnell er auch ritt, Decker wußte, daß er noch alles unter Kontrolle hatte, daß er sofort anhalten könnte. Diese Gewißheit hatte Lilah nicht, da der Palomino unbeirrt in diesem mörderischen Tempo weiterraste. Wenn er das Mistvieh nur einholen könnte – eine fast übermenschliche Aufgabe, doch es mußte ihm gelingen. Er spannte die Schultern an, grub sich tief in High Times Seiten und versuchte, das letzte aus dem Apfelschimmel herauszuholen.

Bäume fegten an ihnen vorbei, während die Pferde dieses wahnwitzige Tempo aufrechterhielten. Der Luftstrom brach sich in den Zweigen über ihm und blies ihm in den feuchten Nacken. Seine Ohren dröhnten, und Staub stach ihm in den Augen. Die Farben der Natur rasten kaleidoskopartig an ihm vorbei. Grün-, Braun- und Rosttöne, Objekte, die zu einer formlosen Masse verschwammen. Alles um ihn herum war eine tödliche Waffe – ein Baum, ein Ast, ein Zaun, ein Telefonmast, der plötzlich aus dem Nichts auftauchte. Selbst ein kleiner Erdklumpen konnte die Pferde zum Stolpern bringen und sie mit fünfzig Meilen pro Stunde zu Boden schleudern.

Vor ihnen lief eine ein Meter breite Hecke quer über den Pfad – ein ganz natürliches Hindernis, aber bei diesem Tempo sprang man normalerweise nicht. Doch es gab keine Möglichkeit, die Hecke zu umgehen. Nicht daß er die Wahl gehabt hätte. Wo Apollo hinging, da ging auch er hin. Der Palomino sprang, aber rasierte die Spitze des Gebüschs mit seinen Hufen ab. Der Apfelschimmel folgte ihm, übersprang den Busch problemlos und holte dadurch etwas auf. Der Palomino faßte wieder Tritt und sprintete weiter.

Aber nicht ganz so schnell wie bisher.

Hoffnung keimte in Decker auf. Er merkte, wie der Abstand zwischen den Pferden kleiner wurde. Er konnte den Luftstrom des Palomino bereits im Gesicht spüren.

Schneller!

Zentimeter um Zentimeter näherte er sich der linken Seite des Palomino. Die Hufe hämmerten auf dem trockenen, staubigen Boden. Staub nahm ihm die Sicht. Versuch ihn durch Blinzeln rauszukriegen! Blinzeln, blinzeln!

Näher!

Die Bäume standen nun etwas weiter auseinander, das Laubwerk wurde spärlicher. Die Sonne brannte erbarmungslos, als die Pferde den schützenden Schatten des Waldes verließen. Sekunden später stellte Decker mit Erleichterung fest, daß vor ihnen offenes Gelände lag. Während der Palomino darauf zuraste, begann ihm schon wieder der Kopf zu dröhnen, und seine Hoffnung schwand, weil plötzlich Berge vor ihnen auftauchten, die bisher von den Baumwipfeln verdeckt gewesen waren. Eine unüberwindliche Granitwand rückte ihnen bedrohlich näher. Lilah kreischte, und ihr Geschrei kam immer deutlicher als Echo zurück, je höher und gewaltiger der Felsen sich vor ihnen auftürmte.

Schneller und schneller!

Nur noch wenige Zentimeter hinter Apollos Flanken, dann neben seinen Flanken, dann neben seinem Bauch. Schließlich rasten die Tiere Hals an Hals, Nase an Nase. Sie waren so dicht nebeneinander, als ob sie zusammen angeschirrt wären. Jeder Schritt war wie ein genau einstudierter Tanz, um dem Tod zu trotzen; die Hufe sausten manchmal nur um wenige Millimeter aneinander vorbei.

Decker schob sich nach vorn und drehte sich dann um. Lilah war aschfahl im Gesicht. Ihre Arme umklammerten den Hals des Palomino.

Die Berge näherten sich ihnen mit entsetzlicher Klarheit!

Jetzt oder nie. Er brüllte so laut er konnte.

»Lilah, springen Sie bei drei zu mir rüber!«

»Sie fangen mich niemals!«

»Sie haben keine andere Wahl! Eins! Zwei! Drei!«

Lilah blieb erstarrt und mit großen Augen sitzen.

»Springen Sie …«

»Ich kann nicht!«

»Jetzt!«

»Ich …«

»Verdammt noch mal, Lilah! Spring! Spring! SPRING!«

Sie schleuderte nach links, während Decker einen Arm um sie schlang und sie fest an sich drückte. Dann riß er die Zügel rechts herum. Sie waren noch etwa zwei Meter von dem Felsen entfernt, aber trotzdem nahe genug, um reichlich Blut abzukriegen, als der Palomino mit den Kopf voran gegen die Steinwand knallte.