19
Vollmond: Der perfekte Abschluß eines verrückten Tages. Decker starrte aus dem Fenster. Es hätte ihn kaum gewundert, Vampire und Werwölfe zu sehen. Doch statt dessen beobachtete er, wie die silbrige Scheibe durch zarte Wolken schwebte, und sah Birkenzweige silhouettenhaft im Sommerwind schwanken. Von diesem Schauspiel gefesselt, hatte er noch nicht mal gemerkt, daß der Rabbi hereingekommen war, bis er ein leichtes Klopfen auf seiner Schulter spürte.
Rav Schulman war weit über Siebzig, und zum ersten Mal fiel Decker auf, daß die Schultern des alten Mannes ein wenig gebeugt waren. Dadurch war der Rabbi wohl einige Zentimeter geschrumpft, so daß er jetzt so um die einsfünfundsiebzig war. Der größte Teil seines Gesichts wurde von einem Bart bedeckt, der eher weiß als grau war. Und was an Haut hervorguckte, war runzlig und mit Leberflecken übersät. Doch seine kaffeebraunen Augen leuchteten wie eh und je. Wie gewohnt trug er ein gestärktes weißes Hemd, einen schwarzen Anzug, der ihm ein bißchen zu locker saß, eine schwarze Seidenkrawatte und einen dunklen Homburg. Der alte Mann stützte sich auf die Fensterbank, die Augen auf das Naturschauspiel gerichtet.
»Schön, nu?«
»ja, das ist es«, antwortete Decker.
»Und friedlich.« Rabbi Schulman sah Decker an. »Ganz im Gegensatz zu Ihrem Tag, nach allem, was ich gehört hab.«
Decker atmete langsam aus. »Ich muß wohl mehr mitgenommen gewesen sein, als ich gedacht hab, daß Rina Sie angerufen hat. Und ich hab geglaubt, ich halte mich perfekt …«
Der Rabbi lächelte. »Wie geht’s Ihnen denn, Akiva?«
»Physisch?«
»Physisch … emotional.«
»Mir geht’s gut.«
Der alte Mann nahm die Worte seines Schülers auf und wägte kurz ihren Wahrheitsgehalt ab. Dann deutete er auf einen Stuhl und forderte Decker auf, Platz zu nehmen. Schulman setzte sich vorsichtig in einen Ledersessel und legte die Ellbogen auf seinen großen Schreibtisch. Er faltete die Hände, berührte seine Lippen mit den Fingerspitzen und wartete.
Zögernd erzählte Decker von dem furchtbaren Zwischenfall am Morgen. Während er sprach, begann er sich allmählich besser zu fühlen. Seine aufgestauten Gefühle bauten sich nach und nach ab. Es war ihm peinlich, den Rabbi als spirituellen Müllabladeplatz zu benutzen. Doch der alte Mann schien das gewohnt zu sein.
Als er geendet hatte, sagte Schulman: »War das ein Unfall, daß das Pferd durchgedreht ist?«
»Nein, Rabbi, jemand hatte das Pferd unter Drogen gesetzt.«
Der alte Mann dachte nach. »Jemand hat versucht, diese Frau mit Hilfe eines Pferdes zu töten?«
»Vielleicht wollte er ihr nur einen Schrecken einjagen. Aber wer weiß?«
»Das ist ja furchtbar«, sagte Schulman. »Wirklich furchtbar.«
»Das stimmt, wenn es tatsächlich so war.«
Der alte Mann schien ein wenig blasser geworden zu sein, deshalb fügte Decker rasch hinzu: »Ihr ist nichts passiert, Rabbi. Natürlich war sie ziemlich mitgenommen, aber sie ist unverletzt.«
»Haben Sie gomel gebenscht?« fragte der alte Mann.
Gomel – der Dank an Gott, daß er einen Menschen aus einer Gefahr befreit hat. Decker hatte das Gebet nicht einfach gesprochen, er hatte es mit großer Inbrunst gesprochen.
»Ja, obwohl strenggenommen sie wohl hätte beten müssen.« Dann fügte er leise hinzu: »Nicht daß ich mir das je vorstellen könnte.«
»Ist sie Atheistin?« fragte Schulman.
»Nein, das glaub ich nicht.« Decker strich sich den Schnurrbart glatt. »Sie ist eher eine von diesen New-Age-Anhängern. Wissen Sie, was das ist?«
»Das sind Leute, die Kronleuchter anbeten.«
Decker lächelte. »Kristallkugeln, Rabbi. Keine Kronleuchter.«
»Wo liegt da der Unterschied?« Schulman machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das ist alles awodah sorah – Götzendienst.«
Rasch kategorisiert und abgetan. Aber da war noch mehr, was Decker keine Ruhe ließ.
»Rabbi, die Frau behauptet, magische Kräfte zu besitzen. Sie sagt, sie könne durch das Miasma in der Luft Dinge vorhersagen. Natürlich ist sie seltsam. Aber irgendwas in mir hindert mich, mich völlig über ihr Gerede hinwegzusetzen. Bevor das Pferd durchging, hatte sie das Gefühl, daß etwas Schlimmes passieren würde. Und dann drehte das Pferd durch. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll.«
Schulman machte ein ernstes Gesicht. »Und diese Frau … ist sie schön, Akiva?«
Decker zog die Augenbrauen hoch. »Das ist sie wirklich.«
»Und sinnlich?«
»Ja.«
»Und verführerisch?«
»Sehr.« Decker beobachtete das Gesicht des alten Mannes. »Wissen Sie, von wem ich rede?«
»Nur theoretisch. Ich kenne sie aus der Bibel.« Schulman rückte seinen Hut gerade. »›Mechaschephah lo techajeh – eine Zauberin sollst du nicht am Leben lassen.‹ Nicht daß ich wünsche, daß ihr irgendwas zustößt. Ich bin erleichtert, daß ihr nichts passiert ist.«
»Das weiß ich, Rabbi.«
»Akiva, vielleicht entspringt die Sache mit den magischen Kräften nur dem Wunsch, etwas Besonderes zu sein, Aufmerksamkeit zu erregen.«
»Könnte schon sein. Allerdings hat sie nicht die Presse gerufen. Und sie könnte Presse bekommen, wenn sie wollte.« Decker trommelte mit den Fingern auf den Schreibtisch. »Rabbi, warum haben Sie gefragt, ob sie verführerisch ist?«
Schulman warf die Hände in die Luft. »Es ist nicht meine Aufgabe, Persönlichkeitsprofile zu erstellen.«
»Ich werd Sie auf nichts festlegen.«
»Nur damit wir uns einig sind, daß das, was ich sage, rein theoretisch ist.«
»Einverstanden.«
»Okay.« Schulman setzte sich aufrecht. »Wenn man als Rabbi von Leuten hört, die die Zukunft vorhersagen, denkt man an falsche Propheten und Zauberinnen. Das ist doch plausibel, oder?«
Decker nickte.
»Ich habe nach diesen besonderen Eigenschaften gefragt, weil sie typisch für die Zauberinnen und falschen Prophetinnen sind, von denen in unserer Geschichte berichtet wird. Viele von ihnen waren schön und verführerisch, weil es für sie am leichtesten war, Anhänger zu gewinnen. Sie verführten die Männer, gewannen sie für ihre gotteslästerliche Lebensweise, und schließlich folgten dann die armen Frauen und Töchter, die nicht im Stich gelassen werden wollten, den Männern. Viele Männer fielen diesen Lockungen zum Opfer und gaben sich einem Leben voller Götzenverehrung und sexueller Verderbtheit hin. In ihrem krankhaften Neid auf Haschem und seine wahre Macht taten diese sogenannten Prophetinnen alles, um die Juden dazu bringen, von der Torah abzulassen. Deshalb sieht die Bibel eine so harte Strafe für sie vor.«
»Die Torah tritt aber doch auch nicht dafür ein, Prostituierte umzubringen, und die sind ja wohl ziemlich lasterhaft«, sagte Decker. »Warum dann diese Härte gegenüber einer Verführerin?«
»Zauberin, nicht Verführerin, Akiva. Aber es ist trotzdem eine gute Frage. Wir haben da eine Frau, die Probleme hervorruft – die eine lockere Moral hat und die falschen Dinge predigt, die schwarze Magie betreibt –, warum sollte man nicht einfach eine andere Art der Strafe anwenden? Vielleicht ein kräftiges Auspeitschen oder sogar Verbannung? Warum den Tod?«
Schulman streckte einen Finger in die Luft.
»Warum? Ich werde Ihnen sagen, warum. Weil sexuelle Lasterhaftigkeit nicht das einzige Problem bei den falschen Prophetinnen war. Ihre heidnischen Rituale waren barbarisch, Akiva. Häufig beinhalteten sie Menschenopfer und das Töten von Neugeborenen als Gabe an ihre Götzen. Wenn die Heiden ihre Opfer nicht sofort töteten, fügten sie ihnen oft tödliche Verstümmelungen zu, wie Kastration, Entfernen der inneren Organe oder Amputation. Ganz zu schweigen von entsetzlichen Tierquälereien. Wenn die Moral erst mal so stark beschädigt ist, bleibt die Ethik für immer auf der Strecke. Diese hedonistischen Rituale stehen nicht nur in absolutem Widerspruch zur Torah, sondern auch zu den Noachidischen Gesetzen.« Dem alten Mann trat ein Funkeln in die Augen. »Als da sind …«
Decker lächelte.
»Ich kann eben aus meiner Lehrerrolle nicht heraus, Akiva«, sagte Schulman. »Zählen Sie sie für mich auf.«
Decker nannte die sieben Gesetze – die sechs Verbote gegen Blasphemie, Götzenverehrung, Mord, Ehebruch, Diebstahl und gegen das Essen und Trinken von Blut lebender Tiere sowie das Gebot, ein Rechtssystem zu schaffen. Gesetze, durch göttliche Offenbarung nach der Sintflut an die Menschheit übermittelt.
»Sehr gut«, sagte Schulman. »Die Kommentare lehren uns, daß man nicht unbedingt Jude sein muß, um an der künftigen Welt teilzuhaben. Aber man muß die Noachidischen Gesetze befolgen. Deshalb stellen die anderen Religionen keine Beleidigung gegen Haschem dar – ganz im Gegenteil. Es gibt einen Platz für alle rechtschaffenen Menschen. Aber nicht für Heiden, die foltern.«
Decker dachte einen Augenblick über die Noachidischen Gesetze nach.
»Wissen Sie, Rabbi, mir geht gerade durch den Kopf, daß diese Gesetze das polare Gegenstück zur Teufelsanbetung sind. Anhänger des Satanskults müssen ihre Regeln formuliert haben, indem sie die Antithese der Noachidischen Gesetze gebildet haben.« Er lachte. »Nicht gerade eine welterschütternde Beobachtung.«
»Aber eine richtige, Akiva. Satan ist das polare Gegenteil von Haschem. Ist Ihre verführerische Lady zufälligerweise eine Anhängerin des Satanskults?«
»Dafür gibt es keine Anzeichen, aber genau wissen tue ich es nicht. Vielleicht gehört sie tatsächlich irgendeinem verrückten Kult an, und irgendein Wahnsinniger will aus ihr ein Menschenopfer machen. Das halte ich allerdings für weit hergeholt. Trotzdem …«
»Darf ich, während Sie Ihren kühnen Spekulationen anhängen, noch etwas anderes zu bedenken geben?«
»Aber sicher.«
»Vielleicht hat irgendein verblendetes Hirn die biblischen Worte ›Laßt keine Zauberin leben‹ wörtlich genommen. Vielleicht gibt es irgendeinen durchgedrehten Fanatiker, den sie kennt und der Stimmen hört, die ihm befehlen, eine furchtbare Tat zu begehen – oder irgendeine durchgedrehte Fanatikerin.«
Decker ging die Verdächtigen durch. Keiner von ihnen erschien ihm geisteskrank. Aber wie sollte man wissen, was die sich insgeheim zurechtspannen.
»Das wäre nicht das erste Mal, Rabbi. Ich werde darüber nachdenken.«
Schulman strich über seinen Bart und nickte ernst. »Akiva, ich weiß, daß Sie eine gewisse Verantwortung den Leuten gegenüber haben, deren Fall Sie bearbeiten. Ich möchte ja nichts gegen diese Lady sagen. Ich kenne sie noch nicht einmal. Aber falsche Prophetinnen sind heimtückisch. Nehmen Sie sich in acht – sowohl physisch als auch psychisch.«
»Ich nehme mich bei der Arbeit immer in acht, Rabbi.«
Schulman tätschelte Deckers Hand. »Das ist gut.« Dann hielt er nachdenklich inne. »Diese merkwürdige Sache mit den Kristallkugeln, Akiva. Was machen die Leute damit? Sprechen sie zu ihnen und warten auf eine Antwort? Oder halten sie sie in die Sonne, um ihr Gesicht zu bräunen? Was machen die damit?«
»Ich bin zwar kein Fachmann für Kristallkugeln, Rav Schulman, aber ich glaube, die werden benutzt, um Kontakt mit den Toten aufzunehmen.«
Der alte Mann schüttelte mißbilligend den Kopf. »Diese Faszination für den Tod werd ich nie begreifen.«
»Wir müssen alle sterben.«
»Ja, das stimmt, aber erstmal leben wir. Die Leute sollten sich darauf konzentrieren, ihr Leben zu verbessern, statt herauszukriegen versuchen, was auf der anderen Seite ist. Wenn sie ihr Leben rechtschaffen führen, haben sie nichts zu befürchten. Boruch Haschem, daß ich’s bis hierher geschafft habe. Nun könnte man allerdings sagen, daß ich bereits mit einem Fuß im Grabe stehe …«
»Rabbi …«
»Nicht daß ich bereit bin zu sterben.« Der alte Mann stand auf und holte zwei Schnapsgläser. »Aber wenn es passiert, dann passiert’s. Leute, die den Tod fürchten, haben keine Ehrfurcht vor Gott. Außerdem, Akiva, was lehren uns die Weisen über die Torah?«
»Daß sie für die Lebenden bestimmt ist, und nicht für die Toten.«
»Richtig!« Schulman schenkte Whisky in die Gläser und gab eins Decker. »So, mein Freund, laßt uns leben und lernen und mitzwot tun, wie Haschem uns geheißen.« Er hielt sein Glas hoch. »Zum Wohl – lechaim.«
»Lechaim«, sagte Decker.
Der Rabbi trank seinen Whisky mit einem Schluck aus. Decker wunderte sich immer wieder, wie der Rabbi Schnaps trinken konnte, ohne daß ihm die Flammen aus dem Hals schlugen. Er warf einen verstohlenen Seitenblick auf den Rav und sah, wie dieser sich zufrieden die Lippen leckte. Was für eine Bereicherung, diesen Mann zu kennen – dieses über siebzigjährige Bündel von Energie, Geist und Humor. Beruhigend zu wissen, daß die Guten nicht immer jung starben.
Das penetrante Klopfen weckte Decker als ersten, doch kurz darauf saß auch Rina aufrecht im Bett, eine Hand auf ihre Brust gedrückt.
»Wer ist das?« fragte sie atemlos.
Decker fluchte leise vor sich hin und zog seinen Bademantel über. »Bleib hier, Rina.«
Das Klopfen wurde noch lauter. Dann fing der Hund an zu bellen.
»Willst du deine Waffe?« flüsterte Rina.
Decker schob sich die Haare aus den Augen. »Nein.«
Als er ins Wohnzimmer kam, erbebte die Haustür bereits unter heftigem Hämmern. Ginger hatte an der Tür Wachposten bezogen. Decker rief: »Einen Moment«, beruhigte die Setterhündin und guckte durch den Spion. Das hätte er sich sparen können, denn ein inneres Gefühl hatte ihm bereits gesagt, wer das war. Er band den Gürtel seines Bademantels zu, löste das Sicherheitsschloß und öffnete schwungvoll die Tür.
Lilahs Gesicht war rot und von Wut und Angst verzerrt. Feuchte Tränenspuren liefen ihr die Wangen hinunter. Sie fuchtelte wild mit den Armen, versuchte ihn zu schlagen und gleichzeitig festzuhalten. Trotz aller Hysterie hatte sie sich die Zeit genommen, sich richtig anzuziehen. Sie trug eine mit Rheinkieseln besetzte Jeans und ein weißes T-Shirt, darüber einen schwarzen Blazer mit Pailettenkragen. Ihre Füße steckten in schwarzen Cowboystiefeln aus Straußenleder, komplett mit Sporen. Decker hielt ein wachsames Auge darauf.
»Wie können Sie es wagen, einfach Ihre Telefonnummer ändern zu lassen, nach dem, was gestern passiert ist! Was fällt Ihnen ein! Wie konnten Sie nur!«
Ginger fletschte die Zähne und fing an zu knurren. Decker gelang es, sie zu beruhigen, bei Lilah war er damit allerdings weniger erfolgreich.
»Wie konnten Sie nur, Peter! Sie wissen doch, wie sehr ich mich auf Sie verlasse, wie sehr ich Sie brauche!« Sie hämmerte gegen seine Brust. »Wie konnten Sie! Wie konnten Sie!«
Decker ging einen Schritt zurück. Ginger fing wieder an zu knurren. Decker packte den Hund am Halsband und sagte: »Lilah, beruhigen Sie sich …«
Mit ihren spitzen Fingernägeln schlug sie nach seinem Gesicht. Decker erwischte ihr Handgelenk, bevor sie ihm die Wange aufkratzen konnte, und schaffte es auch noch irgendwie zu verhindern, daß Ginger Lilah ins Bein biß. Lilah versuchte, seine Hand abzuschütteln, wand sich heftig und fauchte wie eine gefangene Kobra.
»Ich hasse dich!« kreischte Lilah. »Ich hasse dich, du Mistkerl! Ich hasse dich, ich hasse dich!«
Die Frau war zwar zierlich und schlank, wußte sich aber zu wehren. Decker geriet richtig ins Schwitzen bei dem Versuch, sie in Schach zu halten, ohne ihr weh zu tun. Dabei hätte er ihr am liebsten eine runtergehauen. Aus den Augenwinkeln entdeckte er Rina, die die Arme um den Oberkörper geschlungen hatte und sie mit den Händen rieb. In ihren weißen Sachen und mit dem blassen Gesicht hätte sie ein Phantom sein können – oder ein Engel bloß daß ihre Augen wachsam waren und Tatendurst verrieten.
»Ruf auf der Wache an«, sagte er.
»Sie Schwein!« schrie Lilah.
»Ruf die Polizei«, wiederholte Decker.
»Wie konnten Sie …«
»Ruf die Polizei, Rina«, sagte Decker in befehlendem Ton.
Es war, als ob Lilah endlich seine Worte begriff. »Warten Sie!« Sie hörte auf, sich zu wehren, und ließ ihre Arme locker. »Warten Sie, tun Sie das nicht!«
Einen Augenblick passierte gar nichts. Dann rief eine zaghafte Stimme: »Mommy?«
»Es ist alles in Ordnung«, antwortete Rina. »Alles okay, ich bin gleich da.« Ihr Blick war auf Peter gerichtet. »Was soll ich tun?«
Lilah fuhr zu ihr herum. »Wenn Sie schon hier rumstehen, können Sie uns auch einen Kaffee machen!«
Decker ließ Lilahs Arme los. Seine Augen sprühten plötzlich vor Zorn. »Unterstehen Sie sich, so mit ihr zu reden.«
»Peter …«, sagte Rina.
»Sie ist keine von Ihren Dienstboten, Lilah, wagen Sie das nicht noch einmal!«
Diesmal wich Lilah zurück.
»Sie wohnt hier, haben Sie das verstanden, Miss Brecht?« Kochend vor Wut, ging Decker auf sie zu und baute sich drohend vor ihr auf. »Das ist ihr Haus, ihr Wohnzimmer, und Sie haben sie um drei Uhr morgens aus dem Schlaf gerissen!«
»Peter …«
»Mädchen, wenn Sie Kaffee wollen, dann gehn Sie nach Hause und machen ihn sich verdammt noch mal selbst!«
»Peter!« Rina hatte ihn am Arm gepackt. »Peter, ruf doch vom Schlafzimmer aus Marge an.«
Keuchend wurde Decker plötzlich bewußt, daß er Lilah in eine Ecke gedrängt hatte. Er ging einen Schritt zurück und öffnete seine geballten Fäuste. Es dauerte einen Augenblick, bis er wieder klar denken konnte. Dann wandte er sich an Rina.
»Tut mir leid.«
Rina lächelte schwach und küßte ihn auf die Wange. »Geh und ruf Marge an.«
Decker trat einen weiteren Schritt zurück und rieb sich mit einer Hand durchs Gesicht. »Okay.« Er spürte, wie sich sein Atem wieder normalisierte. »Okay.« Er küßte Rina auf die Stirn und steuerte auf das Schlafzimmer zu.
»Peter?« rief Rina.
Decker drehte sich um.
»Sieh doch bitte mal nach den Jungs.«
Decker nickte und ging hinaus. Rina wandte den Blick zu Lilah, die immer noch in der Ecke kauerte, die Arme schützend um den Oberkörper geschlungen. Doch ihr Gesichtsausdruck war sonderbar; wie ein kleines Mädchen, das unartig gewesen war, verängstigt, aber trotzdem mit sich zufrieden. Ganz langsam verzogen sich Lilahs Lippen zu einem vagen Lächeln.
»Er war echt wütend, was?«
Rina bemerkte das lüsterne Timbre in Lilahs Stimme. Aber vielleicht reagierte sie auch nur so heftig darauf, weil die Frau so schön war. »Setzen Sie sich an den Eßtisch«, sagte sie. »Ich mach Ihnen einen Kaffee.«
Schweigen.
»Kommen Sie.« Rina deutete mit ihrem Arm zum Tisch. »Setzen Sie sich.«
»Sie müssen mich für verrückt halten.«
Lilah hatte Tränen in den Augen. »Überhaupt nicht«, sagte Rina. »Kommen Sie.«
Lilah löste sich aus der Ecke und ging mit winzigen Schritten zum Tisch. Rina eilte schnurstracks in die Küche. Dort nahm sie den Kaffee aus dem Kühlschrank und goß Wasser in eine Glaskanne. Plötzlich spürte sie, daß jemand hinter ihr stand, und wußte, daß Lilah ihr gefolgt war.
»Wird er immer so wütend?«
Rina schüttete das Wasser in die Kaffeemaschine. »Warum setzen Sie sich nicht an den Küchentisch?«
»Es tut mir sehr leid«, flüsterte Lilah. »Es ist bloß …« Sie setzte sich an den Küchentisch. »Schwarzer Kaffee ist okay. Es tut mir leid.«
Rina mußte plötzlich daran denken, was Lilah durchgemacht hatte, und lenkte ein. »Schon gut. Tut mir sehr leid, was da gestern passiert ist. Ich bin froh, daß Ihnen nichts zugestoßen ist.«
»Das wär sicher anders, wenn Ihr Mann nicht dabeigewesen wäre.«
Rina nickte.
»Er ist ein phantastischer Reiter.«
»Ja, das ist er«, antwortete Rina.
»Ich hätte nichts dagegen, noch mal mit ihm zu reiten.« Lilah legte ihre Finger auf die Lippen. »Ich meine …« Lilah lachte. »Ich weiß nicht, was ich rede. Verzeihen Sie mir bitte.«
»Machen Sie sich keine Gedanken deswegen. Der Kaffee ist gleich fertig.«
»Danke.«
Rina fiel auf, daß Lilahs Stimme dunkel und sexy geworden war. In der nächtlichen Stille wirkte sie unglaublich verführerisch.
»Ich bin nicht einfach nur gekommen, um Peter aufzuscheuchen«, sagte Lilah. »Ich muß unbedingt mit ihm reden. Normalerweise kann ich sehr gut mit Streß umgehen, aber …« Ihre Augen wurden feucht. »Aber wie viel …«
Nun flossen die Tränen in Strömen, doch Rina hatte den Eindruck, daß sie ein Lächeln im Gesicht hatte.
»Wie viel kann ein einzelner Mensch ertragen?« sagte Rina.
»Genau!« Lilah wischte sich die Augen.
Rina nahm die Kaffeekanne und sagte: »Ich hab Koffeinfreien gemacht, falls noch jemand an Schlaf denken sollte.«
Lilah blickte auf und kniff die Augen zusammen. »Sie sind ja schwanger!«
Rina nickte und schenkte zwei Tassen Kaffee ein. Das Telefon klingelte. Doch Peter nahm vor ihr ab. Lilah starrte auf die Tasse, die vor ihr stand.
»Ist das natürlich entkoffeinierter Kaffee?«
»Ja.«
Lilah trank einen Schluck, dann wurde ihr Blick plötzlich ganz hart. »Ist es Ihr erstes – nein, das kann ja nicht sein, wenn Sie Peter gebeten haben, nach den Jungs zu sehen. Wie viele Kinder haben Sie denn?« Sie kniff erneut die Augen zusammen. »Sie sind viel jünger als er. Wie alt sind Sie?«
»Entschuldigen Sie mich bitte einen Augenblick«, sagte Rina.
Sie wollte gerade ins Schlafzimmer gehen, als Peter herauskam.
»Dieses ganze Theater tut mir echt leid«, flüsterte er.
»Mit den Jungs alles okay?«
»Yeah, sie warten nur, daß du Ihnen noch mal einen Gutenachtkuß gibst. Rina, es tut mir wirklich leid …«
»Mach dir keine Gedanken deswegen, Peter. Sie hat sich etwas beruhigt. Behauptet, sie müsse unbedingt mit dir reden. Laß sie es sich von der Seele reden, und dann sieh zu, daß du sie los wirst.« Sie hielt inne. »Aber sei nicht zu hart. Sie hat eine Menge durchgemacht.«
Decker dachte über das nach, was Lilah durchgemacht hatte. Ihre extreme Wut könnte eine verzögerte Reaktion auf die Vergewaltigung sein. Sie hatte eine Wut auf Männer und ließ das an ihm aus. Wenn es tatsächlich so war, dann war das der krasseste Fall von Übertragung, den er je erlebt hatte. Doch Lilahs Verhalten schien sich jeder vernünftigen Erklärung zu widersetzen. Könnte es vielleicht sein, daß die Frau schon vorher übergeschnappt war und die Vergewaltigung sie vollends in den Wahnsinn getrieben hatte? Was auch immer der Grund für alles war, er würde dieser Tussi auf keinen Fall erlauben, sich an Rina abzureagieren.
»Du bist wunderbar, Rina. Die allerbeste!«
Sie schüttelte wissend mit dem Kopf. »Das ist wahr.«
»Ich hab Marge angerufen«, sagte Decker. »Und Lilahs Bruder. Er kommt sie abholen.« Er steckte die Hände in die Hosentaschen. »Gib den Jungs einen Kuß, und dann geh wieder schlafen.«
»Schlafen?« Rina lachte.
»Na ja, zumindest ausruhen.«
Lächelnd nahm Rina zur Kenntnis, daß Peter sich umgezogen hatte. Sie begutachtete seinen Aufzug – eine locker sitzende Jeans, Arbeitshemd und Turnschuhe. Bequem, aber kein bißchen aufreizend. Das war ganz in ihrem Sinne.