29
Nachdem sie halbwegs frische Sachen angezogen hatte, war Marge bereit, sich in die Arbeit zu stürzen. Der Krankenwagen hatte Lilah in ein städtisches Krankenhaus gebracht, doch wie die Stationsschwester mit beleidigter Stimme erklärte, sollte Miss Brecht in Kürze in eine private Einrichtung verlegt werden. Marge fand das Zimmer und stellte erfreut fest, daß die Tür aufstand. Das nahm sie als Einladung, unaufgefordert einzutreten.
Drinnen spielte Freddy Brecht den Oberaufseher und schirmte seine Schwester so rigoros ab wie eine Palastwache. Freddy verwehrte ihr nicht nur den Zugang zum Bett, sondern ließ Marge noch nicht mal einen Blick auf Lilah werfen.
»Sie ist nicht in der Lage, irgendwen zu empfangen, Detective«, sagte Brecht in abgehacktem Ton. »Wenn Sie also freundlicherweise …«
»Ist schon okay, Freddy.« Eine kreidebleiche Lilah guckte über die Schultern ihres Bruders und sank wieder auf ihr Kissen. »Laß mich mit ihr reden.«
Brecht fuhr zu seiner Schwester herum, »Lilah, du bist nicht in der Verfassung …«
»Freddy, ich weiß, daß du es gut meinst, aber du nervst. Geh und laß mich mit ihr reden.«
Brecht schwieg. Seine Wangen und sein kahler Schädel glühten rosa. »Du mußt ja nicht gleich grob werden, Lilah.«
»Freddy, ich bin nicht ganz ich selbst. Stell dich nicht so an.«
Brecht wurde noch röter. »Weißt du eigentlich, Lilah, daß du dich immer mehr wie Mutter anhörst?«
»ja, das weiß ich, und es stört mich. Aber wir haben uns schließlich nicht selbst gemacht, oder? Und jetzt geh bitte.« Sie hob eine zarte Hand. »Laß mich allein mit ihr reden.«
Brecht ließ sich Zeit. »Zehn Minuten, Detective. Ungeachtet dessen, was sie sagt, sie braucht ihre Ruhe.«
Marge wartete, bis Brecht den Flur hinuntergegangen war, bevor sie die Tür schloß. Der Streß der vergangenen Tage hatte Lilahs Gesicht etwas von seiner Jugendlichkeit genommen. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre blauen Augen ohne jeden Glanz. Marge schob ihr Mitgefühl beiseite, während sie sich einen Stuhl ans Bett zog.
»Ich hatte gehofft, es wäre Peter.« Lilahs Stimme klang resigniert. »Gehofft, aber nicht erwartet.«
Marge ließ ihr einen Augenblick Zeit, dann fragte sie: »Wie fühlen Sie sich?«
»Eines kann ich Ihnen sagen.« Sie richtete sich auf.
»Fredericks ständige Anwesenheit ist nervig, aber zumindest hat er den Anstand, sich blicken zu lassen. Im Gegensatz zu anderen Familienmitgliedern.«
»Ihre Mutter?«
»Wer sonst?«
»Vielleicht weiß sie nichts davon.«
»Sie weiß es, aber es kümmert sie nicht. Vielleicht ist sie zu sehr damit beschäftigt, der Polizei aus dem Weg zu gehen, und fährt ständig zwischen Malibu und der Beauty-Farm hin und her. Man munkelt, sie hat bereits einen neuen Fahrer gefunden, nachdem sie Russ ausgeschaltet hat.«
Marge zog ihr Notizbuch hervor. »Woher wissen Sie, daß sie Russ ausgeschaltet hat?«
»Ich weiß es nicht. Aber wer sonst hätte Russ rüberschicken sollen, um Kingston zu töten?«
»Sie glauben, Ihre Mutter hat Russ geschickt, um Ihren Bruder zu töten?«
»Ist doch egal, was ich denke.« Ihre Augen wurden feucht, dann flossen die Tränen. »King ist fort, und ganz gleich, was ich davon halte, das wird ihn nicht zurückbringen.«
Sie hielt die Hände vors Gesicht und weinte bitterlich. Marge wartete ab, den Stift zum Schreiben gezückt. Nach etwa einer Minute wischte Lilah sich die Tränen ab und ließ den Kopf auf das Kissen sinken.
»Es ist merkwürdig … King und ich hatten so lange keinen Kontakt miteinander. Er war so dominant, aber …« Ihre Stimme versagte. »Aber tief im Inneren wußte ich, das war nur, weil ihm an mir lag. Gestern, als er mich anrief, hat er so tröstende Worte gesagt …« Sie drehte sich zur Wand.
»Worüber haben Sie und Kingston gestern gesprochen?«
Lilah schüttelte den Kopf und fing an zu weinen.
»Warum haben Sie die Tabletten genommen, Lilah?« sagte Marge ganz sanft.
»Ich weiß nicht … ich fühlte mich so … schuldig wegen Kings Tod … und gleichzeitig auch wütend. Impulsives Handeln ist oft unüberlegt. Das war nicht die erste Dummheit, die ich begangen hab, und sicher auch nicht die letzte.«
»Wie die Laken von Carl Totes mitzunehmen?« sagte Marge.
Lilah fuhr mit dem Kopf hoch. »Er hat’s Ihnen erzählt?«
Marge schwieg. Lilah fing schallend an zu lachen. »Da bin ich ja wohl in die Falle getappt! Nein, Carl würde niemals …«
Sie lachte wieder. »Carl doch nicht. Der würde eher ewig im Gefängnis sitzen als …«
»Als euer kleines Geheimnis zu enthüllen?« fragte Marge.
»So ähnlich.«
»Warum haben Sie ihm das angehängt?«
»Wer sagt denn, daß ich das getan habe, Detective?«
»Carl wird wegen Vergewaltigung vor Gericht gestellt, Lilah. Hat er das verdient?«
Lilah ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. »Das … das war auch nicht gut durchdacht. Es … ich …«
»Warum haben Sie es getan, Lilah? Warum haben Sie eine Vergewaltigung vorgetäuscht?«
Lilah antwortete nicht.
»Wir werden diesem ganzen Schlamassel auf den Grund gehen, Lilah«, sagte Marge. »Helfen Sie uns. Das spart uns viel Zeit und Energie, so daß wir uns darauf konzentrieren können, wer Ihren Bruder umgebracht hat und warum.«
»Ich hab nichts mit Kings Tod zu tun!« beharrte Lilah. »Ich will, daß Sie das wissen.«
»Reden Sie weiter.«
Lilah zwirbelte an einer Haarsträhne. »Ich erzähle Ihnen nur deshalb meinen Teil, weil mir an Carl liegt … und an meinem Bruder.«
Marge nickte ermunternd.
»Nachdem Freddy mich nach unserem wöchentlichen Abendessen abgesetzt hatte«, begann Lilah, »wußte ich sofort, daß sich jemand an meinem Safe zu schaffen gemacht hatte. Ich kleb immer ein kleines Stück Tesafilm über die Tür. Als ich ins Schlafzimmer ging und sah, daß es weg war, hab ich sofort den Safe geöffnet – den inneren Safe. Die Memoiren waren verschwunden! Wenn ich gewußt hätte, daß Kingston in die Sache verwickelt war, hätte ich diese Vergewaltigungsgeschichte nicht inszeniert.«
Marge richtete sich auf. »Woher wissen Sie denn, daß Kingston damit zu tun hatte?«
»Als er mich anrief, deutete er an, er hätte etwas, das mir gehört … daß Mutter ihn darauf angesetzt hätte. Wenn wir uns zum Essen treffen würden, würde er mir mehr erzählen.«
Lilah drückte eine Faust auf den Mund, dann ließ sie die Hand auf den Schoß sinken.
»Doch an jenem Abend, als ich vor dem Safe stand, da wußte ich nur, daß Mutter es irgendwie geschafft hatte, endlich meine Memoiren in die Finger zu kriegen. Die ließen ihr schon seit Monaten keine Ruhe, obwohl sie versucht hat, es zu verbergen. Ich weiß nicht, was da in den Memoiren steht, worüber sie sich so aufregt. Wie ich bereits sagte, habe ich den Wunsch meines Vaters respektiert und sie noch nicht gelesen.«
Lilahs Nasenlöcher blähten sich plötzlich vor Zorn.
»Mutter hat sie mir weggenommen, und das ist wirklich unverzeihlich. Sie gehörten mir! Nicht ihr! Mir! Ich mußte etwas tun! Das verstehen Sie doch, oder?«
Marge blieb teilnahmslos.
Lilah fuhr fort: »Also stürmte ich aus dem Haus und bin spät in der Nacht über das Grundstück gejoggt! Ganz langsam … dabei kann ich am besten denken. Mutter zur Rede zu stellen wäre sinnlos gewesen. Sie ist eine großartige Schauspielerin und kann so schnell lügen, wie sie atmet. Ich mußte die Polizei hinzuziehen. Und ich mußte sichergehen, daß der Polizei genauso viel daran liegt, die Memoiren wiederzufinden, wie mir.« Sie zog ihren Krankenhausmorgenrock fest um sich. »Als ich am Stall vorbeijoggte, hörte ich Carl …« Sie senkte den Blick. »Ich hatte ihn schon häufiger gehört. Ich wußte, was er tat. Er … spielte an sich herum … und dachte dabei an mich.«
Tränen traten Lilah in die Augen.
»Er ist in mich verliebt, er hat ein Foto von mir …« Sie sah Marge an. »Ich wollte ihm nicht weh tun. Ich war einfach so wütend auf Mutter, daß ich nicht klar denken konnte. Also hab ich gewartet, bis er fertig war, dann bin ich reingegangen und hab seine Laken und Handtücher mitgenommen.«
»War er nicht mißtrauisch, daß Sie ihn mitten in der Nacht besuchten?«
»Es war nicht mitten in der Nacht. Es war gegen elf. Und er war nicht mißtrauisch. Ich hab zu ihm gesagt, ich hätte ihm saubere Laken und Handtücher mitgebracht. Er hat sich gefreut, mehr als das, er war außer sich. Selbst die kleinste Aufmerksamkeit, die ich Carl schenke, stößt auf echte und unverhohlene Dankbarkeit. Also hab ich ihm Laken und Handtücher gewechselt und ihm gesagt, er solle niemandem von meinem Besuch erzählen. Es würde Leute, die eine schmutzige Phantasie haben, auf dumme Gedanken bringen. Das hat er verstanden.«
»Sie haben also nicht mit ihm geschlafen?«
Lilahs Nasenlöcher blähten sich erneut. »Schon der Gedanke daran ist widerwärtig.«
Was Lilah sagte, stimmte mit dem überein, was Marge und Decker in Totes’ Stall aufgefallen war. Marge erinnerte sich, wie Decker bemerkte, daß die Laken im Stall sauber waren. »Was haben Sie dann gemacht?«
»Was ich gemacht hab?« Lilah versuchte durch Blinzeln die Tränen aufzuhalten. »Ich … hab’ beschlossen, der Polizei eine richtige Aufgabe zu stellen. Zunächst hab’ ich mein Zimmer systematisch verwüstet. Das fiel mir nicht schwer, weil ich wütend war. Gegen Morgen kam mir dann der Gedanke, daß ich etwas mit mir anstellen müßte, damit das Verbrechen realistisch aussieht. Also hab ich mich … an besonders wirkungsvollen Stellen geschlagen … oder eher gekniffen. Ich bin sehr hellhäutig und krieg leicht blaue Flecken. Was nicht geschwollen genug – übel genug – aussah, hab ich gezielt mit einem Adstringens behandelt – einem speziellen Ätzmittel, das wir in der Beauty-Farm bei Gästen mit Hautproblemen verwenden.« Sie rümpfte die Nase. »Dann hab ich, kurz bevor Mercedes auftauchen würde, eine eiskalte Dusche genommen, um meine Körpertemperatur herunterzusetzen. Dann kam das Hausmädchen … den Rest kennen Sie.«
»Und die Sache mit dem Pferd?«
»Also, das war wirklich dämlich! Ich hab Apollo geliebt. Ich war untröstlich, als er starb.«
»Sie haben ihm zu viel PCP gegeben?«
»Nein, ich war sehr vorsichtig. Apollo muß irgendwie komisch darauf reagiert haben. Wenn ich früher schon mal einem Pferd PCP gegeben hab, ist es einfach eingeschlafen. Ich geb meinen Pferden ständig Beruhigungsmittel, zum Beispiel wenn ich Ihnen die Zähne poliere oder sonst was an ihnen mache. Ich war schockiert … hatte furchtbare Angst. Wenn Peter mich nicht gerettet hätte, wäre ich jetzt tot.«
»Lilah, warum hielten Sie es überhaupt für notwendig, ein Verbrechen vorzutäuschen?« fragte Marge. »Sie hatten doch eins – den Einbruchsdiebstahl. Warum haben Sie den nicht einfach gemeldet?«
»Warum?« Lilah lachte verhalten. »Detective, was für eine Brisanz hätte für Sie … oder Peter … oder sonst wen von der Polizei der Diebstahl einiger alter Papiere gehabt? Aber eine Vergewaltigung … und dazu noch eine Vergewaltigung, bei der Schmuck gestohlen wurde … da lohnte es sich doch nachzuforschen. Und ich hatte gehofft, wenn Sie einmal angefangen hätten, würden Sie solange ermitteln, bis Sie auch die Memoiren gefunden hätten.«
Sie zuckte die Achseln.
»Also hab ich mir meine kleine Täuschung ausgedacht. Na und? Sie tun genau das, was ich mir vorgestellt habe. Der Fall hat eine Eigendynamik entwickelt. Was Apollo betrifft … das hab’ ich gemacht, um sicherzugehen, daß der Fall nicht stagniert, daß er vorangetrieben wird. Damit Peter mir glaubt, als ich ihm sagte, daß es jemand auf mich abgesehen hat … und er hat mir geglaubt.«
»Allerdings haben wir die Memoiren immer noch nicht gefunden, Lilah.«
»Aber jetzt werden Sie doch ganz bestimmt nach ihnen suchen.«
Marge antwortete nicht. Sie wußte, daß Lilah absolut recht hatte. Der Fall hatte eine Eigendynamik entwickelt. Und sie hatte die Polizei richtig eingeschätzt. Bei den ganzen Gewaltverbrechen, die die Straßen heimsuchten, hätte sich niemand sonderlich um verloren gegangene alte Memoiren geschert. Die Frau war zwar keine Prophetin, aber sie war sehr clever.
»Wer hat Ihren Bruder umgebracht?« fragte Marge.
»Sprechen Sie mit Mutter. Kingston hat angedeutet, daß sie mit dem Diebstahl zu tun hätte. Ich bin sicher, daß sie auch mit dem Mord an ihm zu tun hat.«
»Wer könnte noch in die Sache verwickelt sein?«
»Mutter hat sich eine ansehnliche Gefolgschaft aufgebaut Michael, Kelley, sogar Freddy. Schließlich hat der mich in der Nacht, in der der Diebstahl passierte, ausgeführt. Jeder von ihnen ist für sie ein potentieller Laufbursche.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie derjenige in Ihren inneren Safe gelangen konnte?«
»Keinen Schimmer.« Lilah wirkte plötzlich verlegen. »Sie werden aber doch die Beschuldigungen gegen Carl fallen lassen, oder?«
»Ja.«
»Ich hab Ihnen schließlich gesagt, daß er unschuldig ist.«
Marge antwortete nicht.
»Werden Sie gegen mich Anklage erheben?«
»Das habe ich nicht zu entscheiden«, sagte Marge. »Ich fürchte, in Ihrem Bestreben, den Fall am Leben zu halten, haben Sie sich mehr geschadet als genutzt. Wir haben nach einem Vergewaltiger gesucht, wo wir eigentlich nach einem Dieb hätten suchen sollen.«
»Zumindest haben Sie überhaupt gesucht.« Lilah betrachtete ihre Hände, dann lächelte sie selbstgefällig. »Wär gar nicht so schlimm, wenn gegen mich Anklage erhoben wird. Im Gegenteil, die Publicity würde sich sehr vorteilhaft für die Beauty-Farm auswirken. Je berüchtigter, desto besser.« Sie beugte sich zu Marge und sagte flüsternd: »Die Reichen wühlen gern ein bißchen im Dreck!«
Marge klappte ihr Notizbuch zu und steckte den Stift in die Tasche. »Das war vermutlich nicht mein letzter Besuch.«
»Fragen Sie, was Sie wollen. Jetzt hab ich nichts mehr zu verbergen.«
»Dann lassen Sie mich noch folgendes fragen«, sagte Marge. »Wo ist der Schmuck Ihrer Mutter?«
Die blauen Augen wurden plötzlich hart vor Haß. »Keine Sorge, Detective. Den hab ich. Und ich geb ihn zurück, wenn es mir paßt.«
Das tut ja richtig weh, dachte Decker – ein Testarossa, der eher einer abstrakten Skulptur als einem Auto glich. Die ganze Beifahrerseite war ein riesiger Krater, bepinselt mit grauer Grundierung und blutrotem Lack. Die Tür wurde von einem Elektrokabel zugehalten. Die Schnauze war platt, beide Stoßstangen sozusagen nackt – Chrom und Zierleisten Fehlanzeige.
Goldin stand am Bordstein und beobachtete, wie Decker den Schrotthaufen anstarrte. Er stopfte sein T-Shirt in die Jeans und steckte die Hände in die Gesäßtaschen. »Sie sehen aus, als wollten Sie gleich einen Lobgesang anstimmen.«
»Wie können Sie den Wagen nur in diesem Zustand fahren?«
»Damit will ich was aussagen, Sergeant.«
»Was denn?« knurrte Decker. »Daß es spießig ist, etwas Schönes zu reparieren?«
»Eher daß ich mir die dreißigtausend Mäuse nicht leisten kann, um das Ding richtig in Ordnung zu bringen.«
»Machen Sie’s doch selber.«
»Ich?« Goldin lachte. »Ich kann einen Kühler nicht von einem Vergaser unterscheiden.«
»Testarossas haben keinen Vergaser.« Decker starrte beharrlich auf das Auto. »Sie haben einen Einspritzmotor.«
Goldin klopfte Decker auf den Rücken. »Es tut nur weh, wenn man hinsieht. Gehn wir. Greta erwartet uns.«
Decker mußte sich mit Gewalt von dem Ferrari losreißen und folgte Goldin eine leichte Steigung hinauf zum Eingang der Anlage. Der Apartmentkomplex war drei Blocks lang – lauter Bungalows, die im Schatten knorriger Bäume auf einem hügeligen Gelände standen. Dutzende gewundene Pfade liefen kreuz und quer über die Anhöhe, von denen zahlreiche offenbar in irgendwelchen Büschen endeten. Aber Goldin schien sich auszukennen.
Da das Wetter sonnig und warm war, waren viele Senioren draußen und besuchten ihre Nachbarn. Mollige Frauen tranken gemütlich ihren Eistee. Sie saßen mit gespreizten Knien auf Gartenstühlen, die Nylonstrümpfe bis zu den Knöcheln heruntergerollt, die Füße in weißen orthopädischen Schuhen. Alte Männer, deren Taille jetzt ausladender als ihre Schultern war, hielten grüne Schläuche in der Hand, mit denen sie den Rasen oder Blumenbeete sprengten. Man lachte und unterhielt sich. Das Ganze wirkte wie ein Rentnerdorf, bloß daß es mitten in teurem San-Fernando-Valley-Bauland lag.
»Ein echter Anachronismus«, sagte Goldin. »Ich weiß nicht, wem das ganze Land hier gehört, aber die sitzen auf einer Goldmine. Vielleicht jemandem, dem das Wohlergehen alter Leute wichtiger ist, als ein weiteres Bürogebäude zu errichten.«
Decker lächelte. »Das ist wunderbar optimistisch gedacht.«
»Yeah, so bin ich nun mal, ein ideologischer Querkopf. Ich geb’ nie auf. Greta wohnt hier um die Ecke.«
Er führte Decker zu einem Cottage, das erst kürzlich hellgelb mit weiß abgesetzten Streifen gestrichen worden war. Auf dem Briefkasten vor dem Haus stand G. MILLSTEIN. Ohne Zögern drehte Goldin den Türknauf und trat ein. Decker blieb im Eingang stehen.
Die Frau, die Goldin begrüßte, hatte ein breites, zahnloses Lächeln. Ihr Gesicht war verschrumpelt wie ein zerknülltes Blatt Papier. Sie hatte dünnes, weißes Haar. In ihren dunkelbraunen Augen war ein verschmitztes Funkeln. Sie trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab und drückte Goldin an ihren ausladenden Busen. Sie hatte eine melodische Stimme, und sprach mit einem deutschen Akzent.
»Du hast dich überhaupt nicht verändert, mein Freund!«
»Du brauchst eine Brille, Greta. Guck doch bloß mal, wie grau ich geworden bin.«
»Wenn du das grau nennst, Perry, brauchst du eine Brille.«
Sie nahm ihn am Arm und sah dann zu Decker. »Kommen Sie doch rein. Ich beiße nicht.« Sie schmatzte mit den Lippen.
»Keine Chähne.«
»Zähne«, übersetzte Perry.
»Sag ich doch. Setz dich, Perry. Sie auch. Wie heißen Sie, bitte?«
»Peter«, sagte Decker.
»Ah, Peter. Ich hab einen Schwiegersohn, der heißt Peter. Ein richtiger Schlawiner. Ich mag ihn nicht, aber meine Tochter. Sie ist glücklich. Sie haben vor zweiunddreißig Jahren geheiratet. Ich halt den Mund, und alle sind zufrieden.«
Sie verschwand in der Küche. Decker setzte sich auf eine verschossene grüne Samtcouch. Goldin versank so tief in einen armlosen Sessel, daß die Knie in einer Höhe mit dem Kopf waren. Im Wohnzimmer war es heiß, dunkel und stickig. Decker lockerte seine Krawatte. Wenige Minuten später kam Greta mit einem Teller voll Strudel, der mit Puderzucker bestäubt war, und drei Teetassen zurück. »Könntest du den Tee für mich holen, Perry?« Goldin stand auf und holte eine silberne Teekanne mit passendem Milchkännchen und Zuckerdose aus der Küche. Er stellte das Tablett auf den Tisch, dann zog er den Vorhang zurück und öffnete ein Fenster. Sofort vertrieb die heiße, von Blütenduft erfüllte Luft den schalen Geruch nach Alter.
»Du hast doch kein Beerdigungsinstitut, Greta«, sagte Perry. »Warum hast du es so stickig hier drin?«
»Ich hab manchmal Angst, Perry.« Sie schenkte den Tee ein. »Nachts laufen Leute hier herum. Leute, die ich nicht kenne. Ich höre Geräusche.« Sie hielt inne und rieb sich die Arme. »Da krieg’ ich’s mit der Angst.« Sie reichte Decker eine Tasse Tee.
»Was sind das für Leute?« fragte Decker. Greta zuckte die Achseln. »Ich guck nicht so genau hin. Hier gibt’s zwar Männer, die uns beschützen sollen, aber die sind nie da, wo die Geräusche sind. Aber …« Sie reichte Goldin eine Tasse Tee. »Es ist nicht so schlecht hier. Ich bleibe hier, bis ich sterbe.«
»Besuchen deine Kinder dich öfter?« fragte Goldin.
»O ja, die kommen ständig. Mary kommt einmal die Woche, Stephen kommt einmal die Woche, Elaine kommt ein- bis zweimal die Woche.« Greta wandte sich an Decker. »Das ist die, die mit Peter verheiratet ist.«
»Dem Schlawiner.«
»Aber ich sag kein Wort.«
Goldin lächelte. »Wenn ich dich zur Schwiegermutter gehabt hätte und nicht Davida, wäre ich vielleicht immer noch mit Lilah verheiratet.« Er verzog das Gesicht. »Eine sehr beunruhigende Vorstellung.«
»Wie geht es Lilah?«
Goldin deutete mit dem Daumen in Deckers Richtung. »Darüber weiß er mehr als ich.«
Greta sah Decker an, und der sagte: »Sie ist im Krankenhaus …«
Greta schnappte nach Luft und legte eine Hand auf ihre Brust.
»Es geht ihr aber gut«, fügte Decker rasch hinzu.
»Haben Sie nicht gesagt, Sie wär nicht mehr im Krankenhaus?« fragte Goldin.
»Das ist jetzt eine andere Geschichte.«
»Sie wurde vergewaltigt«, sagte Greta. »Perry hat mir davon erzählt. Was ist denn nun passiert?«
»Sie hat letzte Nacht einen Selbstmordversuch gemacht«, sagte Decker.
Greta schnappte erneut nach Luft.
»Es geht ihr schon wieder besser, Mrs. Millstein«, sagte Decker rasch. »Meine Partnerin ist gerade bei ihr. Wenn was Schlimmes wäre, hätte sie mich längst angepiepst.«
Es folgte ein längeres Schweigen.
»Warum?« fragte Goldin schließlich.
»Ich weiß es nicht«, sagte Decker.
»Ein Hilfeschrei?« fragte Goldin.
»Vielleicht«, sagte Decker.
Es wurde ganz still im Zimmer. Dann sagte Greta: »Glauben Sie, es war ein Hilfeschrei?«
»Ich glaube, Lilah ist ziemlich deprimiert«, sagte Decker. »Und wenn man deprimiert ist, tut man manchmal irrationale Dinge.«
»Sie hat also noch mehr schlimme Dinge erlebt?« sagte Greta.
Decker antwortete nicht.
»Ich habe ein starkes Herz«, sagte Greta. »Erzählen Sie’s uns.«
»Nun ja …« Decker räusperte sich und rutschte auf der Couch hin und her. Es half nicht. Er fühlte sich unbehaglich, und das hatte nichts mit der Couch zu tun. »Kingston Merritt wurde vor zwei Tagen ermordet …«
Goldin ließ die Teetasse auf den Schoß fallen, sprang auf und wischte an seiner Hose herum. Dabei fiel die Tasse samt Unterteller auf den Boden. Decker reichte ihm eine Serviette und hob das Porzellan auf.
»Gott, das tut mir leid, Greta. Jetzt hab ich Tee auf deinen Teppich geschüttet.«
»Macht nichts …«
»Wenigsten hab ich nichts kaputt gemacht.«
»Schon gut, Perry.« Die alte Frau tupfte mit ihrer Schürze vorsichtig an seinem nassen Hosenbein herum. »Ich kann verstehen, wie du dich fühlst. Mir ist auch ganz schlecht. Das ist ja furchtbar!«
Decker nickte. »Haben Sie sich verbrannt, Perry?«
»Nichts passiert«, sagte Goldin. »Ich muß mich nur von dem Schrecken erholen.«
»Und was ist mit Ihnen?« fragte Decker Greta.
»Ich werde zwar nicht sterben, aber allzu gut geht’s mir nicht. Es ist eine schlimme Nachricht für mich.« Ihre Augen wurden plötzlich feucht. »Es macht mich sehr traurig.«
Goldin nahm die Hand der alten Frau und streichelte sie.
Sie lächelte unter Tränen und sagte: »So traurig.«
»Hast du King gekannt, Greta?« fragte Goldin.
Sie trocknete sich die Augen mit einer Serviette. »Nur als Jungen. Ich hab für Davida gearbeitet, als sie in Deutschland lebte. Ich hab drei oder vier Jahre für sie gearbeitet. Dann ist Hermann gestorben, und Davida ist zurück nach Amerika gegangen. Damals war King ein unglücklicher Junge.«
»Als was haben Sie für Hermann und Davida gearbeitet?« fragte Decker.
»Nicht für Hermann, nur für Davida. Ich hab für Davida Kleider genäht … wie nennt man das auf Englisch?«
»Schneiderin«, sagte Perry.
»Ja, ich war Schneiderin. Ich hab’ gute Kleider gemacht.« Sie deutete auf ihre Stirn. »Ich hatte ein gutes Auge. Keiner konnte einen Unterschied feststellen – zwischen meinen Kleidern und denen aus Paris. Davida … sie hatte viel Geld und hätte sich die echten Kleider kaufen können. Aber sie hat gesagt, meine wären genauso gut.« Greta verzog den Mund wieder zu einem zahnlosen Lächeln. »Und das waren sie.«
Decker lächelte ebenfalls. »Das glaub ich Ihnen gern. Wie viele Kleider haben Sie für Davida genäht?«
»Sehr viele. Ich konnte schnell nähen, und meine Töchter haben mir geholfen. Viele Kleider, weil sie viele Parties gegeben hat. Davida kannte jeden. Sie war sehr nett für eine berühmte Frau – eine berühmte Amerikanerin! Die meisten Amerikaner glaubten, alle Deutschen wären Nazis.«
Plötzlich verhärtete sich ihr Blick, und ihre Haltung wurde starr. »Ich war kein Nazi. Während des Krieges hab ich die Tochter meiner jüdischen Freundin zu mir genommen und den Nazis erzählt, sie wär meine Nichte. Ich hab sie behalten und wie mein eigenes Kind aufgezogen. Als sie dann älter war, hab ich ihr gesagt, wer sie ist. Ich hatte für sie Fotos von ihren Eltern aufbewahrt. Ich liebe sie wie mein eigen Fleisch und Blut. Und ich hab nichts gesagt, als sie einen Schlawiner geheiratet hat. Ich bin kein Nazi!«
»Natürlich nicht, Greta.« Goldin stand auf. »Laß mich dir etwas Tee einschenken.«
»Das ist eine gute Idee, Perry. Du hast immer gute Ideen.« Sie setzte sich neben Decker auf die Couch. »Davida war anders als die meisten Amerikaner. Sie sprach ein bißchen Deutsch und hat große Parties gegeben und jeden eingeladen – große Leute, kleine Leute, mich, meine Kinder. Ich bin nur ein- oder zweimal dort gewesen … sehr viel zu essen und zu trinken – starkes Bier. Das war sehr, sehr luxuriös für uns. Die meisten Deutschen waren damals nach dem Krieg noch sehr arm.«
Goldin reichte Greta ihren Tee. »Das klingt aber nicht so, als hätte Davida dort gelitten.«
»Sie hat nicht gelitten, aber sie mochte Berlin nicht. Das hat sie mir ständig erzählt.«
»Warum hat sie dann dort gelebt?« fragte Goldin.
»Weil Westberlin Hermanns Heimat war. Es war keine gute Ehe. Davida liebte Parties, Hermann überhaupt nicht. Er stand immer allein herum und hat mit niemandem ein Wort gesprochen.«
Ihre Beschreibung von Hermann Brecht stimmte mit dem überein, was John Reed über die Party anläßlich von Lilahs Geburt erzählt hatte. Decker vergegenwärtigte sich Reeds Geschichte. Hermann als depressiver Säufer. Kein Wunder, daß es bei den Parties immer Starkbier gegeben hatte.
»Er haßte Parties.« Greta stellte ihre Teetasse auf den Couchtisch. »Er und Davida paßten nicht zusammen.«
»Haben Sie mitbekommen, daß sie sich stritten?« fragte Decker.
»Sie haben sich ständig gestritten.«
Die alte Frau stieß einen Seufzer aus. »Sie haben zwar meistens Englisch gesprochen, aber ich wußte, weshalb sie sich stritten. Weil Hermann immer hinter jungen Mädchen her war. Warum sollte er auch nicht hinter jungen Mädchen her sein? Er war selbst noch jung – ein- oder zweiundzwanzig, als sie geheiratet haben. Davida war zu alt für ihn. Sie hätte ihn gehen lassen sollen.« Sie begann ihre Hände zu kneten. »Sie hätte ihn gehen lassen sollen.«
»Wollte er denn die Scheidung?« fragte Decker.
Greta schüttelte den Kopf. »Davida hatte das ganze Geld, also konnte Hermann sich nicht scheiden lassen. Davida hat Hermann viel Geld gegeben, damit er seine Filme machen konnte. Ach …« Greta machte eine wegwerfende Handbewegung. »Für Hermann waren nur seine Filme wichtig. Dummkopf!« Die Augen der alten Frau wurden feucht. »Er hat sich viel Herzeleid bereitet. Und mir hat er noch mehr Herzeleid bereitet!«
Decker wartete.
»Er hatte eine Affäre mit meiner Tochter, dieser Dummkopf!« platzte sie plötzlich heraus. »Meine Tochter … sie war auch dumm. Ich hab meinen Mädchen immer wieder gesagt, sie sollen sich von dieser Familie fernhalten … wir stehen nur eine Stufe über den Dienstboten. Wenn wir etwas Falsches tun, wird Davida sich eine andere Schneiderin suchen. Meine anderen Töchter haben auf mich gehört. Heidi aber nicht. Wir haben uns die ganze Zeit gestritten. Deshalb hab ich nichts gesagt, als Elaine diesen Schlawiner geheiratet hat.«
»Elaine hatte eine Affäre mit Hermann Brecht?« fragte Goldin.
»Nein, nein, nein!« sagte Greta. »Ich mein, ich halte lieber den Mund. Ich hab versucht, mit Heidi zu reden. Sie war so störrisch, so …« Gretas Gesicht verhärtete sich. »Wie ein Maulesel!«Ihre Augen wurden düster. »Ein lieber Maulesel … sie wurde von allen ausgenutzt. Sie hat allen geglaubt, nur mir nicht, weil ich ihre Mutter war.«
»Ist sie tot, Greta?« fragte Decker.
Die alte Frau nickte.
»Wie?« fragte Decker.
»Selbstmord, hieß es.«
»Aber Sie glauben nicht daran.«
Sie biß sich auf die Lippen und zuckte die Achseln. »Ich hab keine Fragen gestellt. Vielleicht ja, vielleicht nein. Erst Heidi, dann Hermann. Und jetzt auch noch Lilah. Vielleicht liegt es ja in der Familie.«
Liegt es in der Familie …
»Ihre Tochter war Lilahs Mutter, nicht wahr, Greta?« sagte Decker.
»Was?« sagte Goldin.
Greta senkte den Kopf.
»Willst du damit sagen, daß Davida nicht Lilahs Mutter ist, Greta?« fragte Goldin.
»Lilah ist mein«, flüsterte Greta. »Meine Enkeltochter. Und Frederick ist mein Enkelsohn. Davida bot an, das Baby zu nehmen, und Heidi sagte ja, weil sie noch so jung war – erst fünfzehn, als Lilah geboren wurde. Davida versprach, dem Baby ein gutes und reiches Zuhause zu geben. Ich hatte ja so wenig, weil ich Witwe war. Zwar hab ich gearbeitet und gearbeitet, aber das Geld … fünf Kinder. Die müssen essen, die brauchen Kleidung.«
Sie ballte eine Hand zur Faust, dann öffnete sie die Finger ganz langsam wieder.
»Dann wurde Heidi wieder schwanger – mit Frederick. Hermann hätte meine Heidi heiraten sollen. Er war gut zu uns, hat uns Geld gegeben. Aber er war ein schwacher Mann. Er liebte meine Heidi und hat sie trotzdem nicht geheiratet, der Dummkopf! Heidi hat versucht, sich um ihren kleinen Sohn zu kümmern, doch es war zu viel für sie. Davida war so nett und hat angeboten, ihn auch zu nehmen. Sie hat überall rumerzählt, er wär adoptiert.«
Wieder wurde es ganz still im Zimmer. Von draußen drang das Zwitschern der Vögel herein und leises Geplauder.
»Ich kann es nicht glauben …« Goldin schüttelte den Kopf. »Davida hat immer so eine große Sache daraus gemacht, daß Freddy adoptiert war.«
Decker verkrampfte sich der Magen.
»Sie war so gemein zu ihm«, fuhr Goldin fort. »Aber sie hat nie ein Wort über Lilah gesagt. Ich möchte wetten, daß Lilah es selbst nicht weiß.«
»Nein, sie weiß es nicht«, sagte Greta. »Ich weiß, daß sie’s nicht weiß. Als wir uns kennengelernt haben … das war reiner Zufall. Eines Tages seh ich sie. Sie gab Kunstkurse für Senioren. Du meine Güte, ich wußte es sofort! Sie sieht genauso aus wie meine Heidi.« Ihre Stimme wurde leise. »Ich melde mich für ihren Kurs an. Ganz allmählich fangen wir an, uns nach dem Unterricht zu unterhalten. Wir reden und reden, und es ist, als hätte ich Heidi wieder vor mir. Mein süßes kleines Baby – sie war erst achtzehn, als sie starb.«
Goldin nahm ihre Hand und drückte sie sanft.
»Dann hört Lilah auf, mich zu besuchen«, sagte sie. »Es ist, als ob ich Heidi noch einmal verliere. Aber nicht ganz so schlimm. Ich weiß, daß Lilah und Frederick noch am Leben sind.« Sie küßte Goldins Hand. »Du bist ein guter Junge.«
»Was ist zwischen dir und Lilah vorgefallen?« fragte Goldin. »Warum ist sie nicht mehr zu dir gekommen?«
»Das ist sehr schwer …«
»Möchten Sie noch etwas Tee, Greta?« fragte Decker.
»Ja, gute Idee.«
Goldin schenkte ihr eine weitere Tasse Tee ein und wischte mit einer sauberen Serviette über seine feuchte Hose.
»Möchtest du dir was anderes anziehen, Perry?« fragte Greta. »Ich häng deine Hose nach draußen zum Trocknen.«
»Ach nein, ist bloß ein bißchen klamm. Ich werd’s schon überleben.«
Decker rückte näher zu der alten Frau. »Was ist zwischen Ihnen und Lilah vorgefallen, Greta?«
»Es war meine Schuld. Ich hab die Sache überstürzt, und Lilah war noch nicht bereit.«
»Du hast ihr erzählt, daß du ihre Großmutter bist, und sie hat es dir nicht geglaubt?« sagte Goldin.
»Nein, Perry, so blöd bin ich nun auch wieder nicht.«
Goldin wurde rot. »Das wollte ich damit nicht sagen.«
Gretas Lippen verzogen sich zu einem zahnlosen Lächeln. »Ich weiß. Ich mach’s dir schwer, weil’s für mich so schwer ist.«
»Es ist sicher sehr schmerzlich für Sie«, sagte Decker.
»Ja, schmerzlich. Es tat weh, Lilah zu verlieren.« Greta trank einen Schluck Tee und hielt die Tasse auf ihrem Schoß. »Alle wissen, daß Frederick adoptiert wurde. Aber niemand weiß, wer seine Eltern sind, oder?«
»Außer Davida«, sagte Goldin.
»Ja, außer Davida. Aber sie weiß, daß Hermann und Heidi tot sind und niemand da ist, um die Wahrheit zu sagen. Sie glaubt, ich bin tot oder in Deutschland. Ich bin vor etwa zwanzig Jahren nach Amerika gekommen. Ich bin sehr froh darüber. Man hat mich reingelassen, weil ich eine Schwester in St. Louis, Missouri, habe.«
»Es ist schön, Familie zu haben«, sagte Decker.
»Ja, sie hat gesagt, sie gibt mir einen Job. Also hat man mich reingelassen. Ich bin nach Kalifornien gezogen, weil es hier warm ist, und ich hab’s gerne warm. Aber Davida … sie hat keine Ahnung, daß ich hier bin.«
Decker nickte und wartete ab.
»Ich hab mich also endlos mit Lilah unterhalten. Dann hab ich eines Tages zu ihr gesagt, ich wüßte vielleicht, wer Fredericks Eltern sind. Und sie sagt, wer denn? Dann sag ich, Frederick könnte eventuell mein Enkel sein.« Sie stellte Tasse und Unterteller auf den Tisch. »Uh, das war nicht gut! Sie ist böse auf mich. Sie sagt, ich wär nur nett zu ihr, um Frederick sehen zu können. Das stimmt nicht! Sie ist auch mein. Mit Frederick wollte ich sie nur testen. Aber nun ist es zu spät! Sie hat nie wieder mit mir geredet. Sie sagt, ich hätte sie betrügt.«
»Betrogen,« sagte Goldin.
»Ja, betrogen. Sie hat mir nie eine Chance gegeben, ihr die ganze Wahrheit zu erzählen.«
»Vielleicht solltest du ihr jetzt die Wahrheit sagen«, sagte Goldin. »Vielleicht will sie sie ja jetzt hören.«
»Nicht daß sie dann noch einen Selbstmordversuch macht.« Greta schüttelte den Kopf. »Nein … ich halte den Mund. Du sagst ihr nichts, Perry. Versprich es mir. Du hast ein loses Mundwerk.«
»Das stimmt. Aber ich verspreche dir, deinen Wunsch zu respektieren.«
Schweigen.
»Eins versteh ich immer noch nicht«, sagte Goldin. »All die Jahre war Davida biestig zu Freddy und hat Lilah abgöttisch geliebt. Warum diese ungleiche Behandlung?«
»Vielleicht weil Lilah ein Mädchen war«, sagte Decker.
»Glaub ich nicht«, sagte Greta. »Lilah war ihr näher, weil sie ihrs war.«
Goldin runzelte die Stirn. »Du hast doch eben gesagt, Lilah wäre deine Enkelin.«
»Ja, ist sie auch«, sagte Greta.
»Dann versteh ich nicht …«
»O, jetzt hab ich dich verwirrt«, sagte Greta. »Ich glaube, Davida war gemein zu Frederick, weil sie sehr wütend auf Hermann war. Sie war gemein zu Frederick, um sich an ihrem Mann zu rächen, verstehst du?«
Decker richtete sich auf. Plötzlich ergab alles einen Sinn.
»Nein, versteh ich nicht …«, sagte Goldin.
»Unterschiedliche Väter«, fiel Decker ihm ins Wort. »Hermann Brecht war der Vater von Frederick, aber nicht von Lilah.«
»Ja«, sagte Greta. »Ganz genau.«
»Wer war denn dann Lilahs Vater?« fragte Goldin.
Decker gingen seine eigenen Worte durch den Kopf.
… Verbindung zwischen Davida und Lilah …
»Kingston Merritt.« Decker sah Greta an. »Es war Kingston, nicht war?«
»Ja, es war Kingston«, sagte Greta. »Er hatte ein Auge auf sie geworfen. Ich hab Heidi gesagt, sie soll nicht mit der Familie reden.« Sie schüttelte den Kopf. »Sie hört nicht auf mich. Sie gerät in Schwierigkeiten … zweimal. Dummes Mädchen. Dummes, dummes Mädchen!«
Dann fing die alte Frau bitterlich an zu weinen.