9

Sie schritt an ihm vorbei, ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Decker folgte ihr in Lilahs Zimmer. Es war eine einseitige tränenreiche Begrüßung.

»Du lieber Gott, was ist denn nur mit meinem Baaaby passiert!« Davida umarmte ihre Tochter. »Mein armes, süßes Baaaaby.«

Eine heisere Stimme, dachte Decker. Und laut. Sie trug, wie man in der Branche sagte.

»Mein armes, liebes, süßes kleines Mädchen! Wie furchtbar!«

»Mutter, setz dich …«

»Du lieber Gott! Du lieber, lieber Gott!«

»Mutter! Setz dich hin!«

Davida ignorierte die Aufforderung, nahm ein schwarzes Spitzentaschentuch heraus und wischte sich unter ihrem Schleier die Augen. Lilah betrachtete sie.

»Du mußtest aber keine Trauer anlegen, Mutter. Ich bin nicht gestorben.«

Davida strahlte plötzlich. »Gefällt dir mein Kleid? Von Vilantano. Größe sechs. Ist das nicht unglaublich?«

Lilah sah Decker an. »Ich wurde überfallen, und sie redet über ihr Kleid. Das ist mal wieder typisch.«

»Oh, schimpf nicht mit mir, Delilah Darling. Natürlich liegt mir dein Wohl am Herzen! Als Freddy es mir erzählt hat, bin ich fast gestorben.«

»Ich hab ihn ausdrücklich gebeten, es dir nicht zu erzählen.«

Davida sah Decker an. »Sie wollte nicht, daß ich mich aufrege. Typisch meine Tochter … so rücksichtsvoll.«

Lilah schloß die Augen und legte den Kopf auf das Kissen. »Ich bin sehr müde. Ich muß mich ausruhen.«

»Sei nicht böse auf Freddy, mein Liebes.« Davida tat die Bedürfnisse ihrer Tochter mit einer Handbewegung ab. »Ich hab gemerkt, daß er sich über irgendwas große Sorgen machte, und hab ihm keine Ruhe gelassen, bis ich es aus ihm rausgekriegt hab.«

Sie öffnete eine schwarze, mit Perlen besetzte Abendtasche und begann, kleine fleischfarbene Glasbehälter auf dem schwenkbaren Tablett neben dem Bett aufzubauen.

»Ich hab dir ein bißchen Make-up mitgebracht – eine leichte Feuchtigkeitsgrundierung, ein bißchen Wimperntusche und Lidschatten, etwas Rouge und was zum Abdecken. Freddy hat mir erzählt, wie sie dich bei dem Einbruch geschlagen haben! Wie furchtbar!« Sie musterte ihre Tochter eingehend. »Meine Güte, Lilah, du siehst aus, als hätten sie mehr getan als dich geschlagen.«

»Mutter, ich bin wirklich müde.«

Davida legte eine Hand auf ihre Brust. »Diese … diese … Schweine! Ist alles in Ordnung, Lilah?«

»Ja.«

»Wirklich, mein Liebes? Mir kannst du es doch sagen.«

»Ich glaub zwar nicht, daß ich im Augenblick fit für meine fünf Meilen Jogging wäre, aber ich werde mich wieder erholen.«

»Du denkst immer so positiv. Das bewundere ich so an dir.«

»Was ich jetzt am meisten brauche, ist Ruhe, Mutter.«

»Darling … haben diese Schweine … haben sie …«

Lilah sah zu Decker. »Nein.«

Davida folgte dem Blick ihrer Tochter und nahm zum ersten Mal bewußt Deckers Anwesenheit wahr. »Darling, wer ist dieser Mann?«

»Er ist von der Polizei, Mutter.«

Davida ging gemessenen Schrittes auf Decker zu und hob ihren Schleier. Ihre Haut war gespenstisch weiß, aber straff gespannt über ihren großen Wangenknochen. Sie hatte grobe Gesichtszüge – eine breite Nase, weit auseinanderliegende Augen, die rund und glänzend waren und sehr dunkel. Ihr Mund schien von einem Ohr zum anderen zu reichen. Ihre Haare waren aus der hohen Stirn nach hinten gezogen und blauschwarz gefärbt. Sie würde bald wieder eine Tönung brauchen – an den Haarwurzeln war nämlich eine Spur von Weiß zu sehen.

Aus der Nähe betrachtet, fand Decker, daß Davida Eversong etwas Affenhaftes an sich hatte, doch er konnte sich vorstellen, daß ihre ausgeprägten Gesichtszüge auf der großen Leinwand gut herübergekommen waren. Was Schönheit anging, war Lilah Mom gegenüber deutlich im Vorteil. Doch die feinen Züge der Tochter würden in der Vergrößerung vielleicht verschwimmen.

Decker wußte, daß Mom ihn begutachtete. Sie starrte ihm vollkommen ungeniert in die Augen. Kein Wunder, daß Morrison ihn ständig mit Fragen nervte, wie er in dem Fall vorankäme. Decker wußte nicht, ob es nur gespielt war oder woran es lag, aber Davida stank förmlich nach Reichtum und Macht. In Wirklichkeit war sie viel imposanter als in jeder Rolle, die sie jemals auf der Leinwand gespielt hatte.

»Sie sind also von der Polizei«, sagte Davida.

»Ja, Ma’am. Sergeant Decker.«

»Ich bin froh, daß Sie hier sind, Sergeant. Wir müssen miteinander reden. Obwohl der Schmuck nicht so wertvoll war wie die Stücke, die ich im Banksafe aufbewahre, habe ich an einigen Sachen doch aus sentimentalen Gründen sehr gehangen. Ich gehe davon aus, daß Sie Ihr möglichstes tun, um die Verbrecher zu finden, die ihn mir gestohlen haben.«

Decker sah Lilah an. »Sie hatten Schmuck in Ihrem Safe?«

Mit gelangweilter Stimme sagte sie: »Mutter bewahrte einige Schmuckstücke dort auf. Aber darauf hatten sie es nicht abgesehen, Peter.«

»Ich nehme an, Sie brauchen eine Beschreibung der einzelnen Stücke, Sergeant«, sagte Davida. »Ich geb Ihnen den Namen meines Versicherungsmaklers. Er hat von jedem Teil eine schriftliche Beschreibung und eine Polaroidaufnahme. Natürlich hätte ich meinen gesamten Schmuck gerne zurück, aber da gibt’s eine Smaragdbrosche, an der mir besonders viel liegt. Sie war ein Geschenk. Nun ja, all diese Stücke waren Geschenke … doch das ist eine andere Geschichte.« Sie wandte sich an Lilah. »Also wirklich, Darling, du hättest es mir sofort sagen sollen. Diese Schweine haben die größeren Steine vielleicht längst an einen Hehler weitergegeben.«

»Sie waren nicht hinter deinem Schmuck her, Mutter. Sie hatten es auf Vaters Memoiren abgesehen.«

»Lilah, Liebes …«

»Der Schmuck ist Müll, verglichen mit dem eigentlichen Schatz.«

»Darling, niemand würde einen fünfkarätigen kolumbianischen Smaragd als Müll bezeichnen.«

»Müll!« Lilah war rot im Gesicht. »Das ist alles Müll. Sie waren nicht hinter etwas so Gewöhnlichem her wie deinem Schmuck. Sie wollten Vaters Memoiren. Dein Schmuck ist MÜLL!«

»Du meine Güte, Lilah, ich weiß, daß du Furchtbares durchgemacht hast, aber nun nimm dich doch mal zusammen.« Sie wandte sich an Decker. »Lilah war schon als Kind sehr emotional. Genau wie ich. Aber ich habe meine Gefühle in die Schauspielerei gesteckt. Meinen Sie nicht, daß Lilah eine wunderbare Schauspielerin …«

»Mutter, ich spiele hier nicht irgendeine Rolle. Das ist Realität. Ich bin verletzt worden, verdammt noch mal …«

»Delilah Francine, beruhige dich doch bitte.« Davida ging geschmeidig neben dem Bett ihrer Tochter in die Hocke und küßte sie auf die Stirn. »Das kann doch nicht gut für dich sein, dich so aufzuregen.« Sie legte eine Hand an ihre Brust. »Für mich ist es das weiß Gott gewiß nicht.« Sie küßte Lilah noch einmal, dann sah sie zu Decker auf. »Warum sind Sie noch nicht unterwegs und suchen nach meinem Schmuck?«

»Ich habe mein Gespräch mit Lilah noch nicht beendet, Ms. Eversong. Könnten Sie vielleicht einen Augenblick rausgehen, bis wir fertig sind?«

»Oh, stören Sie sich nicht an mir. Machen Sie einfach weiter. Tun Sie so, als ob ich nicht da wäre.«

»Er muß mit mir allein reden«, fauchte Lilah.

»Allein?« Sie beugte sich theatralisch zu ihrer Tochter und flüsterte hörbar: »Ist er vertrauenswürdig?«

Lilah schloß die Augen und antwortete mit Ja.

Davida tätschelte ihre Hand.

»Nun ja, wenn du meinst, du bist in guten Händen, dann mache ich mich jetzt auf den Weg. Wir reden miteinander, sobald du wieder auf der Farm bist. Sieh zu, daß du bald nach Hause kommst. Dieses Krankenhaus ist scheußlich. Ein bißchen Tapete könnte gewiß nichts schaden.«

»Warum sprichst du nicht mit der Krankenhausverwaltung darüber?«

»Mädchen, ich rede mit niemandem, wenn es nicht absolut notwendig ist. Meine Kinder natürlich ausgenommen. Freddy hat mir erzählt, er holt dich heute Nachmittag hier raus.«

»Ja.«

»Sehr gut.« Sie küßte ihre Tochter auf die Stirn. »Ich laß dir das Make-up einfach hier. Soll ich Freddy heute Nachmittag noch mehr von dem Zeug zum Abdecken mitgeben? Man kann ja nie wissen, wer einen sieht.«

»Mach, was du willst, Mutter.«

»Versuch, dich auf jeden Fall auszuruhen.«

»Ich werd mich bemühen.«

»Auf Wiedersehen, Liebes.«

»Ms. Eversong«, sagte Decker. »Ich würde mich gern mit Ihnen über Ihren Schmuck unterhalten.«

Lilah schüttelte den Kopf. »Darauf hatten die’s nicht abgesehen, Peter. Glauben Sie mir.«

»Ich glaube Ihnen, Lilah«, sagte Decker, »aber sie haben den Schmuck trotzdem gestohlen. Mit einer guten Beschreibung könnte ich vielleicht ein paar von den Stücken aufstöbern und diese Verbrecher finden.« Er wandte sich an Davida. »Können wir irgendwo reden, während Lilah dem Polizeizeichner die Täter beschreibt?«

»Du hast die Diebe gesehen!« sagte Davida und klatschte in die Hände. »Das ist ja wunderbar!«

»Ich habe sie nicht gesehen, Mutter. Ich habe mir ein Bild von ihnen gemacht.«

Davida hörte auf zu klatschen. »Oh. Das ist schön, Liebes.«

»Ein sehr klares Bild.«

Davida stand auf und wischte sich ein eingebildetes Staubkorn von ihrem Kleid. »Sehr gut, Liebes.« Dann wandte sie sich an Decker. »Ich könnte es wohl einrichten, vor dem Krankenhaus in der Limousine auf Sie zu warten.«

»Das wäre ausgezeichnet.«

Sie lächelte und bot Decker ihren Arm. »Begleiten Sie mich den Flur hinunter, Sergeant.«

Decker sah Lilah an.

»Machen Sie nur.«

Lilah konnte anscheinend ihre Wut kaum unterdrücken. Jetzt hatte er zwei wilde Furien am Hals. Und was passierte, wenn zwei wilde Furien aneinandergerieten? Dann gab es reichlich Spannung und manchmal Feuer.

»Ich bin in einer Minute zurück«, sagte Decker.

Lilah machte sich nicht die Mühe zu antworten.

Nachdem sie die Hälfte des Flurs zurückgelegt hatten, sagte Davida: »Sie glauben doch wohl den Blödsinn mit dem Bildermachen nicht, oder?«

»Ich denke, sie könnte mir etwas sagen wollen, was ihr unangenehm ist, deshalb benutzt sie vielleicht diese Ausflucht mit den Bildern.«

Davida wies die Vermutung mit einer Handbewegung zurück. »Dieses Kind. Ich liebe sie natürlich, aber sie steckt voll von diesem Zeug – sie und ihr Bruder. Allerdings hat Freddy Gott sei Dank noch nicht behauptet, mit übernatürlichen Fähigkeiten gesegnet zu sein.« Sie lachte dumpf vor sich hin. »Aber ich liebe sie so sehr. Von meinen vier Kindern ist sie mir am ähnlichsten, deshalb ist es wohl natürlich, daß ich sie bevorzuge. Ich hab mir so gewünscht, daß sie Schauspielerin wird und in meine Fußstapfen tritt. Aber man kann eben nicht vorhersagen, wie Kinder sich entwickeln, Detective.«

Decker antwortete nicht. Sie gingen mehrere Sekunden schweigend nebeneinander her.

»Was für ein Trauma!« sagte Davida schließlich. »Für alle von uns! Sergeant, ich hätte wirklich gern meinen sogenannten Müll zurück. Darauf müssen es die Diebe einfach abgesehen haben. Die arme Lilah. Sie war eben zur falschen Zeit am falschen Ort. Aber sie scheint ja nicht so schlimm verletzt zu sein, oder?«

»Zumindest äußerlich nicht.«

»Das Äußere ist das einzige, was zählt, lassen Sie sich das von mir gesagt sein, junger Mann.« Sie senkte ihren Schleier. »Pech hat man immer wieder, aber solange man dabei gut aussieht, was soll’s? Sehen Sie mich an. Keiner weiß genau, wie alt ich bin. Und ich möchte, daß das auch so bleibt.«

Wenn Ihnen das einen ruhigen Schlaf beschert, Lady, dachte Decker. »Ms. Eversong, was wissen Sie über die Memoiren Ihres verstorbenen Mannes?«

»Nur daß Lilah sich ein völlig falsches Bild von ihrem Vater macht und den Wert der Memoiren total übersteigert. Also ich bin sicher, daß man auf dem freien Markt fünf- bis zehntausend Dollar dafür bekommen könnte …«

»Lilah glaubt, sie könnte sie für dreihundertausend …«

»Das ist Unsinn. Aber warum sollte man ihre Illusionen zerstören? Vergessen Sie die Memoiren. Konzentrieren Sie sich auf meinen Schmuck. Ich besitze, wie gesagt, noch andere Stücke, aber mir liegt wirklich viel an dieser Brosche.«

»In welcher Größenordnung bewegt sich das Ganze?«

»Oh, insgesamt vielleicht eine Million. Die Brosche ist das teuerste Stück. Sie allein ist eine Viertelmillion wert. Das andere summiert sich so kleckerweise. Zwanzigtausend hier, dreißig da.«

»Ms. Eversong, besitzen Sie die Kombination zu Lilahs Safe?«

»Nur zum äußeren Safe«, sagte Davida. »Da wurde der Schmuck aufbewahrt.«

»Kennt noch jemand die Kombination zum äußeren Safe?«

»Irgendwer muß sie ja offensichtlich gekannt haben.«

»Haben Sie die Kombination irgendwem gegeben?«

»Nein.«

»Kennen Sie die Kombination zum inneren Safe, Miss Eversong?«

»Das, junger Mann, ist einzig und allein Lilahs Angelegenheit.«

»Und dort hatte sie auch die Memoiren?«

»Ich hab keine Ahnung, was sie da vergraben hatte.«

Decker dachte einen Augenblick nach. Der Safe war sauber geknackt worden – ein absolut professioneller Einbruch. Trotzdem hatte das Verbrechen etwas sehr Amateurhaftes an sich. Profis vergewaltigen und verwüsten nicht. Sie bevorzugen schnelle Jobs – ohne Komplikationen. Also hatte vermutlich jemand Arschlöcher angeheuert – Anfänger – und ihnen die Kombination gegeben. Wenn nun diese Stümper nur den Auftrag hatten, den Schmuck aus dem Safe zu rauben, warum sollten sie dann die Memoiren mitgenommen haben? Dazu hätten sie eine weitere Kombination knacken müssen – wenn man davon ausging, daß Lilah die Memoiren im inneren Safe aufbewahrte. Also schien es plausibler, daß diese Stümper angeheuert worden waren, um die Memoiren zu stehlen. Als sie den Schmuck sahen, nahmen sie ihn als nette Beigabe mit. Auch wenn Davida auf dem Gegenteil beharrte, wollte Decker vorläufig die Möglichkeit nicht ausschließen, daß die Memoiren das eigentliche Ziel des Einbruchs gewesen waren.

»Wissen Sie, was in den Memoiren Ihres verstorbenen Mannes steht?«

»Absolut nicht. Ich hab sie sogar noch nie gesehen. Angeblich sind sie aus Oskars Besitz direkt in Lilahs Safe gewandert. Hat Lilah Ihnen von Oskar Holtz erzählt?«

»Er war ein guter Freund Ihres verstorbenen Mannes?«

»Ein lieber Junge, der kleine Oskar. Nun ist er fort.« Sie seufzte. »Sie sind alle fort. Nur ich bin noch übrig. Ich habe sie alle überlebt.« Sie lächelte. »Gute Gene.«

»Ms. Eversong, wie haben Sie das gemeint, als Sie sagten, daß die Memoiren angeblich aus Oskars Besitz direkt in die Hände Ihrer Tochter gelangt sind?«

»Ich will nicht behaupten, daß sie nicht existieren. Ich will nur sagen, daß Lilah eine sehr lebhafte Phantasie hat. Vor einem Jahr erzählte mein Sohn mir plötzlich von der Existenz dieser angeblichen Memoiren. Vielleicht hat sie sich ebenso ein Bild im Kopf davon gemacht, wie sie sich ihre Angreifer vorgestellt hat.«

Decker schwieg.

»Gehen Sie auf ihren Blödsinn ein, wenn Sie wollen. Aber nehmen Sie den Diebstahl von meinem Schmuck ernst.«

»Das tue ich. Deswegen wollte ich ja mit Ihnen reden.«

Sie waren im Foyer angekommen und gingen zu den Aufzügen. Davida ließ Deckers Arm los und drückte den Knopf nach unten.

»Ich werde zwanzig Minuten auf Sie warten, mein hübscher junger Freund im zerknitterten Anzug. Danach werden Sie keine Gelegenheit mehr haben, mit mir zu reden, sondern müssen sich mit meinem Versicherungsmakler auseinandersetzen.« Die Fahrstuhltür ging auf, und Davida trat hinein. Als sich die Türen schlossen, sagte sie: »Ciao.«

 

»Ist sie nicht unglaublich, diese Frau?«

»Alles in Ordnung, Lilah?«

»Ich bin wütend! Aber eigentlich hab ich auch nicht mehr von ihr erwartet. Und von Freddy auch nicht. Er ist genauso zum Verzweifeln, nur auf andere Art. So schwach. Ich hab ihn ausdrücklich gebeten, Mutter nichts zu sagen. Und was macht er?«

Sie nahm ein Make-up-Glas und warf es gegen die Wand. Es zerbrach nicht, sondern prallte nur ab und landete auf dem Boden.

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

»Heben Sie das auf, Peter. Vielleicht könnt ich’s ja doch gebrauchen.«

Er zögerte, weil er sich über ihre Herumkommandiererei ärgerte. Doch dann dachte er daran, was sie durchgemacht hatte, und tat ihr den Gefallen. Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück. »Ihre Mutter hatte also Schmuck in Ihrem Safe liegen.«

Sie starrte ihn wütend an. »Die … waren … nicht … hinter … dem … Schmuck … her.«

»Würden Sie mir bitte einen Augenblick zuhören, Lilah?«

Schlagartig senkte sie den Blick. »Reden Sie weiter. Ich hör zu.«

»Mal angenommen, Sie haben recht«, sagte Decker. »Die Kerle waren also nicht hinter dem Schmuck her. Sie hatten es auf die Memoiren abgesehen. Aber sie fanden den Schmuck Ihrer Mutter. Und nahmen ihn mit. Weil er wertvoll ist. Vielleicht vermuteten sie, daß noch mehr Schmuck im Haus ist und haben deshalb Ihr Zimmer durchwühlt.«

Lilah war still. »Vielleicht.«

»Haben Sie noch andere Wertsachen, die Sie nicht im Safe aufbewahren?«

»Etwas Bargeld – aus der Kasse an der Rezeption. Aber was spielt das schon für eine Rolle? Wenn ich es im Safe gehabt hätte, hätten sie es doch auch gestohlen?«

»Das stimmt. Haben Sie gestern Ihren Safe geöffnet?«

»Nein.«

»Sind Sie sicher?«

»Natürlich bin ich sicher. Warum?«

»Weil wir Fingerabdrücke von Ihnen an der Zahlenscheibe gefunden haben.«

»Na und?«

»Ihr Hausmädchen sagte, sie hätte den Safe gestern abgestaubt. Dann hätte sie doch wohl alle Fingerabdrücke weggewischt.«

»Mercedes ist nicht so gründlich«, sagte Lilah. »Ich glaube, sie saugt im Schrank, aber Staubwischen? Das kann man wohl vergessen. Ich hab schon Spinnweben in den Ecken gefunden. Aber warum sollte ich ihr deswegen ein schlechtes Gewissen machen? Als Sie sie gefragt haben, ob sie im Schrank Staub gewischt hat, hat sie sich vermutlich unter Druck gesetzt gefühlt und gelogen.«

»Okay«, sagte Decker. »Der Neugier halber, wie viel Bargeld aus der Rezeptionskasse hatten Sie im Haus?«

»Nur etwa tausend Dollars.«

Nur.

»Und dann hab ich immer noch etwas Geld für unvorhergesehene Ausgaben in der untersten Schublade. Fünfhundert oder so. Ich kann ja noch verstehen, daß sie die Schubladen durchwühlt haben, aber warum mußten sie mein Zimmer zerstören – meine schönen handgearbeiteten Möbel –, Stücke, die ich mir jahrelang zusammengesucht habe? Warum mußten sie das Glas zerschlagen, meine Lampen kaputt machen … mich vergewaltigen … warum?«

Warum? Weil Verbrechen gefährlich ist, und was gefährlich ist, ist aufregend. Verbrechen ist eine beschissene Adrenalindröhnung, die direkt ins Blut geht. Diese Arschlöcher sind dann wie aufgedreht, Testosteron schießt durch ihren Kreislauf, Endorphine strömen in ihr Gehirn. Sie spüren keinen Schmerz. Sie vergewaltigen. Sie töten. Sie zerstören. Und sie genießen jede Sekunde. Sie werden so verdammt high von ihren eigenen Hormonen, daß sie genauso süchtig nach Verbrechen werden wie nach irgendeiner Droge.

»Da draußen laufen eine Menge gestörter Typen herum«, sagte Decker. »Ich geb mir verdammt große Mühe, diese Kerle zu finden.« Er nahm die Blätter mit den Fotos der aktenkundigen Sexualstraftäter. »Von denen erkennen Sie also keinen wieder.«

»Nein.«

»Und Sie haben noch nicht einmal … die leiseste Ahnung, wer Ihnen das angetan haben könnte?«

»Absolut nicht.«

»Wir werden weiter ermitteln, Lilah. Nur noch einige wenige Fragen, und dann nerv ich Sie nicht länger.«

Lilah senkte den Blick. »Sie nerven mich doch gar nicht, Peter.«

»Na schön. Ich möchte noch mal auf den Safe zurückkommen. Ihre Mutter hat gesagt, sie hätte die Kombination zu Ihrem Safe.«

»Zum äußeren Safe, ja.«

»Geht sie an den Safe, wenn sie ein bestimmtes Schmuckstück tragen will?«

»Normalerweise sagt sie mir, was sie haben will, und ich bring’s ihr dann. Aber sie hat einen Schlüssel von meinem Haus. Wenn ich nicht da bin, könnte sie rein und den Safe öffnen.«

»Was ist mit dem inneren Safe.«

»Davon kennt sie die Kombination nicht.«

»Und dort hatten Sie die Memoiren?«

»Ja.«

»War sonst noch was im inneren Safe?«

»Das Testament meiner Mutter. Aber das ist wohl kaum ein Sammlerobjekt. Davon gibt es jede Menge Kopien. Sie hat eine, meine Brüder haben jeder eine, und der Anwalt hat auch eine.«

»Wissen Sie, ob Ihre Mutter in letzter Zeit irgendwelche Änderungen an ihrem Testament vorgenommen hat?«

»Nein. Warum fragen Sie?«

»Einfach so auf gut Glück.«

»Ich glaube nicht, daß sie was geändert hat. Aber Sie sagten doch, Sie haben dieses kleine Stelldichein mit ihr in der Limousine, warum fragen Sie sie nicht selbst?«

»Sie wissen, was im Testament Ihrer Mutter steht?«

»Ich hab’ mich nie mit den Einzelheiten befaßt, aber ich weiß, daß der größte Teil des Vermögens an mich geht.«

Decker registrierte, daß ihre Aussage zum Testament ihrer Mutter mit der von Freddy Brecht übereinstimmte. Vielleicht war Bruder King tatsächlich »krankhaft eifersüchtig« auf seine Schwester. Er notierte sich, daß er so schnell wie möglich mit diesem Merritt Kontakt aufnehmen müßte.

»Lag noch irgendwas bei den Memoiren?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Okay. Darf ich jetzt den Polizeizeichner herbitten?«

Lilah setzte ein unschuldiges Lächeln auf. »Sie glauben tatsächlich an meine Kräfte, Peter.«

»Ich …«

»Ich wußte es. Sie haben meine Energie gespürt.«

»Ich glaube, Sie versuchen mir etwas zu sagen.« Decker zögerte. »Als Sie … sich in Ihrem Kopf ein Bild von diesen Männern gemacht haben, Lilah, kam Ihnen da wirklich keiner von beiden bekannt vor?«

»Wirklich nicht.«

»Lilah, was passierte, als die Männer fertig waren? Haben Sie sie weggehen hören?«

»Ja.«

»Wissen Sie, wie spät es war?«

»Nein … Ich traute mich nicht, mich zu bewegen.«

»Ich verstehe. Wurden Sie auf Ihrem Bett vergewaltigt?«

»Ja.«

Decker hielt inne. »Können Sie sich erinnern, wie Sie auf dem Fußboden gelandet sind?«

»Er … stieß mich … trat mich … riß mein Bett auseinander. Ich schloß die Augen und versuchte, meine Umgebung auszublenden. Irgendwann muß ich ohnmächtig geworden sein. Das nächste, an das ich mich erinnere, ist Ihre Stimme. Ihre … schöne Stimme.«

Decker nickte und steckte seinen Notizblock weg. »Das haben Sie großartig gemacht.«

Lilahs Augen wurden feucht. »Danke.«

»Keine Ursache.« Decker stand auf und gab ihr seine Karte. »Falls Ihnen noch was einfällt – falls Sie mich aus irgendeinem Grund brauchen rufen Sie auf der Wache an. Ich ruf Sie dann zurück.«

»Das ist die Nummer der Polizeiwache?«

»Ja.«

»Haben Sie keine andere Nummer, unter der ich Sie erreichen kann?«

»Nein.«

Sie sah ihn an. »Haben Sie etwa keine Privatnummer, Peter?«

Ihre Augen sprühten vor Wut. Pech, dachte Decker. Sie tat ihm leid wegen dem, was sie durchgemacht hatte, doch er hatte nicht vor, sie nach Lust und Laune in sein Privatleben eindringen zu lasen. Er wartete, bis sie anscheinend begriffen hatte, daß seine Entscheidung endgültig war. Dann sagte er: »Diese Nummer ist besser, Lilah. Die können mich vierundzwanzig Stunden am Tag erreichen.«

Sie nickte lahm. »Sie können mich in der Beauty-Farm anrufen, falls Sie noch weitere Fragen haben, Sergeant.«

Sergeant. Ihre Förmlichkeit war eine Strafe dafür, daß er sich geweigert hatte, seine Privatnummer herauszurücken. Oder vielleicht hatte sie auch nicht mehr das Bedürfnis nach Intimität. Er sagte: »Ich hab eine Partnerin …«

»Eine Frau namens Dunn?«

Decker nickte.

»Als ich gestern Abend die Beauty-Farm anrief«, sagte Lilah, »erzählte mir meine Geschäftsführerin, daß Ihre Partnerin Dunn gestern dort gewesen sei und herumgefragt hätte. Kelley klang nicht gerade erfreut.«

»Detective Dunn ist sehr diskret. Und schließlich liegt Ihr Haus direkt neben der Beauty-Farm.«

»Das ist mir klar, aber ich versichere Ihnen, daß niemand von dort was mit dieser Sache zu tun hat. Doch wenn sie unbedingt Fragen stellen muß, um Ihre Vorgesetzten zufriedenzustellen, werde ich dafür sorgen, daß Kelley sich kooperativ verhält.«

»Danke. Sie scheinen großes Vertrauen zu Ihrem Personal zu haben.«

Sie wandte sich ihm zu und lächelte merkwürdig. »Wie ich vorhin sagte, ist meine Familie von Natur aus mißtrauisch. Ich kann mir jedoch Vertrauen leisten, weil ich Ehrlichkeit spüre. Sie brauchen sich nur anzusehen, wie lange meine Leute schon für mich arbeiten. Es gibt kaum Fluktuation. Ich glaube, daß Gott mir diese Kraft gegeben hat, um mich für meine herrschsüchtige Mutter zu entschädigen. Sie glaubt weder an meine Kräfte noch an mich. Aber dann kennt Mutter mich im Grunde auch nicht sehr gut.«

 

Mike Ness machte seine Videokamera aufnahmebereit und legte sie vorsichtig auf die schmale Holzbank. Dann öffnete er seinen Spind. Ein Klopfen auf der Schulter ließ ihn zusammenzucken. Verdammt, nach all den Jahren schaffte sie es immer noch, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen. Normalerweise nahm er das gelassen hin. Heute hätte er sie am liebsten erwürgt. Statt dessen holte er tief Luft und atmete wieder aus, während er bis acht zählte.

»Klein, wie er ist, aber das ist der Herrenumkleideraum, Kell …«

»Ist doch niemand hier.«

»Du gehst mir auf die Nerven …«

»Ich gehe dir auf die Nerven …«

»Ja, du gehst mir auf die Nerven.« Er zog sein graues T-Shirt aus. »Es ist alles in Ordnung. Laß mich in Ruhe.«

»Wo warst du letzte Nacht?«

»O Gott, du bist ja schlimmer als die Polizei.« Er nahm einen Body aus seinem Spind und zog ihn an. Sie konnte einen ja echt wahnsinnig machen. »Hast du schon mal daran gedacht, zu den Marines zu gehen? Du würdest einen guten Ausbilder abgeben.«

»Beantworte mir doch bitte meine Frage, Michael.«

Er drehte sich um und legte beide Hände auf ihre Schultern. »Ich hab Davida eine Massage verpaßt. Zwei Stunden war ich in ihrem Zimmer und mußte mir ihr Geschwafel über irgendeinen dämlichen Schauspieler anhören, mit dem sie früher gebumst hat. Das war vielleicht aufregend. Ich bin um zwölf gegangen, hab das Telefon rausgezogen und versucht, ein bißchen Schlaf zu kriegen.«

»Ich hab an deine Tür geklopft …«

»Dann hab ich dich halt nicht gehört.«

Einen Augenblick schwiegen beide. Ness setzte sich auf die Bank und fing an, seine Nikes zuzubinden.

»Weißt du, wo Eubie letzte Nacht war?« fragte Kelley schließlich.

»Nein.« Er blickte auf. »Warum?«

»Die Lady hat sich nach Eubie und der Vergewaltigungsgeschichte erkundigt.«

Ness lachte laut auf. »Bist du verrückt, Kell? Eubie würde doch Lilah nicht vergewaltigen. Bumsen ja, aber vergewaltigen?« Er sah seine Schwester an. »Wenn du wissen willst, wo Jeffs war, frag Nadia. Er hat vermutlich bei ihr gepennt.«

»Nadia ist lesbisch.«

»Da hat Jeffs mir aber was anderes erzählt.«

Kelley biß auf ihre Unterlippe, um sie am Zittern zu hindern. »Worüber hast du mit Davida geredet?«

»Hab ich dir doch gerade gesagt. Sie redete über irgend so ’nen Verrückten, den sie früher gefickt hat. Sie hatte es mal wieder sehr mit der ›guten alten Zeit‹.«

»Dann … dann schwör mir, daß du die ganze Nacht in deinem Zimmer warst, Mike.«

Er fing an zu grinsen. »Glaubst du, daß ich Lilah vergewaltigt habe, Kell?«

»Hör auf, Michael.«

»Was soll das Ganze dann?«

»Ich … ich wollte mich nur vergewissern, daß du …«

»Ich schwöre, ich habe nichts mit der Sache mit Lilah zu tun.« Er tätschelte ihre Schultern und schenkte ihr sein selbstbewußtes Großer-Bruder-Lächeln. »Ich schwöre, ich schwöre, ich schwöre! Kann ich jetzt ein bißchen meine Ruhe haben? Oder macht es dich an, mich nackt zu sehen?«

Kelley wurde rot. »Manchmal bist du absolut widerlich!«

»Wenn ich so widerlich bin, dann laß mich doch endlich allein. Der Lady-Detective stellt halt einfach Fragen, weil sie dafür bezahlt wird. Wenn die Polizei wüßte, was los ist, würde sie nicht so viele Fragen stellen.«

»Was ist denn los?«

»Wie zum Teufel soll ich das wissen? Ich weiß nur, daß Davida glücklich ist. Und wenn sie glücklich ist, bin ich es auch. Jetzt entspann dich, okay?«

Kelley biß sich wieder auf die Unterlippe. »Also gut, Mike. Ich glaube dir.«

Ness betrachtete seine Schwester. Sie glaubte ihm. Sie glaubte ihm immer, Gott segne sie.