30

Decker machte, es sich auf dem Fahrersitz des Plymouth bequem und nahm ein Sandwich aus einer Papiertüte. Er spürte den Blick so stark wie brennende Pfeile, die auf ihn abgeschossen wurden, und sah zum Beifahrersitz … Marges traurige Augen ruhten auf ihm. Er gab ihr die Hälfte ab.

»Das ist aber nicht nötig, Pete.«

»Ich krieg heute Abend eh noch ein großes Essen.« Er sah auf seine Uhr – gerade mal eins. Bis zum Abendessen waren es noch sieben Stunden. Aber was soll’s? Würde er sich eben mit Kaffee vollpumpen. »Mach dir keine Gedanken deswegen. Also, was meinst du, Doc?«

»Wieso Doc?« Marge biß in das Sandwich. »Sollen wir mit Kingston Merritt anfangen?«

»Schieß los.«

»Ich frag mich, ob Lilah nicht vielleicht doch wußte, daß King ihr Daddy war und daß sie sich deshalb so schuldig an seinem Tod fühlt.«

»Hat sie denn irgendwie angedeutet, daß Kingston ihr Vater sein könnte?«

»Nun ja, sie hat ihn als dominant bezeichnet, hat aber auch gesagt, er hätte es aus Liebe gemacht. Würde das ein Kind nicht eher über den Vater als über den Bruder sagen?«

»Yeah, Marge, aber wir dürfen nicht vergessen, daß Merritt für sie praktisch Vaterfunktion hatte. Und nicht nur nach dem, was er dir erzählt hat. Goldin und Reed haben es genauso dargestellt.« Decker trank einen Schluck Kaffee aus der Thermosflasche. »Im Augenblick hat es wohl keinen Sinn, Lilah zu fragen, was sie weiß. Ihr bedeutet es soviel, die Tochter von Hermann Brecht zu sein. Ich möchte ihr nicht was erzählen, was sie wieder in den Wahnsinn treibt.«

»Pete, ich glaube, die Lady hat schon immer am Rande des Wahnsinns gestanden.«

Decker schraubte seine Thermosflasche zu. »Da ist was dran.«

»Also was hat sich nun genau in Deutschland abgespielt?« fragte Marge. »King hat die Tochter dieser Frau geschwängert, und die Tochter hat Lilah Davida gegeben, damit die sie wie ihr eigenes Kind aufzieht?«

»Yep. Greta war Davidas Privatschneiderin. Das bedeutete, daß sie häufig zur Anprobe ins Haus kommen mußte. Greta hat ihre Töchter als Hilfe mitgebracht. Sie hat versucht, ihre Mädels an der Kandare zu halten, aber die Hormone haben gesiegt. Heidi fiel King ins Auge, und die Natur nahm ihren Lauf. Sie waren beide erst fünfzehn. Laut Greta war Davida nur zu bereit, das Baby zu nehmen. Und Hermann hatte offenbar auch nichts dagegen. Da Davida bereits über vierzig war, war die Chance, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, ziemlich gering. Hermann war froh, daß er jemand hatte, an den er seinen Namen weitergeben konnte. Der einzige, der über diese Regelung nicht glücklich war, war Kingston. Nicht daß er Heidi gewollt hätte, aber er war wütend, daß Hermann einfach sein Kind übernahm.«

»Erinnerst du dich, was John Reed uns über die Party anläßlich von Lilahs Geburt erzählt hat?« sagte Marge. »Wie Merritt und Hermann aneinandergeraten sind?« Sie leckte sich die Finger. »Jetzt ergibt das alles einen Sinn.«

»Ja, das tut es. Greta erinnerte sich, daß zwischen den beiden viel Haß war und ein heftiger Konkurrenzkampf bestand. Sie waren nur sieben Jahre auseinander. Als Hermann dann auch noch Heidi schwängerte, war Kingston außer sich vor Wut. Erst hat Hermann ihm sein Baby gestohlen, dann sein Mädchen. Hermann war offenbar eh ein ziemlicher Schürzenjäger. Er und Davida haben sich ständig wegen seiner Eskapaden gestritten. Der gute Hermann hat dann einen echten Coup gelandet, als er Heidi schwängerte. Damit hat er seine Frau und seinen Stiefsohn gegen sich aufgebracht. Was ich allerdings nicht verstehe, ist, warum Kingston – der Hermann doch gehaßt hat – das Spielchen als älterer Bruder mitgespielt hat.«

»Nach deinen eigenen Worten, Pete, hatte King nach Brechts Tod für Lilah Vaterfunktion«, sagte Marge. »Warum soll man Schmutz aufwirbeln, wenn man bereits hat, was man will? Oder vielleicht hat King aus Rücksicht auf Davida nichts gesagt.«

Decker dachte einen Augenblick nach. »Vielleicht ist es genau dieses Geheimnis, um das es in den Memoiren geht. Davida wollte nicht, daß rauskommt, daß King Lilahs Vater ist.«

»Oder daß Hermann der Vater von Freddy war. Apropos, warum wurden die Memoiren überhaupt Lilah vermacht und nicht Freddy -Hermanns leiblichem Sohn?«

»Um den Schein zu wahren, nehm ich an«, sagte Decker. »Lilah war offiziell das Kind von Hermann und Davida. Freddy war der Außenseiter – das adoptierte Kind.«

»Also die übliche Geschichte von einer angesehenen Familie, die eine Leiche im Schrank hat«, sagte Marge.

»Eine angesehene Familie, deren Mitglieder häufiger keines natürlichen Todes sterben«, sagte Decker. »Sowohl Heidi als auch Hermann haben Selbstmord begangen. Bei Heidi könnte es ein Unfall gewesen sein. Greta hat mir erzählt, die offizielle Diagnose hätte Alkohol und Medikamente gelautet -Seconal. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein seriöser Arzt damals einer Sechzehnjährigen ein Barbiturat verschrieben hat. Vielleicht stammte es von Hermann.«

Marge dachte über seine Worte nach. »Oder von Davida. Vielleicht hat Davida es Heidi sogar gegeben … vorgeblich aus reiner Nächstenliebe. Pete, Hermann war ein Säufer. Mal angenommen, Davida wußte, daß Hermann und Heidi zusammen getrunken haben, und sie hat gehofft, daß die Tabletten und der Suff sich nicht vertragen würden.« Sie kam richtig in Fahrt. »Pete, vielleicht war es gar nicht die Sache mit Kings Vaterschaft, vor der Davida Angst hatte. Vielleicht hat Hermann ja irgendwie angedeutet, daß Davida was mit dem Tod von Heidi zu tun hatte! Dafür würde es sich doch lohnen, einen Mord zu begehen.«

»Einen Mord an wem?« fragte Decker.

»An Kingston«, sagte Marge. »Davida glaubte, Hermann hätte in seinen Memoiren irgendwas über Heidis Tod geschrieben. Und außerdem wußte Davida, daß Lilah die Memoiren bald lesen würde – die fünfundzwanzig Jahre sind fast um. Also hat Davida beschlossen, die Memoiren zu stehlen. Mal angenommen, sie hat King gebeten, sie zu stehlen.«

»Und für entsprechend viel Geld war er bereit, es zu tun.«

»Richtig. Also hat er die Papiere geklaut, und dann hatte er auf einmal Bedenken, sie Mama zu überlassen.«

»Warum die Bedenken?« fragte Decker. »Warum hat er nicht einfach das Geld kassiert, und damit war die Sache für ihn erledigt?«

»Vielleicht gab es etwas, das King wichtiger war als Geld. Vielleicht sind, als er die Memoiren gelesen hat, seine ganzen unterdrückten väterlichen Gefühle zum Ausbruch gekommen. Er war plötzlich nicht mehr nur auf Hermann wütend, sondern auch auf Davida, weil sie ihm seine wahre Rolle als Lilahs Vater versagt hat. Und er wußte, daß die Wahrheit in diesen Papieren stand. Und plötzlich wollte er, daß Lilah es auch wußte. Schließlich war Heidi ihre leibliche Mutter. Also machte der gute King eine Kehrtwendung und erklärte seiner Mutter, er würde Lilah die Memoiren zurückgeben.«

»Und Davida wurde so wütend, daß sie ihn hat umbringen lassen?«

»Ich kann mir ohne weiteres vorstellen, daß sie dazu bereit wäre, wenn es darum geht, ihre Haut zu retten. Oder wie ich schon sagte, vielleicht war Kings Tod wirklich nicht beabsichtigt. Davida hat Russ Donnally geschickt, um nach den Memoiren zu suchen, King ist im falschen Augenblick reingekommen, und die Sache geriet außer Kontrolle. Plausibel?«

»Plausibel«, sagte Decker. »Aber das ist alles reine Spekulation.«

»Natürlich ist es das.« Marge trank ihren Kaffee aus und warf den Becher in einen bereits überlaufenden Mülleimer. »Das ist schließlich unser Job. Wenn wir keine Beweise haben, fangen wir an zu spekulieren. Und gegen Davida haben wir ganz offensichtlich keine Beweise.«

»Du glaubst, es ist Davida?«

»Sie ist das Verbindungsglied zwischen den Opfern. Wenn wir doch nur was gegen sie in die Finger kriegen könnten.« Marge runzelte die Stirn. »Aber leider sind Kingston Merritt und Russ Donnally tot. Und aus Kelley, Eubie und Mike ist nichts rauszukriegen. Natürlich ist da noch Lilah …«

»Im Augenblick hab ich keine Lust, sie zur Rede zu stellen«, sagte Decker. »Vermutlich weiß sie eh nichts, und ich möchte nicht ihren Tod auf dem Gewissen haben.«

»Ich auch nicht«, sagte Marge. »Wer bleibt da noch?«

»Wer noch bleibt?« Decker ließ den Plymouth an. »Marge, wir haben den Sohn von Hermann Brecht. Der bleibt noch.«

 

Die für den Arzt reservierten Parkplätze waren schon wieder besetzt, also stellte Decker seinen Wagen wieder auf einen der Parkplätze des Naturkostladens und sagte zu Marge: »Erinner mich dran, daß ich auf dem Rückweg eine Tüte Weizenkeime bei denen kaufe. Wenn ich schon ständig deren Parkplatz benutze, muß ich ihnen wenigstens was zu verdienen geben.«

»Weizenkeime?«

»Vielleicht mein ich auch Haferkleie – du weißt schon, das Zeug, das wie Sägemehl schmeckt. Noch irgendwelche Fragen?«

Marge schüttelte den Kopf. Sie stiegen aus dem Auto und gingen hinüber zu Brechts Praxis. Decker öffnete die Glastür, und ein leises Gebimmel kündigte ihre Ankunft an. Die Praxis sah immer noch aus wie ein Aschram. Aus einem Lautsprecher an der Wand jaulte undefinierbare Synthesizermusik. Kein Mensch war zu sehen. Decker ging über die Strohmatten und klopfte an die Scheibe der Rezeption. Althea schob das Fenster auf. Ihre Handgelenke waren wie beim letzten mal reichlich mit Schmuck behangen.

»Wollen Sie unsere Dienstmarken sehen, oder können wir auf die Formalitäten verzichten?«

Unter heftigem Geklimper der silbernen Reifen verschränkte Althea die Arme über der Brust. »Ich erinnere mich an Sie.«

»Wir wissen, daß Dr. Brecht da ist«, sagte Marge. »Wir haben die letzte halbe Stunde damit verbracht, ihn ausfindig zu machen. Wir müssen unbedingt mit ihm reden.«

Althea nickte. »Ich pieps ihn an.«

Marge legte die Hand auf die Sprechanlage. »Machen Sie doch einfach die Tür auf, wir werden ihm dann schon sagen, daß wir da sind.«

Althea musterte sie prüfend. Schließlich stand sie auf und öffnete die Verbindungstür, blockierte aber den Eingang. »Er steht schon seit längerem unter furchtbarem Streß. Und jetzt stören Sie ihn in seiner Mittagspause.«

Decker trat an ihr vorbei in den Flur der Praxis. »Wir werden versuchen, es kurz zu machen.«

»Sein Büro ist hinten durch.«

»Danke«, sagte Marge.

Sie gingen den Flur hinunter. Aus irgendeinem Impuls heraus öffnete Decker die Tür zu einem Untersuchungszimmer. In krassem Gegensatz zu Meritts Chirurgiepraxis schienen Brechts Zimmer eher für ein Love-in geeignet als für eine ärztliche Behandlung. Der Raum war mit Sitzsäcken, dicken Kissen und einer Matratze mit geblümtem Laken ausgestattet. In Holzschränken mit Glastüren standen altmodische Apothekertöpfe, in denen laut Etikett jeweils ein anderes Kraut war -Hamamelis, Fingerhut, Tarowurzel, Belladonna, Eisenkraut, Salbei, Pfefferminze, Wacholderbeeren, Distel, Klee. In einer Ecke stand ein Weihrauchgefäß aus Messing.

Marge und er sahen sich an. Sie zuckte die Achseln und sagte: »Hey, wenn’s genauso hilft, würd ich doch lieber Pfefferminze und Wacholderbeeren nehmen als bittere Pillen und Spritzen.«

»Wenn’s genauso hilft …« Decker zwinkerte ihr zu. »Das ist der Trick.«

Decker öffnete die Tür zu Brechts Büro. Der Arzt saß an seinem Schreibtisch, in einer Hand das Telefon, in der anderen ein Pita-Sandwich. Sein Gesicht zeigte reichlich Verwunderung. Er sagte zu seinem Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung, er würde zurückrufen, und legte auf. Dann stand er auf, die Hände flach auf den Schreibtisch gestützt.

»Platzen Sie eigentlich immer so einfach bei anderen Leuten herein?«

»Nicht immer«, sagte Decker. »Entschuldigen Sie unsere schlechten Manieren, aber wir müssen unbedingt mit Ihnen reden, Doctor. Es geht um Ihre Adoption.«

Brechts Gesicht erstarrte vor Wut. »Wie können Sie es wagen, in meinem Privatleben herumzuwühlen! Wer ich bin und die äußeren Umstände meiner Geburt gehen Sie einen Scheißdreck an!«

»Ich kann verstehen, daß Sie wütend sind«, sagte Decker. »Ich weiß, wie Ihnen zumute ist …«

»Sie wissen überhaupt nichts. Und wenn Sie jetzt bitte mein Zimmer verlassen …«

»Und ob ich das weiß«, sprudelte es aus Decker heraus. »Ich bin nämlich selbst adoptiert.«

Im Zimmer wurde es ganz still. Decker beobachtete Brecht. Wütend? Verblüfft? Mißtrauisch traf es wohl am ehesten.

»Haben Sie sich je über Ihre leiblichen Eltern Gedanken gemacht, Doc?« Decker steckte die Hände in die Tasche. »Ich jedenfalls schon … und tu es immer noch. Ich denke, das ist normal. Jeder will wissen, wo er herkommt. Wissen Sie, was ich meine?«

Das Funkeln in Brechts Augen zeigte jetzt Neugier an. Den Mann hatte es gepackt.

Brecht schaute von Decker zu Marge und dann wieder zu Decker. »Sie haben mir offensichtlich etwas zu sagen. Dann können Sie es sich auch genauso gut bequem machen.«

Marge dankte ihm und ließ sich auf dem Bürostuhl gegenüber von Brechts Schreibtisch nieder. Decker blieb stehen und betrachtete Brechts Arbeitsplatz. Kein mystischer Schnickschnack für Dr. Freddy, sondern ein ganz normales Arztbüro, wenn auch ein bißchen hübscher eingerichtet als die meisten. Parkettfußboden, chinesische Brücken, Holzvertäfelung an den Wänden, der Schreibtisch aus Rosenholz mit dazu passender Kredenz, auf denen winzige Keramikvasen und Glasfigürchen standen. Die vom Boden bis zur Decke reichenden Bücherregale enthielten medizinische Werke. In den oberen vier Reihen standen grundlegende Texte, die keine der üblichen Spezialisierungen erkennen ließen. Doch auf den beiden unteren Regalbrettern befanden sich Bücher über New Age und organische Medizin. Dicke Bände mit Titeln wie Kräuterkunde, Ernährung, Akupunktur, Biofeedback. Außerdem eine Buchreihe über die Kunst des Heilens – Quantum-Heilung, Heilung durch Licht, Heilung durch Wu Chi, Heilung durch Meditation, Heilung durch Aerobic, Heilung durch Wasser.

An den Wänden hingen Fotografien von Sonnenuntergängen, dazwischen berufliche Diplome. Decker las die Urkunden.

»Finden meine Zeugnisse Ihre Zustimmung, Sergeant?« fragte Brecht.

»Auf mich machen sie einen guten Eindruck, Doctor«, sagte Decker. »Aber ich könnte, ehrlich gesagt, kein falsches Diplom von einem echten unterscheiden.«

»Das ist meistens der Fall. Die Diplome hängen hier, um meine Patienten zufriedenzustellen, nicht um meinem Ego zu dienen.« Brecht fuchtelte mit den Händen herum. »Setzen Sie sich doch, Sergeant, Sie machen mich ganz nervös.«

Decker drehte einen Stuhl herum und setzte sich rittlings darauf, die Arme auf die Stuhllehne gestützt. »Dr. Brecht, es muß eine Verbindung geben zwischen Hermann Brechts Memoiren und dem Tod von Kingston Merritt.«

Brecht schüttelte energisch den Kopf. »Ich seh nicht, was es da für eine Verbindung geben sollte. Und was hat das überhaupt mit meiner Adoption zu tun?«

Decker verzog keine Miene. Brecht war immer noch beim Thema Adoption. Er hatte ihn an der richtigen Stelle gepackt. »Auf Ihre Adoption komme ich gleich«, sagte Decker. »Aber erst noch mal zurück zu den Memoiren. Haben Sie sie jemals gesehen, Doctor?«

»Gesehen? Sie meinen wohl gelesen?«

»Nein, sie gesehen«, sagte Marge. »Sie physikalisch in der Hand gehabt.«

Brecht zögerte. »Geht es Ihnen darum, die Existenz der Memoiren zu verifizieren?«

»Ja«, sagte Decker.

»Existieren tun sie. Ich hab sie gesehen. Ich war bei Lilah, als sie ankamen. Natürlich hab ich sie nie gelesen, aber ich hab sie gesehen – und einen Begleitbrief.«

»Haben Sie den Begleitbrief gelesen?« fragte Decker.

»Nein. Er war an Lilah adressiert.«

»Hat Lilah Sie gebeten, niemandem von den Memoiren zu erzählen?« fragte Marge.

»Ja. Lilah wollte das für sich behalten, bis die fünfundzwanzig Jahre nach Hermanns Tod vorbei waren. Das war eine von Hermanns Bitten, die in dem Begleitbrief standen.«

»Den Sie nie gelesen haben«, sagte Decker.

»Den ich nie gelesen habe. Lilah hat mir erzählt, was drinsteht.«

»Woher wissen Sie denn dann, daß der Begleitbrief an Lilah adressiert war?« fragte Decker.

»Nun ja, ich …« Brecht zuckte. »Ich hab den Karton gesehen, in dem die Memoiren ankamen. Er war an Lilah adressiert … genau gesagt an das Kind von Hermann Brecht. Irgend so was. Nur die Adresse war auf Deutsch. Der Begleitbrief war in Englisch. Ich verstehe nicht, was die Memoiren mit Kingstons Tod oder mit meiner Adoption zu tun haben sollen.«

»Doctor, was wissen Sie über Ihre biologischen Eltern?« fragte Decker.

Brecht schüttelte den Kopf. »Sergeant, sagen Sie jetzt bitte, was Sie von mir wollen, oder gehen Sie. Ich habe heute Nachmittag drei Patienten, und dann muß ich so schnell wie möglich wieder ins Krankenhaus. Lilah ist psychisch nicht sehr stabil. Ich möchte nicht, daß einer von Ihnen das heilsame Fluidum um sie herum zerstört.«

»Ich hab gar kein Interesse, mit ihr zu reden«, sagte Decker. »Nur mit Ihnen.«

Brecht wirkte verblüfft. »Also gut. Reden Sie.«

»Doctor«, sagte Marge, »wir haben durch Zufall einige interessante Dinge über Sie herausgefunden. Ich möchte verhindern, daß es für Sie ein Schock ist …«

»Mich kann nichts schockieren.« Brecht wirkte plötzlich ungeduldig. »Ich kenne meinen familiären Hintergrund, Detective. Mutter war immer sehr offen damit. Reden Sie weiter.«

»Doctor, ich will Sie nicht hinhalten«, sagte Decker. »Es ist nur … nun ja, ich glaube, Ihre Mutter war nicht ganz … ehrlich, was Ihre Herkunft betrifft. Deshalb möchte ich gerne hören, was Sie wissen.«

»Na schön! Ich werd Sie beide offenbar nur los, wenn ich Ihnen was erzähle.« Brecht nahm einen pyramidenförmigen Kristall von seinem Schreibtisch und begann über die Unterseite zu reiben. »Auf diese Herkunft bin ich nicht gerade stolz. Ich war das Produkt der Vereinigung zwischen einer einfältigen Mutter und einem verbrecherischen Vater. Sie haben natürlich nie geheiratet. Meine biologische Mutter war lediglich ein Gefäß für die Lust meines Vaters. Mutter – Davida Eversong meine ich – hatte Mitleid mit mir und hat mich aus diesem ärmlichen Milieu gerettet. Mutter hat mir unzählige Male erklärt, wie glücklich ich mich schätzen muß, die finanzielle Möglichkeit erhalten zu haben, das Beste aus meinen minderwertigen Erbanlagen zu machen.«

Greta Millstein – ärmliches Milieu, dachte Decker. In diesem Augenblick taten ihm sowohl Brecht als auch Greta leid. Sie hatte ihr Herz geopfert in der irrigen Annahme, daß sie damit ihren Enkelkindern einen großen Gefallen erweisen würde.

Geräuschvoll stellte Brecht den Kristall wieder auf den Schreibtisch. »Nicht daß Mutter viel für uns da gewesen wäre. Lilah und ich wurden praktisch von Kindermädchen, Ammen, Gouvernanten, Köchinnen und Chauffeuren großgezogen – mein Gott, man sollte doch meinen, daß die Frau sich wenigstens ein bißchen für unsere Entwicklung interessiert hätte.«

»Der Preis des Ruhms«, sagte Decker.

»Für meine Mutter war das kein Preis«, sagte Brecht, »aber für mich … besonders für mich. Kingston haßte mich von dem Tag an, an dem ich geboren wurde. Ich weiß nicht, womit ich diesen Haß verdient habe. Ich weiß, daß Mutter ihn mehr liebte als mich … und ja, ich war ein bißchen eifersüchtig, aber wer wäre das nicht? Ich hab versucht, es ihnen allen recht zu machen. Kingston hat mich einfach nie akzeptiert. So sehr er Lilah mochte, so sehr hat er mich verachtet. John war ein anständiger Typ, aber er war nie da. Die meiste Zeit war ich mit Lilah und einer bezahlten Hilfe zusammen. Und Kingston war ekelhaft zu mir.«

Brecht rieb sich die feuchten Augen.

»Es ist zwar gemein, von Toten etwas Schlechtes zu sagen, aber ich kann nicht um einen Bruder trauern, den ich nie gehabt habe.«

Decker nickte. Am liebsten hätte er Brecht gesagt, daß er nichts getan hatte, um Merritts Haß zu verdienen. Und vielleicht würde er das auch tun. Ihm begreiflich zu machen versuchen, daß Merritt ihn nicht um seiner selbst willen gehaßt hatte, sondern wegen seiner Eltern – wegen der Freundin, die ihn für den versoffenen Stiefvater hatte fallen lassen. Eifersucht. Rabbi Schulman hatte mal gesagt, daß Eifersucht das Fleisch vom Knochen faulen läßt. Und das war von dieser Familie jetzt noch übrig – nur noch Knochen. Er bemerkte, daß Brecht ihm ein mattes Lächeln schenkte.

»Jetzt sind Sie dran«, sagte Brecht.

»Das hat Ihnen Ihre Mutter also erzählt?« sagte Marge.

»Ja. Haben Sie gegenteilige Informationen?«

»Ja, wir haben einige Informationen, die … der Darstellung Ihrer Mutter widersprechen«, sagte Decker.

Brecht beugte sich vor. »Sagen Sie mir, was Sie wissen.«

»Bevor ich Ihnen das sage, möchte ich von Ihnen im Gegenzug einige Informationen«, sagte Decker. »Ich möchte von Ihnen wissen, wie Ihre Mutter den Diebstahl der Memoiren in die Wege geleitet hat.«

»Was!? Mutter steckt hinter dem Diebstahl?«

»Doctor, Sie haben die ganze Zeit gewußt, daß sie hinter dem Diebstahl steckt«, sagte Marge. »Vielleicht waren Sie sogar selbst darin verwickelt.«

Brecht wurde aschfahl. »Ich weiß nichts!«

»Sie hat Sie benutzt, Doctor«, sagte Decker. »Sie hat Sie ständig als ihren Laufburschen benutzt. Aber Sie haben sich das von ihr gefallen lassen, weil Sie glaubten, daß sie Sie vor einem Leben in Armut bewahrt hatte. Sie hat Ihnen all die Jahre eingeredet, sie sei Ihre Retterin gewesen. Aber sie hat Sie belogen. Sie hat Ihnen einen Haufen Unsinn erzählt.«

Decker bemerkte, daß Brechts Atem heftiger wurde. Der erwartungsvolle Blick in seinen Augen – als ob er es immer gewußt hätte.

»Wer bin ich denn dann?« sagte Brecht keuchend.

»Doctor, wir brauchen Ihre Hilfe«, sagte Marge.

»Wer bin ich?« Brechts Stimme wurde lauter.

»Wenn Davida Sie in irgendeine Intrige verstrickt hat, können wir einen Deal machen.«

»Wer bin ich, verdammt noch mal?« Brecht sprang auf und hämmerte auf seinen Schreibtisch. »Wer?«

»Sie sind das einzige Kind von Hermann Brecht«, sagte Decker mit sanfter Stimme. »Er war ihr biologischer Vater.«

Brecht stand lange Zeit reglos da. Schließlich stand Decker auf, legte ihm eine Hand fest auf die Schulter und schob ihn in seinen Schreibtischsessel zurück. Selbst da tat Brecht nichts weiter, als zu atmen und die Augenlider zu bewegen.

Schließlich flüsterte Brecht: »Sind Sie sicher?«

»Wir erzählen Ihnen alles von Anfang an, wenn Sie uns sagen, was Sie über den Diebstahl der Memoiren wissen«, sagte Marge.

Brecht leckte sich die Lippen. »Ich … ich will, daß Sie mir glauben, daß ich mit dem Tod von Kingston nichts zu tun habe.«

»Aber Sie wissen etwas über den Diebstahl der Memoiren«, sagte Marge.

Brechts Augen waren immer noch glasig. »Wie kann ich der einzige Nachkomme von Hermann Brecht sein? Was ist mit Lilah?«

Decker strich seinen Schnurrbart glatt. »Das mit Lilah ist auch eine lange Geschichte. Gehen wir doch eine Geschichte nach der anderen durch.«

Brecht sprach wie unter Hypnose. »Ich hab es immer gewußt … tief in meinem Inneren wußte ich, daß ich nicht der sein konnte, der ich laut meiner Mutter war. Das konnte ich einfach nicht sein …« Er drückte eine Faust auf seinen Mund, dann atmete er kräftig aus. »All die Jahre hat sie mich angelogen … mir das Gefühl gegeben, ich wär der Abschaum der Menschheit. Diese intrigante Hexe!« Er sah Decker an. »Wer war denn meine wirkliche Mutter?«

»Alles zu seiner Zeit, Doc«, sagte Decker. »Erst erzählen Sie uns, wie Ihre Mutter …«

»Davida Eversong ist nicht mehr meine Mutter!« schrie Brecht. »Wenn Sie was über Davida wissen wollen, fragen Sie nach Davida. Benutzen Sie nie wieder die Worte Mutter und Davida in einem Kontext!«

»Na schön, Doctor«, sagte Marge. »Wie hat Davida Sie in den Diebstahl der Memoiren hineingezogen?«

»Sie erwarten doch wohl nicht, daß ich zugebe, in ein Verbrechen verwickelt zu sein?« sagte Brecht.

»Es ist die einzige Möglichkeit, wie wir Ihrer Mut … wie wir Davida etwas nachweisen können. Verdammt, es ist doch nur ein simpler Diebstahl. Wir könnten vermutlich einen anständigen Deal für Sie …«

»Deal?« Brechts Lachen war hoch und hysterisch. »Warum sollte ich einen Deal brauchen? Wenn das, was Sie behaupten, wahr ist, dann hatte ich überhaupt nichts mit einem Diebstahl zu tun. Dann habe ich nur zurückverlangt … was mir rechtmäßig von Anfang an gehörte.«

»Bravo, Doc, da haben Sie recht!« Marge zog ihr Notizbuch hervor. »Die Memoiren haben Ihnen von Anfang an gehört. Nun erzählen Sie uns, wie Davida Sie eingespannt hat.«

Brecht nickte. »Ja, ich erzähle Ihnen, wie Davida mich benutzt hat. Womit soll ich denn anfangen?«