8

Kann man den Tag besser beginnen als mit einer Schüssel Cornflakes und fünfundzwanzig Akten von registrierten Sexualverbrechern? Während Decker die Vorstrafenregister überflog, goß Rina ihm ein Glas Orangensaft ein. Dabei fiel ihr Blick auf das Foto eines mürrisch dreinblickenden Mannes.

»Zumindest sind es keine Fotos aus dem Leichenschauhaus.«

Decker blickte auf. »Ich kann das auch später machen.«

»Nein, mich stört das nicht.« Sie rümpfte die Nase. »Muß ja wohl ein wichtiger Fall sein, wenn du schon zu Hause daran arbeitest.«

»Nichts Außergewöhnliches, was das Verbrechen angeht.« Decker schob seine Cornflakesschüssel beiseite. »Aber die hohen Tiere glauben, der Fall könnte eine Menge Staub aufwirbeln. Und Foothill ist seit der Rodney-King-Prügelei ein bißchen kamerascheu.«

Rina setzte sich hin und nahm einen Löffel durchgeweichter Cornflakes. »Wenn du die Welt sicher machen willst, mußt du dich ordentlich ernähren. Mund auf.«

Decker nahm lächelnd den Löffel, aß aber nicht. Statt dessen schob er die Papiere zusammen und steckte sie in seine Aktentasche. Rina runzelte die Stirn.

»Niemand verurteilt deswegen die gesamte Polizei von L. A., Peter.«

»Ach, hör doch auf«, fuhr Decker sie an. »Die gesamte Polizei wird doch über einen Kamm geschoren. Das macht mich stinkwütend auf die Kerle, die das getan haben. Und in meinem tiefsten Innern bin ich auch wütend auf mich selbst. Denn wenn ich ehrlich bin, muß ich zugeben, daß ich mir manchmal auch schon verdammt unmenschlich vorgekommen bin.«

»Aber du hast dich nicht wie ein Tier aufgeführt. Das ist der Unterschied.« Rina nahm seine Hand. »Deine Schuldgefühle sind irrational, Peter. Sie haben den Typ geschlagen, nicht du. Es war furchtbar, es war widerlich. Aber du hattest nichts damit zu tun!«

»Kollektive Verantwortlichkeit. Meine ganze Abteilung hat darunter zu leiden. Du kennst doch Morrison. Er ist normalerweise nicht der Typ, der sich in meine Fälle einmischt. Stell dir vor, er hat Marge und mich schon zigmal wegen dieser Sache angerufen. Kein direkter Druck, er will einfach wissen, ob wir schon was haben. Weil das wie gesagt ein Fall ist, der einigen Wirbel in der Öffentlichkeit auslösen könnte. Vor Rodney King hätte er sich keinen Deut darum gekümmert. Ein Verbrechen war ein Verbrechen war ein Verbrechen, egal wen es betraf.«

»Dann mischt er sich halt ein bißchen mehr ein«, sagte Rina. »Das ist doch nicht so furchtbar … solange er nicht zum Hindernis wird.«

»Genau, aber es ist nur ein schmaler Grat zwischen sich einmischen und hinderlich sein.« Decker warf die Hände in die Luft. »Ich plappere nur so dahin. Hör einfach nicht zu.«

»Natürlich hör’ ich dir zu. Ich liebe dich und mache mir Sorgen um dich.«

Decker tätschelte lächelnd ihre Hand. »Ist schon alles in Ordnung.«

»Das war das typische ›Ich-will-Rina-nicht-aufregen‹-Lächeln.«

»Was ist denn daran verkehrt?« fragte Decker.

»Du machst dir zu viel Sorgen.«

»Ich werd mich nicht mehr ändern.«

»Verlang ich auch gar nicht von dir.«

Decker konnte Lilah so gerade noch auffangen, bevor sie zu Boden fiel. Eine Hand um ihre schmale Taille gelegt, führte er sie behutsam zu ihrem Krankenhausbett zurück, und sie kroch unter die Decke. Sie wirkte so zerbrechlich. Mit einem Kleenex wischte sie sich den kalten Schweiß von der Stirn und sah ihm direkt in die Augen.

»Langsam wird es für Sie wohl zur Gewohnheit, mich zu retten.«

Decker antwortete nicht. Ihre Stimme klang aufreizend und gelangweilt zugleich, wie bei einer Figur von Tennessee Williams. Die Schwellung unter ihren Augen war zurückgegangen, die Haut war allerdings immer noch dunkel verfärbt. Zum ersten Mal sah er ihre Augen offen. Das Weiße war blutunterlaufen, die Iris leuchtend blau. Ihre Lippen waren mit einer Art Wachs bestrichen, doch die Schnittverletzungen schienen darunter gut zu heilen. Ihr flachsblondes Haar fiel – ein Auge fast bedeckend – wallend auf ihre bloßen Schultern herab. Ihre Haut war blaß bis auf einen Hauch von Rot über den ausgeprägten Wangenknochen.

Er zog sich einen Stuhl heran und setzte sich rechts vom Bett. Sie drehte sich auf die linke Seite, bis ihre Gesichter weniger als einen halben Meter voneinander entfernt waren. Genau wie gestern spürte er ihre Verzweiflung, das Bedürfnis, sich an irgend etwas festzuhalten. Doch es lag etwas Krankhaftes in der Art, wie sie um Trost bat. Er lehnte sich ein Stück zurück, um zumindest ein bißchen Freiraum zu haben.

»Dann wissen Sie also, wer ich bin«, sagte Decker.

»Sergeant Deckman, oder?«

»Decker. Sehr gut. Sie müssen mehr mitbekommen haben, als ich dachte. Ich bin froh, daß Sie wieder sprechen können, Miss Brecht.«

Ihre Augen wurden glasig. »Danke.« Ihre Stimme war ein heiseres Flüstern. Sie warf sich die Haare über die Schultern. »Danke, daß Sie mir das Leben gerettet haben.«

»Das hab ich zwar eigentlich nicht, aber trotzdem gern geschehen. Werden Sie hier gut behandelt?«

»Dieses Krankenhaus ist furchtbar.«

»Das sind die meisten Krankenhäuser. Liegt in der Natur der Sache.«

»Dann soll eine andere arme Seele dieses Vergnügen haben. Ich bin heute Abend hier weg.«

Decker stutzte. »Dr. Kessler entläßt Sie schon so bald?«

»Ich gehe entweder mit seinem Segen oder gegen seinen medizinischen Rat. Freddy wird sich um mich kümmern.« Sie sah ihm in die Augen. »Wie ich gehört hab’, haben Sie Freddy bereits kennengelernt.«

»Gestern, während Sie schliefen.«

»Ihm gefielen Ihre Fragen nicht. Er glaubte, Sie führten was im Schilde.«

»Überhaupt nicht. Ich bin halt nur gründlich.«

»Freddy ist sehr mißtrauisch. Das hat er wohl von Mutter.«

»Ich hoffe, Sie haben genügend Vertrauen zu mir, um einige Fragen zu beantworten, Miss Brecht.«

Lilah senkte den Blick und nickte.

»Haben Sie starke Schmerzen?« fragte Decker.

»Das Physische ist nicht so schlimm, aber das Psychische …«

Sie brach in Tränen aus. Decker reichte ihr eine Schachtel Kleenex und wartete ab. Normalerweise hätte er ihr die Hand oder die Schulter geklopft. Aber irgendwas hinderte ihn daran, diese Frau zu berühren.

»Es tut mir wirklich sehr leid«, sagte er schließlich. »Ich will unbedingt den Kerl schnappen, der Ihnen das angetan hat.«

»Kerle«, sagte sie. »Sie waren zu zweit.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Nur zwei?«

»Ja. Nur zwei.«

»Haben Sie geschlafen, als die beiden in Ihr Schlafzimmer kamen?«

»Ja.«

»Haben Sie sie reinkommen hören?«

»Was gehört?«

»Haben die Sie aufgeweckt?«

Sie schaute nach unten. »Das ist schwieriger, als ich gedacht habe.«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit, Miss Brecht …«

»Lilah!« fiel sie ihm ins Wort. »Es tut mir leid. Bloß … bitte.

Nennen Sie mich Lilah. Die … Distanz … die Förmlichkeit. Ich möchte mich Ihnen nahe fühlen. Um Ihnen erzählen zu können … verstehen Sie das?«

Decker nickte.

»Haben Sie auch einen Vornamen?«

»Peter.«

»Peter«, wiederholte sie, dann wandte sie den Blick ab. »Führen Sie oft solche Gespräche, Peter?«

»Ich habe schon mit vielen Fällen von Notzucht zu tun gehabt.«

»Wie schaffen Sie das?«

Decker zog die Stirn hoch. »Es ist hart für mich, aber nicht so hart wie für die Betroffenen. Außerdem kriege ich reichlich Ausgleich, wenn ich dann den Täter schnappe. Ich bringe gern böse Leute hinter Gitter. Und genau das möchte ich auch hier tun. Aber dafür brauche ich Ihre Hilfe.«

Sie sah ihm in die Augen, dann senkte sie den Blick. »Ich bin wach geworden … und dann war da … dieses … da lag etwas auf mir, das mich erstickte.«

»Im wahrsten Sinne des Wortes?«

Sie schüttelte den Kopf. »Es war nichts über meinem Gesicht … nur dieses furchtbare Etwas, das mich nach unten drückte. Und dann die Waffe. Es war … entsetzlich.«

»Haben Sie geschrien?«

»Ich stand unter Schock! Hätte ich schreien sollen? Hab ich was falsch gemacht?«

»Nein, Sie haben sich vollkommen richtig …«

»Ich hätte irgendwas tun sollen!«

»Sie haben etwas getan, Lilah. Sie haben überlebt. Das war das einzige, was Sie tun mußten, und das haben Sie getan.«

Wieder wurden ihre Augen feucht. »Das haben Sie wunderbar gesagt, Peter. Danke!« Sie packte seine Hand. »Vielen, vielen Dank!«

Jener vertraute Griff. Er wartete einen Augenblick, dann drückte er ihr leicht die Hand und wand sich heraus. Ihre Augen starrten ihn auf verwirrende Weise an. Er sah auf seinen Notizblock. »Haben Sie von den Männern, die Sie überfallen haben, irgendwas erkennen können?«

Sie schloß die Augen und schien in Trance zu fallen. »Ich sehe sie deutlich vor mir. Der eine ist schlank, dunkler Teint, blaue Augen, schwarze Haare, dichte Augenbrauen, ein Grübchen rechts unter der Unterlippe. Hohe Wangenknochen, ziemlich schmale Lippen, ein vorstehendes Kinn, aber nicht gespalten, ein vogelartiger Hals …« Sie öffnete die Augen. »Sie schreiben ja gar nicht mit? Rede ich zu schnell, Peter?«

»Ich bin etwas verblüfft«, sagte Decker.

Lilah sah ihn verständnislos an. »Wieso denn?«

»Miss Bree … äh, Lilah, Sie nennen mir da sehr viele Details …«

»Gesichter – und Körper – sind mein Geschäft, Peter.«

»Ich würde gern einen Polizeizeichner herbitten und möchte, daß Sie ihm die Männer beschreiben, die Sie überfallen haben.«

»Selbstverständlich.«

»Ich möchte Sie außerdem bitten, einige Fotos von Straftätern durchzusehen, die ich in meiner Aktentasche habe. Vielleicht haben diese Tiere schon mal so was getan, und Sie erkennen sie wieder.«

»Wie Sie wünschen.«

Er reichte ihr die Fotos von Sexualverbrechern aus der Gegend und rief über das Krankenhaustelefon bei der Polizei an. Während er wartete, daß sich jemand meldete, bemerkte er, wie Lilah ziemlich desinteressiert die Fotos durchblätterte. Schließlich bekam er den Polizeizeichner an den Apparat und hängte kurz darauf ein.

»In etwa zwanzig Minuten wird jemand hier sein«, sagte Decker. »Keiner von diesen Männern sieht aus wie …«

»Nein, keiner.«

»Sie sind sicher …«

»Ganz sicher.« Lilah ließ sich zurück in die Kissen sinken. »Gott, bin ich müde.«

»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Decker. »Warum sind Sie vorhin herumgelaufen?«

»Ich hab nur versucht mich wieder … wie ein Mensch zu fühlen.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Auge. »Das Äußere heilt wieder. Es tut zwar weh, aber ich weiß, daß es heilt. Doch innerlich …« Sie sah ihn an und nahm seine Hand. »Darf ich Ihre Hand halten?«

»Natürlich«, antwortete Decker.

Er wußte, daß Frauen sehr unterschiedlich auf ein Sexualverbrechen reagierten. Manche konnten den bloßen Anblick eines Mannes nicht mehr ertragen; andere wollten nach diesem furchtbaren Erlebnis sofort mit ihren Männern oder Freunden schlafen. Manche verkrochen sich in ein Schneckenhaus und kamen nie wieder heraus; andere taten so, als ob nichts Besonderes passiert wäre. Wenn ein Mann in der Sache ermittelte, entwickelten die Vergewaltigungsopfer häufig eine affektive Bindung zu ihm, die gut oder schlecht sein konnte, je nach dem wie das Verhältnis zwischen den beiden war. Einige Frauen waren so dankbar für Deckers mitfühlendes Ohr gewesen, daß sie ihre Kinder nach ihm genannt hatten. Doch Lilah hatte eindeutig etwas Merkwürdiges an sich.

»Fühlen Sie sich in der Lage, noch ein paar Fragen zu beantworten?« fragte Decker.

Lilah führte seine Hand an ihre Wange und nickte.

»Okay. Dann möchte ich folgendes wissen: Wann ist es Ihnen gelungen, die Täter so deutlich zu erkennen?«

»Ich hab sie gesehen, sobald sie mich angefaßt haben.« Ihre Unterlippe begann zu zittern. »Ich war so … können Sie mich in den Arm nehmen, Peter? Nur einen kurzen Augenblick.«

Sie näherte sich ihm, dann wich sie abrupt zurück und legte eine Hand auf ihren Mund. »Nein, vergessen Sie, was ich gesagt habe. Ich sehe an Ihrem Ring, daß Sie verheiratet sind. Es ist bloß, daß ich mich im Augenblick so verletzlich fühle. Ich brauche jemand, an den ich mich anlehnen kann. Darf ich Ihre Hand wieder nehmen?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, nahm sie die Hand und begann, an seinem Ehering zu spielen. Er hatte ja schon viele Vergewaltigungsopfer getröstet, aber keine dieser Frauen hatte sich so aufreizend verhalten, hatte so offen versucht, ihn sexuell anzumachen, wie diese hier. Er verzog jedoch keine Miene und fragte: »Haben Sie einen Freund, den ich anrufen soll?«

Lilahs Blick wurde plötzlich eisig. »Nein.«

»Wie wär’s mit Ihrem Bru …«

»Lassen Sie mich in Ruhe!« Unvermittelt ließ sie seine Hand los.

»Wäre es Ihnen lieber, wenn Sie von einer Frau vernommen würden?«

»Wäre es Ihnen lieber, wenn ich von einer Frau vernommen würde?«

»Lilah, ich will diese Monster schnappen, die Ihnen das angetan haben. Ich will dafür sorgen, daß sie nicht mehr frei herumlaufen und anderen Frauen das gleiche zufügen. Aber dazu brauche ich Ihre Hilfe. Ich brauche wirklich Ihre Hilfe.«

Ihre Augen wurden wieder feucht. »Es ist bloß so schwer.«

»Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid.«

Sie packte sein Handgelenk, bevor er es wegziehen konnte, und führte seine Hand an ihre Wange. »Ich stelle eine Verbindung zu Ihnen her.«

Decker ignorierte den Drang, seine Hand wegzuziehen, und sagte: »Freut mich, daß Sie eine Verbindung zu mir herstellen. Vielleicht können Sie mich dann mit Ihren Angreifern weiterverbinden.«

Lilah brach gleichzeitig in Lachen und in Weinen aus. Dann küßte sie langsam nacheinander seine Finger.

Gegen seinen Willen spürte er ein Ziehen in der Leistengegend und beschloß, den körperlichen Kontakt zu beenden. »Können Sie darüber reden, was passiert ist?«

Sie lehnte sich zurück. »Ja, das kann ich. Ich fühle mich jetzt stark.«

»Sie haben die beiden also nicht reinkommen hören?«

»Nein.«

»Sie schliefen.«

»Ja.«

»Wissen Sie vielleicht, um wie viel Uhr Sie wach geworden sind?«

»Nein.«

»Sie wachten auf, als Sie merkten, daß etwas auf Ihnen lag.«

»Ich habe ihre Gegenwart sogar schon vorher gespürt, bevor ich sie körperlich fühlte und bevor ich die Augen öffnete. Aber ich schaffte es nicht, schnell genug wach zu werden. Ich konnte einfach nicht reagieren … dann … war es zu spät. Sie waren auf mir … ohrfeigten mich … boxten mich … mit … den Fäusten … schlugen mich …«

Decker merkte, daß sie anfing zu keuchen, und sagte, sie solle einen Augenblick innehalten. Als Lilah wieder regelmäßig atmete, sagte sie: »Warum haben die nicht einfach den Safe aufgebrochen und sind gegangen? Warum mußten sie meine Sachen zerstören? Warum mußten sie mich schlagen? Warum haben sie mir weh getan? Warum haben sie mich vergewaltigt?«

»Weil diese Kerle Monster sind, denen es Spaß macht, Frauen weh zu tun.«

»Aber warum! Verdammt, ich weiß, daß es auf nichts eine einfache Antwort gibt. Doch Sie sind nicht so, Peter, das spüre ich. Ich fühle mich so sicher. So … beschützt, wenn ich in Ihrer Nähe bin.«

»Dafür ist die Polizei schließlich da.«

Sie starrte ihn an, verstimmt über seine Antwort. Obwohl ihm das klar war, ging er darüber hinweg.

»Ich muß Ihnen jetzt einige heikle Fragen stellen. Meinen Sie, Sie sind in der Lage, sie zu beantworten?«

»Ich weiß nicht.«

»Wenn Sie merken, daß Sie in Panik geraten, legen Sie eine Pause ein, bis Sie sich wieder etwas beruhigt haben. Es spielt keine Rolle, wie viel Zeit wir brauchen. Ich möchte es Ihnen so erträglich wie möglich machen. Okay?«

Sie nickte.

»Sind Sie von beiden Männern vergewaltigt worden?«

»Nur … von einem.«

»Sind Sie sich da sicher?«

»Nur von einem. Ich bin mir ganz sicher.«

»Ist er vaginal in Sie eingedrungen?«

Ihr Gesicht wurde weiß, doch sie bejahte die Frage.

»Sind Sie sicher?«

»Ja.«

»Ist er auch anal in Sie eingedrungen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Hat er versucht, anal in Sie einzudringen?«

»Nein.«

»Sie halten sich tapfer, Lilah. Nur noch einige wenige Fragen. Ist er in Ihnen zur Ejakulation gekommen?«

»Ich …« Sie begrub ihr Gesicht in den Händen. »Ich kann mich wirklich nicht erinnern. Während es passierte, bin ich irgendwie weggetreten.«

»Macht nichts. Das ist ganz normal, Lilah. Hat einer der Täter Sie gezwungen, oral mit ihm zu verkehren?«

»Nein.«

»Okay. Haben beide Sie geschlagen?«

»Ich glaube ja … ich wurde zuerst geschlagen … festgehalten …«

»Lassen Sie sich ruhig Zeit.«

»Zuerst … geschlagen. Dann sind sie … nein, einer von ihnen … ist zum Safe gegangen, während der andere … mich vergewaltigte.«

»Okay. Also einer von ihnen hat den Safe geöffnet, während der andere Sie vergewaltigte.«

»Ja.«

»Was ist dann passiert? Können Sie sich daran erinnern?«

»Er … jemand fing an, Sachen kaputt zu schlagen … Ich glaube, ich wurde immer noch von dem ersten vergewaltigt … während der andere Sachen kaputt schlug. Es schien kein Ende zu nehmen.«

»Hat einer von den beiden mit Ihnen geredet?«

»Nein.«

»Noch nicht mal am Anfang?«

»Ich … es tut mir leid. Alles ist so verschwommen. Kann sein, daß einer von ihnen gesagt hat: ›Ich hab ’ne Waffe.‹

Aber ich kann mich wirklich nicht erinnern.«

»Wissen Sie, welcher von den beiden Sie vergewaltigt hat?«

»Ich könnte sein Gesicht beschreiben.«

»Haben Sie eine Waffe gesehen, Lilah?«

»Er … an … ich meine, ich hätte die Waffe an meinem Kopf gespürt. An meiner Schläfe … wissen Sie. Er muß sie in der Hand gehalten haben. Ich war … es tat weh. Ich glaubte, ich … würde sterben.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen.

»Möchten Sie eine Pause machen?« fragte Decker.

»Ich … es geht schon.«

»Es wäre aber kein Problem.«

»Nein … noch nicht.«

»Okay. Man hat Sie also geschlagen, bevor Sie vergewaltigt wurden.«

»Ja.«

»Sie machen das ganz phantastisch, Lilah. Sie halten sich wirklich gut. Welcher von beiden hat Sie geschlagen?«

»Beide … glaub ich.«

»Sie haben Sie also geschlagen. Dann haben sie aufgehört.«

»Ja …« Ihr Blick war auf seinen Schoß gerichtet. »Irgendwann schließlich.«

»Geht’s noch?«

»Ja … machen Sie weiter«, flüsterte sie. »Es geht schon.«

»Okay. Aber haben Sie keine Hemmungen, eine Pause zu machen, wenn es nötig ist. Was passierte, nachdem sie aufgehört hatten, Sie zu schlagen?«

»Einer hat mich vergewaltigt … der andere …« Sie tupfte sich die Augen mit einem Kleenex. »Er muß zum Safe gegangen sein.«

»Ja.«

»Einer der beiden hat Sie vergewaltigt, während der andere zum Safe ging.«

»Ja.«

»Können Sie sich erinnern, was passierte, als der Mann aus dem Schrank mit dem Safe kam?«

»Ich glaube … sie haben wohl noch mehr Sachen kaputt geschlagen …« Sie sah ihn eindringlich an. »Er hat doch im Safe gefunden, was er wollte. Warum mußte er dann noch mein Zimmer verwüsten?«

»Könnte er noch etwas anderes gesucht haben?«

»Auf keinen Fall.«

»Da sind Sie sich ganz sicher?«

»Ja.«

»Er hat also im Safe gefunden, was er wollte.«

»Ja.«

»Was wollte er denn, Lilah?«

»Ich wünschte, alle Ihre Fragen wären so einfach zu beantworten. Es ist doch ganz offenkundig, daß die hinter den Memoiren meines Vaters her waren.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Dann sagte Decker: »Man hat Sie überfallen und Ihr Schlafzimmer verwüstet, um an die Memoiren Ihres Vaters zu kommen?«

Lilah brauste auf. »Wissen Sie etwa nicht, wer mein Vater war?«

»Er war Regisseur …«

»Nicht irgendein Regisseur! Er war der Regisseur. Hermann Brecht! Nach dem die Brecht-Schule für Darstellende Kunst in Heidelberg benannt ist. Und der Brecht-Lehrstuhl an der Universität Bonn! Er war nicht bloß ein Genie. Er war das Genie. Seine unübertroffene Brillanz im Filmemachen wird seit Jahren studiert, und das wird auch noch lange so bleiben. Der herausragende Regisseur dieses Jahrhunderts – fünfzehn Meisterwerke bis zu seinem vorzeitigen Ableben im Alter von achtundzwanzig Jahren!«

»Ihr Vater ist mit Achtundzwanzig gestorben?«

»Ja.« Lilahs Augen begannen zu schwimmen. »Ich war noch ein kleines Mädchen und kann mich nur undeutlich an ihn erinnern. Deshalb sind diese Memoiren so wichtig für mich. Sie sind meine Geschichte!«

»Lilah, ich möchte ja nicht unsensibel klingen, aber warum sollten sie für jemand anderen wichtig sein?«

Ihr Gesicht versteinerte sich. »Mein Vater war ein Mann von Visionen von unerreichter Größe. Vor ungefähr einem Jahr hat der gute Freddy ausgeplaudert, daß Vater seine Erinnerungen aufgezeichnet und mir testamentarisch vermacht hat. Bis dahin wußten nur er und ich davon. Doch nachdem Freddy die Katze aus dem Sack gelassen hatte, wurde ich plötzlich mit Anrufen und Briefen von Universitäten bombardiert, die wissen wollten, ob ich ihnen die Memoiren nicht vielleicht stiften möchte! Stiften! Stellen Sie sich mal diese Frechheit vor!

Als dann klar war, daß ich sie nicht stiften würde, haben sie versucht, sie mir abzukaufen. Für dreitausend, dreißigtausend, dreihunderttausend. Ich hätte sie noch nicht mal für drei Millionen weggegeben. Nicht für dreißig Millionen. Aber offensichtlich wollte noch jemand sie unbedingt haben und war bereit, alles zu tun, um sie in die Finger zu kriegen.«

»Was macht denn die Aufzeichnungen Ihres Vaters so begehrt?«

Sie sah ihn empört an, dann wurden ihre Züge wieder etwas weicher. »Mein Vater hat nie Interviews gegeben. Die Memoiren sind das einzig existierende Zeugnis, in dem er sich – in seinen eigenen Worten – über seine Filme, über seine Kunst äußert. Und jetzt werde ich es vielleicht niemals erfahren …« Sie brach in Tränen aus.

Decker spürte, wie er Kopfschmerzen bekam. Was sie sagte, ergab alles nicht sehr viel Sinn. Könnte das ein leises Anzeichen dafür sein, daß sie durch die Schläge eine Gehirnverletzung erlitten hatte? Er würde Dr. Kessler fragen. Als sie mit Weinen aufhörte, sagte er: »Weshalb sagen Sie, daß Sie es vielleicht nie erfahren? Haben Sie die Memoiren Ihres Vaters denn nicht gelesen?«

»Oje, warum ist das Leben bloß so kompliziert?«

Er wartete, daß sie fortfuhr.

»Die Aufzeichnungen sind mir unter der Bedingung vermacht worden, daß ich sie erst fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod öffne. Das wäre in zwei Monaten gewesen. Natürlich mußte ich mich an seine Wünsche halten. Andere haben mich gedrängt, mein Versprechen zu brechen, sobald sie von der Existenz der Aufzeichnungen erfahren hatten. Aber ich wäre eher gestorben, als die letzte Bitte meines Vaters in seinem Abschiedsbrief zu ignorieren.«

Also Selbstmord. Decker ließ das auf sich wirken. »Hatte Ihr Vater die Papiere bei sich, als er Selbstmord beging?«

»Nein, Vaters sämtliche Papiere waren bei einem alten, treuen Freund. Der schickte mir die Memoiren, als ich achtzehn wurde. Das versiegelte Päckchen wurde mir persönlich übergeben, und die Verpackung war völlig unversehrt. Vaters Wünsche wurden mir von dem Freund in einem separaten Begleitbrief mitgeteilt.«

»Dann wußte aber doch der Freund Ihres Vaters, daß die Memoiren existieren.«

»Oskar ist vor sechs Jahren gestorben. Also bevor Freddy den Mund aufgemacht hat. Der arme Oskar hat nichts mit dem Diebstahl der Papiere zu tun, falls Sie das meinen.«

Decker klopfte mit dem Stift auf seinen Block. »War der Begleitbrief in Englisch geschrieben, oder können Sie Deutsch lesen?«

Lilahs angestrengtes Lächeln ließ Ungeduld erkennen. »Sowohl der Brief als auch die Memoiren waren auf Englisch geschrieben. Sie waren mir gewidmet, Peter, und Vater wollte offensichtlich, daß ich sie verstehe. Vater sprach fünf Sprachen fließend.«

»Warum bekamen Sie die Memoiren und nicht Ihr Bruder, Miss Brecht?«

»Der arme Freddy …« Lilah seufzte. »Immer zu kurz gekommen. Er fühlte sich so vernachlässigt.« Ihr Gesicht wurde verdrießlich. »Das tat Mutter allerdings auch. Als sie das mit den Memoiren herausfand, war sie absolut schockiert, stinksauer. Diese Hexe hat tatsächlich darauf bestanden, daß ich mich über die Wünsche meines Vaters hinwegsetze und die Memoiren öffne. Vermutlich wollte sie wissen, was er über sie geschrieben hatte. Als ob Vater seine Zeit damit verschwenden würde, ihre albernen Streitereien aufzuzeichnen!«

Lilah wirkte plötzlich sehr ungeduldig.

»Sie haben mich gar nicht meine Angreifer zu Ende beschreiben lassen. Wollen Sie denn keine nützlichen Informationen?«

»Ich dachte, wir warten damit, bis der Polizeizeichner kommt.«

»Taugt Ihr Zeichner denn was?«

»Er ist der beste.« Decker blickte von seinem Block auf. »Lilah, wie lange haben Sie jeden der beiden Männer sehen können?«

»Wie meinen Sie das?«

»Haben Sie jeden von ihnen dreißig Sekunden lang gesehen? Eine Minute?«

»Ich habe sie so lange gesehen, wie ich das wollte.«

»Wie meinen Sie das? Sie hatten doch die Augen verbunden.«

»Sobald sie mich angefaßt hatten, war ich in der Lage, mir in meinem Kopf ein Bild von ihren Gesichtern zu machen. Deshalb kann ich mich an so viele Details erinnern. Bilder im Kopf sind viel schärfer als alles, was der Sehnerv überträgt.«

Decker zögerte einen Augenblick. »Lilah, haben Sie diese Männer mit Ihren Augen gesehen?«

»Das hab ich Ihnen doch gerade erklärt, Peter. Ich habe mir ein Bild von ihnen gemacht!«

Decker begann die Möglichkeit einer Gehirnverletzung ernsthafter in Betracht zu ziehen. »Lilah, vor Gericht sind nur Aussagen von Augenzeugen als Beweismittel zulässig.«

»Peter, ich werde doch nicht vor Gericht gehen und sagen, ich hätte mir von diesen Männer ein Bild in meinem Kopf gemacht. Mir ist schon klar, daß mir niemand glauben würde.

Aber wen kümmert schon, was das Gericht zuläßt? Wenn ich Ihnen das Bild aus meinem Kopf wiedergegeben habe, können Sie diese Tiere finden und durch andere Beweise überführen.«

»Lassen Sie mich das noch mal klarstellen. Sie haben die Täter nie richtig gesehen?«

»Ich habe sie einen kurzen Augenblick mit meinen Augen gesehen. Sie trugen allerdings Skimasken. Und dann haben sie mir natürlich die Augen verbunden. Als ob mich das hätte hindern können, mir in meinem Kopf ein Bild von ihnen zu machen. Aber sie konnten ja nicht wissen, daß ich über diese Gabe verfüge.«

Einen Augenblick herrschte Schweigen. Vielleicht litt diese Frau schon länger an einem psychischen Problem, und nicht erst seit der Vergewaltigung.

Lilah senkte den Blick. »Sie glauben mir nicht. Sie werden es schon noch begreifen. Ich habe diese Gabe, Peter, ich kann wie eine Prophetin in die Zukunft sehen. Und wie Kassandra begegnet man mir mit Skepsis oder – noch schlimmer – mit Spott. Aber das macht mir nichts mehr aus. Denn im Gegensatz zu den Prophezeiungen Kassandras werden die Leute mir glauben, wenn meine Prophezeiungen schließlich eintreffen.«

Sie beugte sich zu ihm herüber und nahm seine Hand.

»Eigentlich ist es keine Gabe, es ist ein Fluch. Ich bete jeden Tag zu Gott, daß ich irgendwann aufwache und normal bin. Daß ich eines Tages die Welt so sehe wie alle anderen. Vielleicht bete ich nicht intensiv genug.«

Decker schwieg, da er nicht wußte, was er sagen sollte.

Lilah befühlte seine Hand. »Ich kann Ihren Widerstand spüren, aber ich spüre auch Ihre Schwingungen. Unsere Verbindung schafft ein außergewöhnlich starkes Feld. Sie werden mir schon noch vertrauen, Detective. Ich verfüge wirklich über diese Kräfte.«

Jemand räusperte sich. Decker drehte sich um. Block und Musterbücher in der Hand stand Leo, der Polizeizeichner, in der Tür. Sein Gesicht war rot wie ein gekochter Hummer.

Decker entriß Lilah seine Hand und stand auf. »Würden Sie mich bitte einen Augenblick entschuldigen, Lilah?«

»Klar.«

»Danke.« Decker lächelte sie an. Dann führte er den Zeichner aus dem Zimmer und ging mit ihm durch den Krankenhausflur. Er wartete mit dem Sprechen, bis sie aus Lilahs Hörweite waren.

»Ich fürchte, ich hab dich umsonst hierher bemüht, Leo. Sie hat mir so detaillierte Informationen über die Täter gegeben, daß ich dich in meiner Begeisterung sofort angerufen habe. Dann hat sie mir erklärt, daß sie sie niemals richtig mit den Augen gesehen hat. Sie hätte sich einfach im Kopf ein Bild von ihnen gemacht. Sie schwört, sie könnte genau sagen, wie die Männer aussahen, nachdem sie sie angefaßt hatten, obwohl sie die Augen verbunden hatte.«

Leo nahm seinen Block und die Musterbücher in die andere Hand. »Das hast du dir nicht zufällig gerade ausgedacht?«

»Dazu bin ich nicht kreativ genug.«

»Hat sie sich mit ihrer Hand auch ein Bild von dir gemacht, Pete?«

Decker merkte, wie ihm heiß wurde. »Sie ist auf mich fixiert.«

Leo zog den Bauch ein und fuhr mit der Zunge über sein Gebiß. »Ich hätt nichts dagegen, wenn sie auch auf mich fixiert wär.«

»Sie hat nicht alle Tassen im Schrank, Leo. Wenn ich das gewußt hätte, wär’ Marge jetzt hier.«

»Ach ja.«

Beide Männer lachten.

Decker sagte: »Es besteht eine geringe Chance, daß sie diese Kerle tatsächlich gesehen hat und es bloß nicht zugeben will … oder Angst hat, es zuzugeben. Vielleicht kennt sie sie, und diese Sache mit den Phantasiebildern ist nur dazu da, um mir zu verstehen zu geben, daß sie nicht gegen die beiden aussagen will. Also, wenn’s dir nichts ausmacht, tu ihr und mir den Gefallen und mach ein paar Zeichnungen.«

»Kein Problem, Sergeant. Ich bin doch ein alter Hase. Hab alles schon mal gehört oder gesehen.« Leo starrte den Gang hinunter. »Ich glaub, deine durchgeknallte Lady kriegt Besuch. Ich geh wohl besser erst mal in der Cafeteria ’nen Kaffee trinken. Ruf mich, wenn du mich brauchst.«

»Okay, Leo.«

Decker beobachtete die sich nähernde Gestalt. Groß, schlank, geschmeidig. Sie trug ein bodenlanges, figurbetontes, mit Pailletten besetztes schwarzes Kleid mit Schlitzen an den Seiten. Das Kleid funkelte bei jedem Schritt. Ihr Gesicht war weiß gepudert, doch ihre Züge wurden – bis auf die blutroten Lippen – von einem schwarzen Schleier verdeckt, der bis auf die Schultern fiel. Ihre Schuhe steckten in hochhackigen Pumps, die an den Rändern mit Rheinkieseln besetzt waren. Doch Gang und Haltung waren nicht die einer alten Frau, sondern die eines jungen Models. Sie ging nicht, sie schritt. Sie schwebte.

Davida Eversong hatte ihren Auftritt.