15

Es war ja nur ein Pferd …

Doch das gab wenig Trost, wenn man betrachtete, was davon übrig geblieben war. Der Kopf des armen Tiers war zu Brei zerschmettert, das Fell vom Laufen immer noch schweißüberströmt.

Decker zog sich den Riemen der Kamera über den Kopf. Zunächst hatte er einen Polizeireporter holen wollen, doch er konnte die Kosten dafür vor sich selbst nicht rechtfertigen. Schließlich ging es nicht um einen Menschen, sondern um ein Pferd. Und was die Sache an sich betraf, war es wirklich versuchter Mord, oder war einfach nur ein normalerweise friedliches Tier durchgedreht? Doch ganz gleich, was es war, dieser furchtbare Zwischenfall würde Lilah in ihrem Gefühl der Allwissenheit nur noch mehr bestärken. Und Decker wußte allmählich auch nicht mehr, was er davon halten sollte.

Lilah als düstere Prophetin … was würde Rabbi Schulman dazu sagen?

Er krempelte sich die Ärmel hoch und schoß ein Foto von dem Tier. Dann ging er in die Hocke und machte einige Detailaufnahmen von der Stelle, an der das Tier gegen den Felsen geprallt war. Schließlich richtete er die Kamera auf den blutbespritzten Boden. Die Sonne war so intensiv, daß er die Augen vor dem gleißenden Licht schützen mußte, das von den weißen Felsen reflektiert wurde. Der Boden sandte Hitzewellen aus. Insekten schwirrten vor seinem Gesicht herum. Er schlug sie mit der Hand weg und dachte über Carl Totes nach.

Der Stallbursche kannte Lilahs Gewohnheiten, wußte, welches von den sechs Pferden sie höchstwahrscheinlich reiten würde. Er hatte unbeschränkt Zugang zu den Pferden und könnte sich auch leicht irgendeine Droge besorgen, die das Verhalten des Pferdes verändern würde. Aber was könnte er für ein Motiv haben? Wenn Lilah starb, wären seine Tage auf der Ranch sicher gezählt. Decker konnte sich nicht vorstellen, daß irgendwer aus dem Clan ihn weiterbeschäftigen würde. Er konnte sich noch nicht mal vorstellen, daß einer von dem geldgierigen Haufen die Ranch behalten würde. Sie schienen Decker eher wie Leute, die nach dem Motto handeln: »Laßt uns das Vermögen flüssigmachen, sobald die Leiche unter der Erde ist.«

Vielleicht war Totes von jemandem angeheuert worden, seine Chefin zu töten. Doch es war eigentlich unmöglich, sich vorzustellen, daß Totes Lilah auch nur ein Haar krümmen würde. Seine Haltung ihr gegenüber grenzte schon an Götzenanbetung. Decker mußte an Totes Gesichtsausdruck denken, als er Lilah zum Stall zurückgebracht hatte. Während er erklärte, was passiert war, war Totes’ nußfarbene Haut bleich geworden. Er war sichtlich schockiert gewesen und hatte Angst gehabt.

Trotzdem war Decker noch nicht völlig davon überzeugt, daß der Stallbursche unschuldig war. Abgesehen von Lilah, war er der einzige, der am Morgen dort gewesen war. Natürlich hätte sich jemand einschleichen und die schmutzige Arbeit tun können. Doch Totes war nie weit vom Stall entfernt – er wohnte ja sogar in einer der Boxen – und hätte einen Eindringling bestimmt bemerkt.

Decker sah auf seine Uhr. Zwei Stunden waren seit dem Kamikaze-Akt des Pferdes vergangen, doch die Hitze wirkte sich bereits auf den Kadaver aus. Er machte eine weitere Aufnahme von dem Tier.

Totes und Lilah …

Lilah. Sollte Lilah etwa an ihrem eigenen Pferd herumgedoktert haben?

Aber warum?

Um Aufmerksamkeit zu erregen … vielleicht sogar seine Aufmerksamkeit. Vielleicht hatte es ihr ja gefallen, von ihm gerettet zu werden. Vielleicht war das ja ein törichter Versuch, es noch einmal zu erleben.

Außer, daß sie nicht gewußt hatte, daß er reiten konnte. Und sie hatte wirklich furchtbare Angst gehabt.

Decker hörte Sportschuhe auf dem Boden knirschen. Ein Junge kam in schnellem Tempo auf ihn zugelaufen.

Na prima. Das hatte ihm gerade noch gefehlt.

Der Junge entpuppte sich als Mann von Mitte Zwanzig. Er stoppte so kurz vor dem Felsen ab, daß er beinah dagegen geknallt wäre. Trotz der Hitze schien ihm das Laufen nicht viel auszumachen. Er war zwar verschwitzt, roch aber völlig frisch. Sein Blick fiel auf das tote Pferd.

»Mein Gott, wie ist das denn passiert?«

»Wer sind Sie?« fragte Decker.

»Ach ja, natürlich. Wir sind uns ja noch nicht begegnet.« Der Mann streckte seine Hand aus. »Mike Ness. Ich arbeite für die Beauty-Farm – Aerobic und Gewichtstraining. Ich hab mit Ihrer Kollegin gesprochen … Detective Dunn war das doch, oder?«

»Yeah, war sie.« Decker schüttelte Ness die Hand. Beide musterten sich aufmerksam. »Das heißt, ist sie immer noch.«

Ness’ Gesicht verzog sich langsam zu einem Lächeln. »Sie bemerken aber sofort, wenn man Blödsinn redet. Kommt das von jahrelanger Erfahrung, oder hatten Sie das schon immer?«

»Sie sind echt gut, Mike. Clever, aber arrogant. Das wird noch mal ein böses Ende nehmen.«

Ness zuckte die Achseln. Decker betrachtete sein Gesicht genauer. Dunkle Haare, blaue Augen, ein Schmollmund wie James Dean – ein hübscher Junge, außer daß er sich mal hätte rasieren müssen. Aber vielleicht versuchte er ja ganz bewußt, seinem netten Gesicht eine männlichere Note zu geben. Decker fuhr über seine eigenen Wangen. Er hätte auch eine Rasur vertragen können.

»Wer hat Sie hierher geschickt, Mike?«

»Niemand. Ich wollte nur etwas Gemüse für die Küche ernten. Zucchini. Einige sind schon so richtige Baseballschläger. Die füllen wir und schneiden sie in Scheiben, aber Lilah hat sie lieber klein. Eigentlich sind sie bitter, wenn sie zu klein sind, aber die Gäste stehen auf Minigemüse. Außerdem trocknen wir die Blüten und tun sie in unsere Salate, serviert mit einer kräftigen Vinaigrette. Die haut die Damen regelrecht vom Hocker.«

»Aerobic-Lehrer, Gewichtheber, Gemüsepflücker und kulinarischer Experte. Sie kennen sich ja mit allem aus.«

Decker nahm eine Zigarette aus der Tasche. Noch bevor er sie in den Mund stecken konnte, hielt der junge Mann ihm bereits ein brennendes Streichholz hin. Decker blies es aus.

»Ich kaue nur drauf rum.«

»Versuchen Sie, sich’s abzugewöhnen? Dafür haben wir ein wunderbares Programm in der Beauty-Farm.«

»Sie sind ja richtig übereifrig. Steckt irgendwas für Sie drin, wenn die Chefin plötzlich abnibbelt?«

Ness’ Augen verfinsterten sich. »Kein Scheißcent.«

»Kein Grund, gleich ausfallend zu werden, Mike. Ich hab Ihnen bloß eine Frage gestellt.«

»Hören Sie, wenn Sie und Ihre Partnerin mich nicht mögen, ist das Ihr Problem. Aber ich hab nichts mit dem zu tun, was Lilah zugestoßen ist – nicht mit der Vergewaltigung und auch nicht damit … was auch immer hier passiert ist. Ich liebe Lilah, aber nicht so, wie Sie das meinen …«

»Was meine ich denn?«

»Daß ich sie bloß ficken will.«

»Und wollen Sie?«

»Yeah, aber ich tu’s nicht.«

»Wie bei Ms. Betham …«

»Oh, Mann …« Ness warf die Arme in die Luft und ließ sie dann an der Seite hängen. »Ich bumse nicht mit den Gästen. Ich nicht, okay?«

»Wer denn dann?«

»Wer behauptet denn, daß das jemand tut? Soweit ich weiß, leitet Lilah ein Schönheitscentrum, keinen Verleih von Zuchthengsten.«

»Da hab ich aber was anderes über Ihren lieben Kumpel gehört, Mike. Den Tennislehrer …« Decker lächelte. »Eubie Jeffers, so heißt er doch?«

Ness zuckte die Achseln. »Was ist mit ihm?«

»Ich hab gehört, er hat Probleme, die Hose zuzulassen.«

»Gerüchte gibt es überall.«

»Außerdem hab ich gehört, daß er in der Nacht, in der Lilah vergewaltigt wurde, mit einer Frau zusammen war.«

»Da müssen Sie ihn schon selbst fragen.«

»Das haben wir getan. Wissen Sie, was er uns noch erzählt hat, Mike?«

»Daß ich mit ihm zusammen war. Wollten Sie das hören?«

Decker zögerte einen Augenblick, um zu überdenken, wie er weiter vorgehen sollte. Der Junge war wirklich sehr gut. Er nahm Notizbuch und Bleistift heraus. »Wie lange waren Sie mit ihm zusammen?«

»Ungefähr eine Stunde.«

»Meiner Partnerin hat er erzählt, daß er die ganze Nacht mit Ihnen zusammen war.«

Jetzt mußte Ness erst mal nachdenken. Decker sah ihm an, wie er abwägte, ob man versuchte, ihn reinzulegen. Die Jungs hatten ihre Geschichte offenbar nicht richtig abgestimmt, oder einer von ihnen hatte sie geändert.

»Eubies Gedächtnis funktioniert manchmal nicht so gut«, sagte Ness.

»Er hat nicht bei Ihnen übernachtet?«

»Nein.«

»Wie lange war er denn da?«

»Das hab ich doch schon gesagt. Ungefähr eine Stunde … vielleicht auch zwei …«

Der gute Mike gab Eubie also ein bißchen Spielraum. »Wann kam er zu Ihnen?« fragte Decker.

»Spät.«

»Wie spät?«

»Weiß ich nicht. Vermutlich nach Mitternacht.«

»Und ist bis ungefähr zwei geblieben.«

»So ungefähr.«

»Okay.« Decker hielt den Blick auf sein Notizbuch gerichtet. »Haben Sie miteinander gebumst?«

Schweigen. Decker blickte auf. Ness war knallrot geworden. Schuldbewußtsein oder Wut?

Mit blähenden Nasenflügeln flüsterte Ness: »Sie erwarten doch wohl nicht, daß ich das beantworte?«

»Haben Sie ein Problem mit der Antwort?«

»Ich hab ihn nicht gebumst. Ich bumse keine Kerle.«

»Was haben Sie beide denn dann gemacht?« fragte Decker.

»Geredet.«

»Worüber?«

»Warum fragen Sie das nicht Eubie, da wir über seine Probleme geredet haben?«

Decker klopfte mit dem Bleistift auf sein Notizbuch. »Weil ich es von Ihnen wissen will.«

Ness verschränkte die Arme über der Brust und trat von einem Fuß auf den anderen. »Ist das ein Verhör? Brauche ich einen Anwalt?«

»Meinen Sie?«

»O Mann, Sie machen mich ganz wirr im Kopf. Ich bin eigentlich nur hergekommen, weil ich mir Sorgen um Lilah gemacht hab. Als ich Carl sah, wußte ich, daß was nicht stimmte. Er war weiß wie ein Bettlaken. Irgendwie hab ich rausgekriegt, daß was Übles mit Lilah war, aber sie wär nicht verletzt. Weiter bin ich nicht gekommen. Haben Sie mal versucht, aus Carl was rauszukriegen? Der Kerl ist nicht gerade gesprächig. Als ich dann zur Ranch gegangen bin, um mit der Chefin zu reden, kam ein Cop an die Tür. Also hab ich mir gedacht, ich seh mir die Sache selber mal an.«

Ness’ Blick wanderte zu den blutigen Felsen und zu dem toten Pferd, auf dem sich jetzt Scharen von schwarzen Fliegen sammelten. »Gott, ist das widerlich! Und Lilah ist wirklich nichts passiert?«

Decker versuchte, Ness’ Gesichtsausdruck einzuschätzen. Er wirkte ernst. »Sie ist ziemlich mitgenommen«, sagte Decker. »Aber sonst ist alles in Ordnung.«

»Was ist denn passiert?«

Decker strich seinen Schnurrbart glatt und dachte nach. Wenn Ness wußte, was tatsächlich passiert war, würde Decker ihm nichts Neues enthüllen. Wenn Ness unschuldig war, würde es ihm vermutlich bessergehen, wenn er die Wahrheit wußte.

»Lilahs Pferd ist durchgedreht und gegen den Felsen gerannt.«

»Wie hat sie …? Sie muß abgesprungen sein oder so. Ein Wunder, daß sie sich nicht das Genick gebrochen hat. Manche Leute haben wirklich einen Schutzengel.«

»Oder das Glück, mit der richtigen Person reiten zu gehen. Ich hab sie auffangen können.«

Decker wartete auf Ness’ Reaktion. Pure Überraschung.

»Sie sind mit ihr reiten gegangen? Warum das denn?«

»Wie wär’s, wenn ich die Fragen stelle?«

»Uuh, da bin ich wohl auf was Offizielles gestoßen.« Ness hatte ein Funkeln in den Augen. »Oder was Persönliches. Apropos ficken. Mir scheint, unser Cop protestiert etwas zu heftig.«

Decker ließ sich nichts anmerken. Ness stieß ein Lachen aus.

»Ist ’ne Weile her, daß ich mit jemand so pubertäres Zeug geredet hab. Soviel zum Thema gutes Benehmen, Detective.«

»Wo waren Sie heute morgen, Mike?«

Ness’ Lächeln ließ eine gewisse Respektlosigkeit erkennen. »Gelte ich jetzt also offiziell als Verdächtiger?«

Decker wartete.

»Wie früh meinen Sie denn?« sagte Ness.

»Fangen Sie einfach mal an.«

»Okay.« Er atmete heftig aus. »Ich bin aufgewacht. Das tu ich nämlich jeden Morgen. Dann … mal überlegen, fa, um sieben bin ich mit einer Gruppe joggen gegangen. Danach hab ich einen Kleiepfannkuchen gegessen und Tee getrunken. Um neun und zehn hatte ich Aerobic-Kurse. Natanya hat dann ab elf übernommen. Mittags war ich am Pool.« Er zuckte die Achseln. »Da haben Sie’s. Mein Leben – von Mike Ness. Nur irgendwie kann ich es mir nicht als Drehbuch vorstellen.«

Decker steckte sein Notizbuch ein.

»Keine weiteren Fragen? Hab ich bestanden, Detective?«

Decker nahm eine Karte aus seiner Brieftasche. »Wenn Sie irgendwas über das hier hören – oder über die Vergewaltigung –, rufen Sie mich an.«

»Also sind wir Kumpel, Detective Sergeant?«

Decker legte seine kräftige Hand auf Ness’ Schulter. Sie war überraschend knochig. »Das würd ich nicht so sagen, Mikey. Und während wir noch hier rumstehen und reden, hör ich die Zucchinis nach Ihnen rufen. Warum machen Sie sich nicht auf die Socken, bevor Sie hier irgendwelche Spuren vermasseln?«

Ness warf einen letzten Blick auf den Ort des Geschehens. »Was für ein Tempo hatten Sie denn drauf?«

Statt einer Antwort wies Decker lässig mit dem Daumen auf die Felder. Ness entfernte sich ein paar Schritte, dann blieb er noch mal stehen. »Sie müssen ein ziemlich guter Reiter sein, Detective Sergeant.«

Decker nahm seine Kamera und schoß noch ein Foto. »Ja, das muß ich wohl.«

 

Das Sun Valley Animal Care Center war ein zweistöckiger bräunlicher Bau mitten im Ödland. Im Untergeschoß waren die Praxen der Tierärzte Dr. James Vector, Dr. Vera Mycroft und Dr. Skip Baker. Im oberen Geschoß befanden sich eine Art Tierklinik und die Labors. Hinter dem Haus lagen Scheunen, Zwinger und Ställe. Die Tierärzte – Decker hatte mit allen dreien schon mal irgendwann zu tun gehabt – machten auch Hausbesuche, aber manchmal war eben ein chirurgischer Eingriff oder eine ausgedehntere Behandlung notwendig, oder die Tiere brauchten eine Weile Genesung in ungestörter Umgebung. Vector, Mycroft und Baker – kurz VMB – war eine der wenigen Praxen in der Stadt, in der auch große Tiere behandelt werden konnten.

Decker stellte das Zivilfahrzeug auf einem unbefestigten Platz ohne markierte Parkbuchten ab. Fahrzeuge mit Vierradantrieb, Tieflader und Pickups standen willkürlich auf dem Platz verteilt, jedoch ohne sich gegenseitig zu behindern. Er schaltete den Motor aus, öffnete die Tür und stieg aus. Ein heißer, staubiger Wind blies ihm heftig ins Gesicht. Als nächstes drang eine Mischung aus Muhen, Blöken, Wiehern und Iahen an sein Ohr. Ganz automatisch begann er »Old Mac-Donald« vor sich hin zu pfeifen.

Es war bereits nach vier. Trotzdem war noch sehr viel Betrieb in der Klinik. Viele Leute kamen nach der Arbeit mit ihren Tieren vorbei. Und nicht bloß mit Hunden und Katzen. Es gab auch einen Skunk, einen Käfig mit Kaninchen, zwei gerade geborene Lämmer und ein Guernsey-Kalb. Der Warteraum war ursprünglich das Wohnzimmer des Hauses gewesen. Die alten Holzböden waren durch Kunststoffliesen ersetzt worden, die bereits von den Spuren tierischer »Mißgeschicke« verfärbt waren. Die Plastikstühle, die man dort aufgestellt hatte, paßten nicht zusammen und waren voller Haare. Es roch unverkennbar nach Antiseptika und Urin. Einige Leute versuchten sich trotz des Kläffens und Jaulens ihrer vierbeinigen Freunde zu unterhalten. Sie mußten sich beinah anbrüllen.

Die Sprechstundenhilfe war eine blonde junge Frau mit klarer Haut. Sie trug Jeans, Arbeitshemd und Reeboks. Ihre Hände waren blitzsauber, die Nägel kurz geschnitten und nicht lackiert. Sie hielt einen Schäferhundwelpen, den sie mit den Händen fast völlig umfassen konnte. Sie blickte auf, als Decker hereinkam, und starrte wie gebannt auf die Tür, um zu sehen, was für ein Tier wohl hinter ihm hereintrotten würde. Decker ging zu ihr und kraulte den Welpen am Hals. Das Hündchen hob den Kopf und leckte ihn mit seiner kleinen, feuchten Zunge am Finger. Bevor Decker irgend etwas sagen konnte, war bereits eine Frau mit Hängebacken aufgesprungen, die eine Bulldogge an der Leine führte.

»Entschuldigung, ich war als nächstes dran!«

Decker hob beschwichtigend die Hände. »Ich will mich nicht vordrängen, Ma’am. Ich such bloß das Labor.«

Die Sekretärin verzog ihren Mund zu einem O. »Sind Sie von der Polizei?«

»Ja, Ma’am«, sagte Decker.

»Wegen dem verrücken Pferd?«

Decker nickte.

»Gott, ich hab gehört, wie Dr. Mycroft mit Dr. Baker darüber geredet hat. Sie hat gesagt, es war furchtbar.«

»Schön war’s bestimmt nicht«, sagte Decker.

»Was ist denn passiert?« fragte die Frau mit der Bulldogge.

»Ich würd’s Ihnen ja gern erzählen, Ma’am.« Decker senkte die Stimme ein wenig. »Aber es ist eine offizielle Angelegenheit.«

Die Frau nickte ernst.

»Ist Dr. Mycroft da?« fragte Decker.

»Sie ist oben im Labor«, sagte die Sekretärin. »Sie erwartet Sie. Gehen Sie nach hinten durch und dann die Treppe rauf zum ersten Stock. Wenn die Tür zu ist, klopfen Sie einfach.«

»Danke«, sagte Decker.

Die Sekretärin küßte den schläfrig aussehenden kleinen Schäferhund. »Du liebe Zeit, daß Menschen verrückte Dinge tun, ist ja nichts Neues – zu schnell fahren und gegen einen Felsen rasen.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber ein Pferd?«

 

Eine rauhe Stimme forderte Decker auf einzutreten. Vera Mycroft saß am Mikroskop. Ein schwarzer, von Silberfäden durchzogener Zopf lag über ihrer rechten Schulter. Mit ihren knotigen Händen drehte sie am Okular des Mikroskops. Ihre Brille, Halbgläser, die sie an einer Kette trug, lag auf ihrem Rücken zwischen den beiden Schulterblättern.

Sie sprach, ohne aufzublicken. »Ich hab im Büro schon Bescheid gesagt.«

»Das hier ist Ihr Büro, Vera.«

Sie drehte weiter an dem Okular. »Ah! Da bist du ja, du kleiner Schlingel. Hast wohl geglaubt, du könntest dich vor Mama Vera verstecken. Jetzt frag ich Sie, Pete, wo ein Wurm ist, da sind doch bestimmt noch mehr?« Sie schaute blinzelnd auf. »Das sind doch Sie, Pete?«

Decker lächelte. Veras Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. Sie behauptete, aztekisches Blut zu haben, und ihre Gesichtszüge sprachen auch dafür. Doch sie mochte nie erklären, wie sie an ihren schleppenden Südstaatenakzent kam.

»Letztes Mal war ich’s noch.«

Vera wandte ihre Augen wieder dem Mikroskop zu.

»Hier ist Nummer zwei. Und hier? Du liebe Zeit, da haben wir ja ’ne ganze Sippschaft. Wie geht’s euch denn so, meine Kleinen? Wollt wohl Pogos Darm das Leben schwer machen?«

»Reden Sie immer mit Ihren Objektträgern, Vera?«

»Würmer sind auch Tiere.« Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. »Sind Sie je dazu gekommen, die Hufe dieser kleinen Stute zu schneiden?«

Decker lächelte. »Wollen Sie mich etwa kontrollieren?«

»Ich erkundige mich nur nach meiner Patientin.« Vera erhob sich, knöpfte ihren Laborkittel auf und fächelte sich etwas Luft zu. »Sie werden das arme Ding zum Krüppel machen, wenn Sie’s nicht tun.«

»Doch, doch, ich hab ihr die Hufe geschnitten. Sie ist ein störrisches kleines Biest. Als sie merkte, daß sie mich nicht treten konnte, hat sie sich auf mich gerollt. Machte sich einfach ganz steif und ließ sich gegen mich fallen. Ich hab fast ’ne Stunde gebraucht, bis ich endlich fertig war, und dabei geschwitzt wie ein Schwein.«

Veras Lachen klang tief. »Sie hätten sie herbringen können, Pete. Da hätten Sie sich einige Arbeit erspart.«

»Machokerle wie ich sind nicht so vernünftig.«

»Man sollte doch meinen, daß Rina Sie auf sanfte Art inzwischen ein bißchen zur Vernunft gebracht hat.«

»Sollte man meinen.« Decker steckte die Hände in die Taschen.

Mit einem Schwung beförderte Vera ihre Brille auf ihre Brust. »Möchten Sie ein bißchen Pfefferminz-Eistee?«

»Sehr gerne, danke.«

»Meine Güte, ist das heiß.« Sie öffnete den Kühlschrank und ließ die Tür mehrmals hin- und herschwingen, um sich etwas Abkühlung zu verschaffen. Dann nahm sie einen Krug mit Eistee heraus, goß ihn in zwei Halbliterbecher und gab Decker einen davon. Sie kippte ihren Becher und schüttete den Tee in sich hinein. Decker konnte sich gut vorstellen, wie sie mit den alten Schluckspechten mithielt. Sie mußte an die Sechzig sein, aber er würde darauf wetten, daß sie eine ganze Fernfahrerkneipe unter den Tisch trinken könnte. Er trank seinen Tee aus, und Vera nahm ihm den Becher aus der Hand.

»Danke, daß Sie’s so schnell für mich gemacht haben«, sagte Decker. »Haben wir Glück?«

»Ja, haben wir.« Vera setzte die Hornbrille auf ihre Nase. »Kommen Sie rüber an meinen Schreibtisch, dann zeig ich Ihnen den Ausdruck.«

Das Labor entsprach zwar nicht dem allermodernsten technischen Standard, doch es schien ganz gut ausgestattet. Es besaß eine Zentrifuge für Blutproben und ein halbes Dutzend Mikroskope. An den Wänden waren Regale mit feuerfesten Gasbehältern und Flaschen mit Reagenzien und Lösungsmitteln. Ein hüfthoher Tisch mit einer sauberen weißen Resopaloberfläche diente als Arbeitsplatte. Veras Schreibtisch war aus Holz. Darauf standen ein IBM-Computer, ein Telefon und eine Schüssel mit getrockneten Blüten. Unter lautem Kreischen des Typenrads spuckte der Drucker seitenweise Zahlen aus. Decker zog einen Hocker an den Tisch und setzte sich. Vera nahm einen Ordner und las ihm daraus vor.

»Die Analyse war ganz einfach. Euer Giftmischer hat sich nichts Exotisches ausgesucht. Sagt Ihnen der Name Phencyclidin was?«

»PCP.« Decker nahm Bleistift und Notizbuch heraus. »Aber das wird doch bei Tieren als Tranquilizer benutzt, oder?«

»Kaum noch. Wir haben mittlerweile viel bessere Mittel, die nicht diese Nebenwirkungen haben.«

»Was sind denn die Nebenwirkungen bei einem Pferd?«

»Nun ja, wie Sie sich sicher vorstellen können, unterscheiden sich ein menschliches Gehirn und ein Pferdehirn sehr stark in der chemischen Zusammensetzung. Ein Pferdehirn neigt sehr viel weniger zu Selbstzerstörung, das kann ich Ihnen versichern.«

»Keine Frage.«

»Yeah, wir Menschen tun uns freiwillig die haarsträubendsten Dinge an.« Vera kratzte sich am Kopf. »Wie dem auch sei, wenn man einem Pferd PCP spritzt, wird das Zeug in den meisten Fällen das arme Tier nur außer Gefecht setzen. Aber ich hab mehrere Berichte darüber gelesen, daß PCP selbst bei großen Tieren eine entgegengesetzte Reaktion auslösen kann. Statt sich zu beruhigen, wandelt das Pferd die Droge in ein Halluzinogen um. In diesem Fall kommt es zu ähnlichen Reaktionen, wie man sie an Menschen beobachtet hat – Erregung, Muskelstarre, Überreaktionen, Herzjagen …«

»Also das, was ein Pferd zum Durchgehen bringen würde.«

»Genau das, was ein Pferd zum Durchgehen bringen würde.«

Sie legte den Ordner hin und ließ ihre Brille auf die Brust fallen. »Abgesehen von Mr. Ed, hat meines Wissens noch niemand was von einem sprechenden Pferd gehört.« Sie dachte einen Augenblick nach. »Zumindest niemand, der bei klarem Verstand ist. Ich kannte mal einen Typ, der behauptete, mit seinem Pferd verheiratet zu sein … aber das ist eine andere Geschichte. Da wir normalen Sterblichen nicht mit unseren lieben Pferden kommunizieren können, ist es schwer herauszufinden, was genau passiert ist. Aber ich würde darauf wetten, daß Ihr selbstmörderischer Palomino Dinge gesehen hat, die gar nicht da waren. Das arme Tier glaubte vermutlich zu fliegen, als es durchging.«

Decker machte einige Krakel auf seinen Block. »Ich würd gern folgendes wissen: Wie lange würde es dauern, bis die Droge wirkt?«

»Das hängt von verschiedenen Faktoren ab. Von der Menge, die gegeben wurde, dem Gewicht des Pferdes, vom Mageninhalt, anderen Stoffen im Blut, die möglicherweise die Wirkung der Droge verstärken – ich hab allerdings sonst nichts Außergewöhnliches entdecken können. Es hängt außerdem davon ab, ob die Droge intravenös, intramuskulär oder oral verabreicht wurde. Normalerweise wird sie nicht oral verabreicht, aber wenn jemand etwas Übles im Schilde führte, könnte er das Pulver durchaus unter das Pferdefutter gemischt haben. In jedem Fall könnte die Wirkung der Droge irgendwann zwischen fünfzehn Minuten und einer Stunde eintreten.«

Fünfzehn Minuten bis eine Stunde, dachte Decker. Von zehn bis elf hatte Mike Ness einen Aerobic-Kurs. Wo war Jeffers in der Zeit?

»Das war eine weitschweifige Antwort auf eine präzise Frage.« Vera spielte mit ihrer Brille. »Ich hoffe, sie hilft Ihnen trotzdem weiter.«

»Das tut sie ganz bestimmt. Vielen Dank, Vera.« Decker klopfte mit dem Bleistift auf seinen Block. »PCP. Angel Dust. Könnte man sich überall besorgen.«

»Das allerdings. Sie wären überrascht, wie viele durchgedrehte Hunde und Katzen hierher gebracht werden, weil sie das Dope von ihren Besitzern gefressen haben.« Vera sah ihn an. »Haben Sie einen Anhaltspunkt?«

»Ich denk’ bloß nach.« Decker klappte sein Notizbuch zu. »Selbst wenn es PCP an jeder Ecke gibt … um es einem Pferd intramuskulös zu verabreichen … müßte es jemand sein, der sich mit großen Tieren auskennt. Die meisten Leute, die keine Ahnung von Pferden haben, finden sie schon wegen ihrer Größe beängstigend.«

»Das stimmt. Pferde sind zwar dumm, aber sie sind stark … und starrsinnig, wenn man nicht weiß, wie man mit ihnen umgehen muß.«

Decker knickte nickend sein Notizbuch und dachte, daß Pferde tatsächlich sehr starrsinnig sein konnten. Man brauchte schon eine feste und erfahrene Hand, um ihnen eine Spritze zu verpassen.

Eine erfahrene Hand … wie die von Carl Totes.