25

Marge zog auf die rechte Spur und fädelte sich in den Strom der Fahrzeuge auf dem Freeway 605 ein. Der Verkehr lief glatt – keine umgekippten Lkws, keine Blechschäden. Die Sonne war stark. Marge konnte die Hitze durch die hochgedrehten Fenster spüren. Sie griff nach einer billigen Sonnenbrille und setzte sie auf die Nase.

»Bist du bereit für Dunns Einsicht der Woche?«

»Ich sterbe vor Aufregung«, sagte Decker.

»Lilah wurde adoptiert.«

»Bingo, Margie, du hast die Mikrowelle gewonnen.«

»Das denkst du auch?«

»Yep.« Decker zog sein Jackett aus und warf es auf den Rücksitz.

»Ich hab über Davidas Alter nachgedacht. Damals haben die Ärzte nur wenigen Frauen über Vierzig überhaupt erlaubt, ein Kind auszutragen.«

Marge nahm seine Worte zufrieden zur Kenntnis. Ihre biologische Uhr war zwar noch lange nicht abgelaufen, aber es war nett, hier etwas mehr Spielraum zu haben. »Die Zeiten ändern sich. Die Wunder der Medizin – fünfzigjährige Mütter.«

»Ich weiß nicht, ob das ein Segen oder ein Fluch ist.«

Marge rückte lachend ihre Sonnenbrille zurecht. »Weißt du, an Davidas Alter hab ich gar nicht mal gedacht, sondern an ihre erstaunliche Energie, nachdem sie angeblich gerade Lilah geboren hat. Wie sie wie ein Schwan durch die Menge geschwebt ist, ohne irgendein Anzeichen von Erschöpfung.«

»Das stimmt, aber wir dürfen nicht vergessen, daß Reed noch ein Kind war«, sagte Decker. »Davida könnte hinterher zusammengebrochen sein, und Reed hätte das nicht mitbekommen. Er hätte auch nicht gemerkt, wenn seine Mutter die Schwangerschaft nur vorgetäuscht hätte. Er lebte nicht bei ihr und Hermann. Und sogar wenn er bei ihnen gelebt hätte, hätte Davida eine Schwangerschaft vortäuschen können.«

»Wohl wahr«, sagte Marge. »Dann hätte uns nur Merritt erzählen können, ob Ms. Eversong schwanger aussah, und der wird uns gar nichts mehr erzählen.«

Mehrere Minuten fuhren sie schweigend. Sie kamen gut voran, obwohl schon fast rush-hour war.

»Falls Lilah tatsächlich adoptiert wurde«, sagte Marge, »ist das für uns überhaupt von Bedeutung?«

Decker zuckte die Achseln. »Hast du eine Theorie?«

»Okay, wie wär’s damit? Aus irgendeinem Grund wollte Davida nicht, daß bekannt wird, daß Lilah adoptiert wurde.«

»Das ist merkwürdig«, sagte Decker. »Freddy ist adoptiert, und das scheint niemand zu kümmern.«

»Yeah, aber nehmen wir mal an, Davida wollte, daß alle glauben, Lilah wäre ihre richtige Tochter.«

Decker erstarrte. »Biologische Tochter.«

Marge drehte den Kopf kurz zu ihm, dann blickte sie wieder auf die Straße. »Yeah, das hab ich gemeint. Ist alles okay, Pete?«

»Ja.« Decker zwang sich, sich zu entspannen, dann lächelte er steif. »Red weiter.«

Marge pustete kräftig. Was hatte er nur? »Wo war ich stehen geblieben?«

»Daß Davida wollte, daß alle glauben, Lilah wäre ihre biologische Tochter.«

»Richtig … okay. Merritt vermutete die ganze Zeit, daß Lilah adoptiert war. Also hat er die Memoiren gestohlen, sie gelesen, und wie erwartet, hat Hermann über Lilahs Adoption geschrieben. Dann hat Merritt sich mit seiner Mutter in Verbindung gesetzt und ihr mitgeteilt, daß er Lilah die Wahrheit zu sagen gedenkt. Darauf meinte Davida: ›Dafür hast du keinen Beweis.«‹

»Und dann hat King gesagt: ›Doch, Mom, ich hab nämlich Hermanns Memoiren‹«, sagte Decker. »›Also entweder schiebst du mir ’ne ordentliche Summe rüber, damit ich den Mund halte, oder ich erzähl’s Lilah.«‹

»Genau«, sagte Marge. »Und Davida hat nichts rübergeschoben, also hat Merritt beschlossen, Lilah die Wahrheit zu sagen. Aber Davida hat ihn erwischt, bevor er Gelegenheit dazu hatte.«

»Klingt gut, außer …«

»Aha, jetzt kommt der Kracher.«

»Kein Kracher. Bloß daß Reed uns erzählt hat, Davida hätte Merritt angerufen und ihm reichlich Schotter für einen Gefallen angeboten – und zwar vor dem Einbruch. Nehmen wir mal an, der Gefallen war, daß er die Memoiren für sie stehlen sollte. Wenn sie Angst hatte, erpreßt zu werden, warum sollte sie dann Kingston überhaupt bitten, den Safe zu knacken?«

»Vielleicht hat Merritt zunächst ja gar nicht an Erpressung gedacht. Seine Mutter hat ihm Geld für einen Diebstahl angeboten, und da Merritt knapp bei Kasse war, hat er eingewilligt.« Marge hob einen Finger. »Doch dann wurde Merritt neugierig und hat die Papiere gelesen … und hat von Lilahs Adoption gelesen. Seine Gedanken begannen zu brodeln … wie Kaffee in der Maschine.«

Decker lächelte.

»Merritt beschloß, aus seiner Entdeckung Kapital zu schlagen«, sagte Marge. »Das gefiel Davida überhaupt nicht. Sie wurde stinksauer, und der Rest ist – wie man so schön sagt – Geschichte.«

»Seine eigene Mutter bringt ihn um, um an Papiere zu kommen, die bereits zwanzig Jahre alt sind?« sagte Decker.

»Vielleicht hatte Davida ja nicht vor, ihn umzubringen. Merritts Büro war das absolute Chaos. Vielleicht hat Davida sein Büro durchwühlt, und Merritt hat sie dabei überrascht. Die Situation geriet außer Kontrolle. Bum – Unfälle kommen immer wieder vor.«

Decker richtete die Düse der Klimaanlage auf sein Gesicht. »Vielleicht hat Merritts Tod gar nichts mit Davida oder den Memoiren zu tun. Deine Theorie von einem durchgedrehten Abtreibungsgegner ergibt plötzlich Sinn. Merritt experimentierte ja tatsächlich mit abgetriebenen Embryos und Föten herum. Da würden eine Menge Leute verdammt stinkig drauf reagieren.«

Sie verfielen in Schweigen.

Schließlich sagte Marge: »Hat Burbank eigentlich je durchgegeben, woran Merritt genau gestorben ist?«

»Yeah, ich hatte dir einen Zettel auf den Schreibtisch gelegt, als du im Parker Center warst.«

»Hab ich wohl übersehen.«

»Drei Schußverletzungen – eine am Hals und zwei in der Brust, von einem Smith & Wesson Kaliber 38. Jede einzelne davon hätte schon tödlich sein können.« Decker strich sich den Schnurrbart glatt. »Weißt du, so sehr mir die Adoptionstheorie auch gefällt, ich sehe sehr viel von Davida in Lilah.«

»Für mich sehen die sich überhaupt nicht ähnlich.«

»Das tun sie auch nicht. Aber der Ausdruck, die Manierismen …«

»Umfeld, Pete.«

»Die Stimme. Das ist genetisch bedingt.«

»Lilah ist eine gute Schauspielerin. Ich sehe ehrlich gesagt überhaupt nicht viel Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern, außer daß sie alle ziemlich hell sind. Selbst der dunkeläugige Reed hat sehr helle Haut. Für mich hat Lilah genauso viel Ähnlichkeit mit ihren Halbbrüdern wie mit Freddy.«

»Mag sein.« Decker klappte die Sonnenblende nach unten.

»Ich weiß nicht. Ich sehe einfach diese Verbindung zwischen Davida und Lilah, ich weiß nur nicht genau, was es ist.«

»Wie wär’s mit verkorkste Persönlichkeit«, sagte Marge.

Decker mußte an seine eigenen Halbbrüder und -schwestern denken, die er vor acht Monaten zum ersten Mal gesehen hatte. Er sah keinem von ihnen ähnlich, aber er kam nach seinem biologischen Vater, und mit seinen Halbgeschwistern hatte er die Mutter gemeinsam.

Seine Blutsverwandten – fünf religiöse Juden, die in New York lebten. Eine merkwürdige Verstrickung von Ereignissen hatte sie zusammengeführt. Jetzt, nachdem alles vorbei war, hielt er noch Kontakt zu Shimon, dem ältesten, und Jonathan, dem jüngsten – etwa ein halbes Dutzend Briefe und sogar einige Telefongespräche. Shim war ultra-orthodox. Er hatte einen langen schwarzen Bart und trug immer einen langen schwarzen Mantel. Jonathan war ein glatt rasierter konservativer Rabbi, der legere Kleidung bevorzugte. Oberflächlich betrachtet hatten sie alle drei nichts gemeinsam – sowohl vom Aussehen her als auch sonst. Und dennoch war da diese Verwandtschaft.

Seine Gedanken schweiften zu seinem Bruder Randy. Sie waren nicht blutsverwandt, trotzdem hatten sie viel gemeinsam. Beide waren Polizisten, beide hielten sich gern im Freien auf, und beide waren treue und liebevolle Söhne und gute Väter. Aber von der Persönlichkeit her waren sie völlig unterschiedlich. Decker war der Ernste, Randy der Unbekümmerte und Abenteuerlustige. Dann dachte Decker über seine Stiefsöhne nach – richtige Brüder, die im selben Umfeld aufgewachsen waren. Sie waren sich überhaupt nicht ähnlich.

Das ergab alles keinen Sinn. Es wurde Zeit voranzumachen.

»Vielleicht sollten wir Davida unsere kleine Theorie unterbreiten, Pete«, sagte Marge. »Mal sehen, wie sie reagiert.«

»Ich weiß nicht, ob jetzt der richtige Zeitpunkt dazu ist, Marge. Davida ist eine verdammt gute Schauspielerin. Wenn wir es beiläufig zur Sprache bringen, könnte sie es vermutlich überzeugend bestreiten.« Decker zog eine Augenbraue hoch.

»Und, ehrlich gesagt, möchte ich sie gerade jetzt nicht reizen. Dann wendet sie sich an die Presse, und Morrison ist stinksauer.«

»Haben wir denn irgendeine Möglichkeit, die Adoptionstheorie zu überprüfen?«

»Abgesehen von einer Blutuntersuchung?«

»Genanalyse …«

»Davida und Lilah ein paar Haare ausreißen?« Decker zuckte die Achseln. »Wäre machbar, aber ich weiß nicht, wie wir das vor dem Department rechtfertigen sollten. Ganz zu schweigen von der Union für Bürgerrechte. Das wäre wirklich ein Eingriff in die Privatsphäre.«

»Beweis für einen Mord?«

»An diesem Punkt noch nicht.«

»Da hast du recht.«

»Ich werde diese alte Dame anrufen, von der mir Perry Goldin erzählt hat, die angeblich Hermann Brecht noch aus Deutschland kannte. Vielleicht kann sie mir ja das ein oder andere über Davidas Schwangerschaft erzählen.«

»Vielleicht.« Marge schaute kurz zu Decker. »Ist wirklich alles okay mit dir?«

Es folgte ein längeres Schweigen. Dann sprudelten die Worte aus Decker heraus. »Marge, ich bin selbst adoptiert.«

»Was?« Plötzlich merkte sie, daß das Auto vor ihr langsamer fuhr, und latschte auf die Bremse. »O Gott, tut mir leid! Alles okay?«

Decker rieb sich den Nacken. »Ein kleines Schleudertrauma hat noch nie jemandem geschadet.«

Während Marge im Schrittempo weiterfuhr, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen. »Peter, warum hast du mir das denn nie erzählt?«

»Ich hab’s nicht für wichtig gehalten.«

»Ist es auch nicht, aber …« Ihr Kopf war voller Fragen. »Wie konntest du nur so etwas vor mir geheim halten?«

»Bist du sauer auf mich?«

»Ich weiß nicht …« Sie zögerte. »Vielleicht.«

»Tut mir leid.«

»Schon okay.« Marge trommelte mit den Fingern auf das Lenkrad und wartete, daß Decker einige Details herausrücken würde. Doch wie immer spielte er den Taubstummen. »Ich hab da keine Probleme mit … daß du adoptiert bist.«

»Ich weiß.«

»Ich meine nur, wenn wir schon zusammenarbeiten, sollte es keine größeren Geheimnisse zwischen uns geben.«

»Einverstanden.«

»Ich hätte es dir erzählt.«

»Ich weiß.«

»Weiß Rina es?«

»Ja.«

Marge schwieg.

»Ihr mußte ich es sagen, Margie. Damit wir heiraten konnten …«

»Du schuldest mir keine Erklärung.«

Decker fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Du bist doch sauer.«

Marge tätschelte ihm seufzend das Knie. »Ich bin verletzt, alter Junge. Hast du denn kein Vertrauen zu mir?«

»Es tut mir leid. Ich hätte es dir schon längst sagen sollen. Aber ich bin froh, daß ich es dir jetzt gesagt habe. Damit fällt mir eine Last von den Schultern.«

»Warum frißt du immer alles in dich rein, Pete?«

»Weil ich ein Macho bin.«

Marge lachte.

»Jetzt überleg dir mal folgendes«, sagte Decker. »Du bist sauer, weil du plötzlich erfährst, daß ich adoptiert bin, wie sauer müßte da erst Lilah sein, wenn sie herausfände, daß sie adoptiert wurde und man es ihr nie gesagt hat.«

»Sie wäre tierisch sauer … auf Davida.«

»Vielleicht ist das der Grund, weshalb Davida nicht wollte, daß sie es erfährt«, sagte Decker. »Denn wenn sie wüßte, was man ihr da verschwiegen hat, würden mehr als nur ein paar Funken fliegen.«

»Aber warum hat Davida es ihr überhaupt verschwiegen?«

»Manchmal empfinden Adoptiveltern die biologischen Eltern als Bedrohung. Das ist zwar albern, aber …«

»Sprichst du aus eigener Erfahrung, Pete?« fragte Marge.

»Vielleicht ein bißchen.«

 

Im offiziellen Telefonbuch gab es keinen Eintrag unter Greta Millstein, aber bei den nicht verzeichneten Fernsprechteilnehmern fand Decker eine Nummer für G. Millstein. Er wählte sie, ließ das Telefon zehnmal klingeln und hängte dann ein.

Er massierte seine schlimme Schulter, schluckte ein Advil und sah auf die Wanduhr im Dienstzimmer. Fünf vor fünf. Jetzt hatte er fast vierzehn Stunden ununterbrochen gearbeitet. Es wurde Zeit, Schluß zu machen.

Doch statt dessen nahm er sich einen Stapel Fotokopien von Merritts monatlichen Visa-Abrechnungen und ging die einzelnen Positionen mit einem Bleistift durch. Nichts schien ungewöhnlich, außer daß Merritt einen teuren Geschmack hatte – Bally-Schuhe, die Herrenabteilung von Neiman Marcus, Scotland House of Cashmere, Gucci, Dunhill, Hermès, Aristocrates. Der Mann brauchte dringend Geld für seine Forschungen, trotzdem gab er reichlich Kohle für Klamotten aus.

Allerdings wäre ein schäbig gekleideter Gynäkologe in Palos Verdes nicht gerade der Hit.

Trotz dieser exklusiven Einkäufe war Merritt mit seinen Zahlungen nicht im Rückstand, sondern hatte das Visa-Konto jeden Monat ausgeglichen. Im Kästchen für Überziehungsgebühren stand stets $ 0.00.

Weiter mit American Express. Auch hier kein Hinweis auf überfällige Rechnungen oder Überziehungsgebühren. Und Merritt benutzte auch nicht die eine Kreditkarte, um die andere auszugleichen. Decker hatte gerade die MasterCard-Abrechnungen zur Hälfte durchgesehen, da stürmte Lilah in den Raum. Der Klang ihrer Stimme versetzte ihm einen heftigen Stich in den Magen. Er legte die Papiere hin und blickte auf.

Sie trug ein eng anliegendes schwarzes Kleid, dessen Saum gut acht Zentimeter über ihren Knien endete. Ihre langen Beine waren so braun wie ihre Arme und ebenfalls unbedeckt. An den Füßen trug sie lederne Riemchenschuhe, deren Sohlen bei jedem Schritt auf den Fußboden klatschten. Ihr langes Haar war offen und wehte wie ein goldenes Vlies über ihren gebräunten Schultern.

Während Decker sich ein weiteres Advil in den Mund steckte, sah er, wie Marge Lilah entgegenging, um sie aufzuhalten. Sie trafen etwa sechs Meter vor seinem Schreibtisch aufeinander. Lilah versuchte, sich an Marge vorbeizudrängeln, doch Marge war größer und kräftiger und wirkte wie eine Mauer. Dennoch bekam jeder im Büro die Konfrontation sofort mit, und alle waren bereit, wenn nötig einzugreifen. Obwohl sie rot vor Zorn war, spürte Lilah die Feindseligkeit, die ihr entgegenschlug. Sie zog ihr Kleid zurecht und stellte sich kerzengerade hin.

»Ich möchte bitte mit Sergeant Decker reden«, sagte sie mit leiser Stimme. »Würden Sie freundlicherweise zur Seite treten?«

»Miss Brecht, ich muß Sie leider bitten, draußen zu warten«, sagte Marge. »Ich werde Ihre Nachricht weitergeben …«

»Er sitzt doch da!« Lilahs Stimme wurde lauter, und sie zeigte auf Decker.

»Warten Sie bitte draußen, Miss Brecht. Ich komme sofort zu Ihnen …«

»Das ist ja unerhört … einfach …«

Lilah brach in Tränen aus und begrub ihr Gesicht in den Händen. Marge legte einen Arm um die schluchzende Frau und steuerte mit ihr auf ein leeres Vernehmungszimmer zu. Auf dem Weg drehte sie sich zu Decker um und deutete ihm mit einer Kopfbewegung an, ihnen zu folgen. Decker streckte zwei Finger in die Luft – zwei Minuten.

Marge führte Lilah in das Zimmer und schloß die Tür. Als Decker kam, hatte Lilah sich gerade einigermaßen beruhigt. Aus ihren Augen schossen blaue Blitze.

»Ich hab Ihnen doch gesagt, daß Kingston etwas zugestoßen ist!« Sie stöhnte. »Und zwar was Schlimmes! Ich habe prophetische Kräfte! Ich weiß diese Dinge!«

»Wer hat denn Ihren Bruder umgebracht?« fragte Marge.

»Woher soll ich das denn wissen?« Lilah sackte auf dem Stuhl zusammen. »Warum passieren mir nur so furchtbare Dinge? Warum? Warum?«

Decker wartete einen Augenblick ab, dann sagte er: »Lilah, worüber haben Sie mit King gesprochen, als er Sie gestern anrief?«

»Gestern …« Sie trocknete sich die Augen und seufzte. »Das scheint Lichtjahre entfernt. Vielleicht ist es das ja auch. Vielleicht lebe ich bereits in einer anderen metaphysischen Welt.«

Decker und Marge blickten einander an.

»Lilah?« drängte Decker.

»Worüber wir gesprochen haben?« Erneut traten ihr Tränen in die Augen. »Über alte Zeiten. Nach allem, was ich durchgemacht hatte, war ich so froh, von ihm zu hören. Er war mein großer, starker, älterer Bruder. Das hat mir gutgetan.« Ihr Blick verhärtete sich langsam. »Mit Kingston lief alles wunderbar, solange ich ihm aufs Wort gehorchte. Die Probleme zwischen uns fingen an, als ich plötzlich eigene Ideen hatte.« Mit einem Mal war ihr Gesicht ganz ausdruckslos. »Es ist Mutter. Sie steckt hinter all dem Bösen.«

Marge warf Decker einen kurzen Blick zu. »Wie meinen Sie das?«

»Wir sind alle ihren bösen Kräften ausgeliefert.«

»Was sind das für böse Kräfte, Lilah?« sagte Decker.

»Sie hat die Familie mit einem Fluch belegt. Das kann sie, weil sie eine Hexe ist.«

Marge zog eine Augenbraue hoch. »Warum sollte sie ihre eigene Familie verfluchen?«

»Sie haßt mich«, sagte Lilah völlig emotionslos. »Sie beneidet mich um meine Jugend, meine Schönheit, meine Kraft, Gutes zu tun – die genau so stark ist wie ihre bösen Kräfte.

Außerdem ist sie eifersüchtig – eifersüchtig auf die Liebe, die mein Vater für mich empfunden hat, eifersüchtig auf die Liebe, die Kingston für mich empfand. Das hat sie völlig fertiggemacht, als wir noch alle zusammenlebten. Als mein Bruder und ich dann unsere eigenen Wege gingen, war sie sehr froh. Gestern kam er dann, um sich mit mir zu versöhnen. Das konnte Mutter nicht ertragen. Sie hat ihn umbringen lassen.«

»Lilah«, sagte Decker, »hat sich Ihre Mutter irgendwie in dieser Richtung geäußert …«

»Natürlich nicht! Sie ist doch nicht blöd!«

»Haben Sie denn irgendeinen Beweis für Ihre Theorie?« fragte Marge.

»Ich brauche keinen Beweis. Ich weiß es.« Sie sah Decker an. »Ich weiß es einfach.«

Erneut herrschte Schweigen im Zimmer.

»Aber deswegen bin ich nicht hier«, erklärte Lilah schließlich.

»Weswegen denn?« fragte Marge.

Lilahs Gesicht wurde wieder lebhafter. »Wegen Carl Totes! Ich habe gehört, daß Sie die Frechheit hatten, ihn zu verhaften, weil er mich angeblich vergewaltigt hat! Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß er es nicht war.«

»Lilah«, sagte Decker sanft, »wir haben eindeutige Beweise, daß Totes mit der Vergewaltigung zu tun hatte.«

»Das ist doch absurd! Was für Beweise? Da muß ein Irrtum vorliegen!«

»Das Labor hat es zweimal getestet«, sagte Marge.

»Dann hat sich das Labor eben geirrt!« beharrte Lilah. »Lassen Sie’s noch einmal untersuchen!«

»Wir können einen weiteren Test durchführen lassen, Miss Brecht, aber dabei wird das gleiche herauskommen«, sagte Marge.

»Wir werden Totes dem Bezirksstaatsanwalt vorführen, Lilah«, sagte Decker. »Es sei denn, Sie haben uns was zu sagen, das unsere Beweise widerlegt.«

»Ich sag doch, daß es nicht …« Lilah hielt inne. »Was würde denn die Beweise widerlegen?«

»Das müssen Sie uns schon sagen, Miss Brecht«, sagte Marge.

»Ich hab Ihnen doch erklärt, daß er es nicht war«, sagte Lilah. »Reicht das denn nicht?«

»Sie hatten die Augen verbunden«, sagte Decker.

»Er war es nicht!«

»Wie ist denn dann sein Sperma auf Ihr Laken gekommen?« Decker starrte sie an.

»Warum sehen Sie mich so an?« wollte Lilah wissen.

»Ich hab mich gerade gefragt, ob Sie und Carl nicht vielleicht ganz freiwillig …« Decker ließ die Worte in der Luft hängen.

Lilahs Augen sprühten. »Ich? Mit Carl? Das ist ja einfach widerlich!«

»Ich wollte nur sichergehen …«

»… eine teuflische und gemeine Unterstel …!« Lilah stand auf und starrte die beiden wütend an. »Sie sind das reine Böse. Voller böser Gedanken und böser Taten! Vielleicht ist Mutter ja gar nicht für die schlimmen Dinge verantwortlich, die mir widerfahren sind. Vielleicht sind Sie der Teufel, der in Verkleidung des Guten auftritt. Ich wünsche Ihnen beiden die Pest an den Hals!« Sie konzentrierte den Blick auf Decker. »Und Ihrer Frau und dem ungeborenen Baby auch.«

Sie stürzte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu.

Marge und Decker saßen einen Augenblick schweigend da. Dann sagte Decker: »Warum konnte sie ihre Flüche nicht auf mich beschränken? Warum mußte sie Rina und das Kind mit hineinziehen?«

»Die Frau ist mir unheimlich!«

»Mir auch«, sagte Decker. »Heute werde ich meine Abendgebete sprechen, das kann ich dir versichern.«

»Sprich für mich eins mit.« Marge seufzte. »Also, was meinst du?«

»Tja …« Decker setzte sich gerade. »Ich muß über ihre Macken hinwegsehen und mich fragen, ob sie uns Theater vorgespielt hat oder nicht.«

»Und zu welchem Schluß kommst du?«

»Zuerst dachte ich, sie wollte versuchen, Totes zu schützen. Doch als ich dann andeutete, sie hätte vielleicht mit ihm gebumst, ist sie völlig ausgerastet. Weißt du, Rina meint, Lilahs Vergewaltigung könnte ein Spiel gewesen sein, das zu weit ging …«

»Wie ist sie denn darauf gekommen?«

»Sie hat gesagt, es hätte Lilah richtig angemacht, als ich sie letzte Nacht angebrüllt habe. Jetzt glaube ich, daß so etwas vielleicht zwischen ihr und Totes passiert ist. Sie haben’s miteinander getrieben, irgendwelche Spielchen gespielt, und das Ganze ist außer Kontrolle geraten. Und jetzt hat sie Angst, daß Carl auspackt. Dem wollte sie zuvorkommen, indem sie uns weismacht, daß sie selbstverständlich nicht mit Carl gebumst hat. Im Grunde wollte sie nur ihren eigenen Arsch retten, für den Fall, daß Carl was sagt. Sie will nicht wie ein Idiot dastehen.«

»Klingt ziemlich weit hergeholt, aber wer weiß?« Marge schüttelte den Kopf. »Für mich ergibt das alles keinen Sinn. Die Vergewaltigung, das wild gewordene Pferd, der Diebstahl, der Mord an Merritt. Ich muß irgendwas Entscheidendes übersehen.«

»Wenn ich nur wüßte, was«, jammerte Decker.

Es klopfte an der Tür. Eine Sekunde später streckte Hollander den Kopf ins Zimmer. »Pete, Leitung drei, Devonshire, Mordkommission.«

Marge lächelte. »Hast du mit denen schon über mich gesprochen?«

Decker lächelte verlegen. »Ehrlich gesagt noch nicht.« Er stand auf, drückte auf das blinkende Lämpchen am Wandtelefon und sagte: »Decker.«

Die Stimme am anderen Ende klang rauh. »Scott Oliver, Mordkommission Devonshire. Sind Sie derjenige, der die Vergewaltigung von Lilah Brecht am Hals hat?«

»Ja, das ist mein Fall.«

»Haben Sie schon irgendwas rausgekriegt?«

»Wir haben einen Verdächtigen verhaftet. Warum?«

»Wir haben heute früh einen Toten in einer ausgebrannten Limousine gefunden. Kein Nummernschild, und der Typ ist fast zu Toast verbrannt, hatte aber noch genug Haut an den Fingern, um ein paar Abdrücke abzunehmen. Wußten Sie schon, daß Finger sich bei Hitze rein reflexmäßig krümmen, um die Fingerspitzen zu schützen?«

»Yeah. Konnten Sie ihn identifizieren?«

»Hab die Abdrücke durch den Computer laufen lassen und eine hübsche Liste von Verhaftungen bekommen. Der Tote wurde mehrfach wegen Einbruch verhaftet und ist auf Bewährung draußen. Als ich seine Bewährungshelferin angerufen hab, hat die mir erzählt, er hätte einen Job. Wollen Sie wissen, bei wem?«

»Bei wem denn?«

»Bei Davida Eversong. Das ist doch die Mutter von Lilah Brecht, oder?«

Decker spürte, wie sein Herz schlug. »Das stimmt.«

»Zwei schwere Verbrechen innerhalb einer Familie … sehr merkwürdig.« Oliver räusperte sich. »Ich dachte nur, wenn Sie in Ihrem Fall bereits was rausgekriegt hätten, könnte uns das vielleicht weiterhelfen.«

»Möglicherweise. Wer war der Tote?«

»Mr. Toast? Eversongs Chauffeur – ein gewisser Russ Donnally. Ich nehme an, daß die Limousine ihr gehörte. Sagt Ihnen der Name irgendwas?«

»Nein.« Er wandte sich an Marge. »Hast du mal was von einem Typ namens Russ Donnally gehört? Er war der Chauffeur von Davida Eversong.«

Marge schüttelte den Kopf.

»Wollen Sie wissen, was das Interessanteste an der Sache ist?« fragte Oliver.

»Noch mehr?«

»Ist das Leben jemals einfach? Vor etwa fünf Minuten krieg’ ich einen Anruf vom Labor. Im Auto wurde eine Brieftasche gefunden. Zwar verbrannt, aber noch genug da, um den Inhaber des Führerscheins zu identifizieren. Und das war nicht Donnally. Sagt Ihnen der Name Michael Ness was?«

Decker schloß kurz die Augen. »Detective, dann haben wir tatsächlich einige gemeinsame Interessen. Können wir uns in ein, zwei Stunden irgendwo treffen?«

»Klar. Sagen wir um sieben.«

»Ausgezeichnet.«

»Sie sind doch in Foothill«, sagte Oliver. »Wir könnten uns auf halber Strecke zwischen unseren Dienststellen treffen bei Willy’s im Roscoe and Woodman. Glauben Sie, daß das Department 4,99 für ein Special Dinner springen läßt?«

»Dafür hätten wir sicher gute Argumente. Solange Sie nicht übermütig werden und auch noch Dessert bestellen.«