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»Das Dümmste, was ich je erlebt habe.« Emma Jan hatte mir Sushi von Byerly’s mitgebracht. Das tat es zur Not auch. »Wer geht denn auf einen Bewaffneten los? Hast wohl zu viel Law and Order geglotzt «

»Ich verabscheue Law and Order

»Cadence wird sich schwarzärgern«, fuhr sie fort, während sie meine dick verbundene Schulter beäugte.

»Warum, glaubst du wohl, bin ich immer noch hier? Ich möchte es so lange wie möglich hinausschieben. Danke übrigens für das Sushi.«

»Nichts zu danken. Hör mal, ich bin gestern Abend wieder auf dem Schießstand gewesen. Dan hat nach dir gefragt. Ich hab ihm gesagt, dass du in einem oder zwei Tagen rauskommst. Er sagt, er hätte ein paar Tec-22er da, die du ausprobieren kannst.«

Ich schnappte glücklich nach Luft. »Echt? Wahnsinn «

Sie lachte. Sie hatte eine neue Schultertasche ich fühlte mich immer noch ein wenig schuldig, weil ich die alte ruiniert hatte ..., die mit Servietten und Essstäbchen vollgestopft war. »Gerade hast du dich wie ein kleines Kind angehört. Zu Weihnachten.«

»Ja, aber eine Tec-22er, Emma Jan!«

»Ja, irre, reg dich wieder ab. Wenn dir noch eine Naht platzt, wird Michaela mir was zerreißen. Haben sie dich wirklich am anderen Ende des Krankenhauses gefunden? Bist du schlafgewandelt, oder warst du im Fieberwahn?«

»Im Fieberwahn«, antwortete ich. Ein Fieber, das vermutlich so bald nicht vergehen würde.

»Na ja, Gott sei Dank hast du dich nicht noch mal verletzt. Du bist nämlich ein klein wenig mit deinem Papierkram im Rückstand, und Michaela wünscht keine weitere Verzögerung.«

»Zweifellos.«

Danach schwieg Emma Jan eine Weile. Sie rutschte hin und her, um auf dem unbequemen Stuhl eine angenehme Sitzposition zu finden. Auch ich schwieg. Ich dachte an Luann. Überdies konnte ich mich nicht entsinnen, jemals mit einem anderen Menschen so vertraut gewesen zu sein, dass ich einfach so mit ihm dasitzen konnte. Ohne zu reden.

»Emma Jan«, brach ich schließlich das Schweigen, »warum, glaubst du, hat sie das getan? Warum jetzt, nach der langen Mordserie, nach dieser jahrzehntelangen Familiengeschichte?«

Sie wirkte überrascht und hörte auf, in ihrer neuen Tasche herumzukramen. »Ist doch ganz einfach, Shiro. Alles, was ihre Familie getan hat, tat sie aus Hass. Am Anfang mag vielleicht das edle Motiv der Rache gestanden haben, aber nach einer Weile ging es nicht mehr um Rache. Sondern nur noch darum, den Hass für die kommenden Jahre lebendig zu halten. Und so haben sie am Ende alles aus Hass getan. Luann dagegen hat alles aus Liebe getan.«

»Aus Liebe«. Ich ließ mir das Wort auf der Zunge zergehen. »Das kommt mir viel zu einfach vor.«

»Ja, sicher, Shiro. Es klingt dämlich oder viel zu einfach, aber manchmal sind die Dinge eben so. Mehr steckt nicht dahinter. Mehr wirst auch du nicht finden, also such lieber nicht danach.«

Ein guter Rat.

»Ich bin müde, Freundin. Ich glaub, ich ziehe mich jetzt ein wenig zurück. Ruh mich aus.«

Emma Jan machte große Augen. »Du meinst gleich kommt «

»Ja.«

Sie beugte sich vor und legte ihre Hand auf meine. »Ich danke dir, dass du mich gewarnt hast. Ruh dich aus. Morgen bringe ich dir wieder Sushi. Aber jetzt werd ich möglichst schnell verschwinden. Seh dich dann.« Kurz berührten ihre Lippen meine Stirn, dann verschwand sie. Ich hörte, wie sie den Krankenhausflur entlangrannte.

Tja. Genug krankgespielt. Es war höchste Zeit.