30

»A-haaa!«, kreischte ich so laut, dass Emma Jan erschrocken zusammenzuckte. »Hab ich’s doch gewusst! Pansexuell. Ich wusste, dass ich’s wusste. Es heißt pansexuell; die korrekte Bezeichnung lautet pansexuell.«

Was mir eben widerfahren war, war jedoch äußerst merkwürdig. Wenn Shiro zum Vorschein kam, blieb sie normalerweise eine Weile. Diesmal jedoch nicht.

Diesmal hatte sie sich an ein Wort erinnert, das mir partout nicht einfallen wollte, ein Wort, das ich nicht kannte, weil nämlich sie diejenige war, die wissenschaftliche Publikationen las, nicht ich. Also tauchte sie lange genug auf, um mir das Wort mitzuteilen, und sank dann wieder in mein Unterbewusstsein oder meine Psyche oder was auch immer zurück und überließ mir die Herrschaft über unseren Körper, damit ich weiterarbeiten konnte.

Das war nützlich. Was meine Schwester soeben für mich getan hatte, brachte uns voran, erleichterte mir das Leben. Nicht wie sonst, wenn sie zum Vorschein kam, sobald ich Gefahr lief, auf unterschiedlichste Weise verletzt oder verstümmelt zu werden. Nein, diese Art Unterstützung war sehr subtil und ereignete sich nicht eben oft. War sie etwas, das mir gefiel?

Mein Arzt drängte zwar auf Reintegrierung meiner verschiedenen Persönlichkeiten, aber wir zeigten uns bisher äußerst therapieresistent. Meine Schwestern wollten nicht verschwinden, und ich wollte sie nicht töten. Mein Arzt betonte immer wieder, dass während dieses Prozesses niemand sterben werde. Vielmehr würden wir in einer neuen, vierten Persönlichkeit weiterleben, und diese Persönlichkeit wäre heil. Es würde Cadence Jones’ Persönlichkeit sein, die seit Jahrzehnten nicht mehr gesehen worden war. Die Persönlichkeit, die ich bis zu jenem Tage gewesen war, als meine Mutter meinen Vater erschlug.

Vielleicht vielleicht würde es so sein. Vielleicht war Shiros kurzes Auftauchen ein kleiner Vorgeschmack. Und vielleicht wäre es für uns drei das Beste, zukünftig nur noch eine zu sein.

Ich konnte es nicht voraussehen. Und weil ich ein Feigling war, wollte ich es auch nicht herausfinden.

»Wenn ihr fertig seid, dieses Was-macht-George-an zu spielen, können wir uns dann bitte, bitte wieder auf unsere heimtückischen Morde konzentrieren, die wir uns spaßeshalber vorgenommen haben? Scheiße, und ich hab immer gedacht, ich wäre egozentrisch!«

Da hatte er nicht ganz unrecht. Wenn dich sogar ein Soziopath bezichtigt, zu sehr mit dir selber beschäftigt zu sein, dann wird es höchste Zeit, dein Leben zu überdenken.

Da Emma Jan und ich schwiegen, fuhr er fort: »Also? Alle wieder an Bord? Schick.« Und er funkelte uns wütend an, gab uns wortlos zu verstehen, dass wir, die absolut TV-freien Dummtussen, es ja nicht noch einmal wagen sollten, ihn zu unterbrechen.

»Ich fahre fort. Worauf ich hinauswill: Behrman hat für den Abend kein Alibi, also muss er lügen, nicht wahr? Also erzählt er uns, er wäre im Kino gewesen und hätte was zum Teufel gesehen?«

»The Fast and the Furious, Teil VI«, las Emma Jan aus ihren Unterlagen vor.

»Achgott, achgott, achgott.« George schüttelte ungläubig den Kopf und strich seine Krawatte glatt (überfahrener Pudel vor schwarzem Hintergrund). »Lasst mich bloß nicht von diesen verdammten Fortsetzungen anfangen. The Fast and the Furious ist so gut gelaufen, dass es unbedingt noch einen sechsten Teil geben musste? Einen sechsten? Wo es doch bloß einen Independence Day gibt? Jesus. Unglaublich. Was man so alles erfährt, wenn man zufällig keine Bombe zur Hand hat.

Aber egal Wisst ihr, was in dem Kino an dem Tag, als Behrman dort gewesen sein will, passiert ist? Bei der letzten Morgenvorstellung sind gewaltige Probleme mit dem Projektor aufgetreten. Sie konnten ihn nicht reparieren, deshalb haben sie allen Besuchern den Eintritt zurückerstattet was die Schwachköpfe, die so einen Schwachsinn glotzen, übrigens nicht verdient haben. Und für den Film, den Behrman angeblich gesehen hat, sind gar keine Tickets mehr verkauft worden. Das hätte er uns natürlich gleich erzählen sollen, aber er hat es nicht getan. Und zwar deshalb nicht, weil er gar nicht im Kino war. Kapiert?«

»Ich kapiere durchaus, dass er sich das falsche Alibi ausgesucht hat und einen schlechten cineastischen Geschmack besitzt, aber ...«

»Überlegt doch mal. Von einem solchen Schlamassel wird der Kinobetreiber doch niemandem was verraten, es steht in keiner Zeitung. Sie haben heimlich, still und leise ihren Projektor repariert, um wieder Eintritt für ihren beschissenen Film nehmen zu können. Ich gebe dir recht, Behrman hat sich das falsche Alibi ausgesucht, aber es kommt noch besser, denn er hat keinen Schimmer, dass wir wissen, dass er gelogen hat. Und so kriegen wir ihn. Damit kriegen wir ihn klein.«

»Klasse Analyse«, lobte ich und meinte es auch so. Shiro war, schon bevor wir angefangen hatten, unsere BHs zu tauschen, eine glatte Einser-Schülerin gewesen. Wir konnten darauf bauen, dass sie die Geschichte ausgraben und auf dem Tablett servieren würde. Und George hatte diesen Ho-ho-jagt-den-Fuchs-Blick in den Augen. »Oh, wow, ist ja klasse, dass du’s klasse findest.«

»Also!« Emma Jan war aufgesprungen. »Dann man los, auf zu Behrman. Wollt ihr auf dem Weg etwas über den Heiligen Antipas hören, der in einem Ofen ...«

»Nein, danke.«