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Ich hatte weder Zeit noch Lust, mir Cadence’ weinerliche Litanei anzuhören. Unsere neue Kollegin fuhr, wie George es ausdrücken würde, »aus der Haut«. Ich fand die Vorstellung zwar widerlich, musste jedoch zugeben, dass er es verstand, sich plastisch auszudrücken.

Die gesamte westliche Wand von Behrmans Wohnzimmer bestand aus einem Spiegel. Dieser war zwar an vielen Stellen blind und verschmiert, aber es war trotzdem ein Spiegel. Und dieser Spiegel war das Erste, worauf Agent Thymes Blick fiel, als sie hinter Behrman das Zimmer betrat. Was ja an sich kein Problem gewesen wäre nur dass Agent Thyme dummerweise unter einer Spiegel-Halluzination litt.

»Achtung!«, kreischte sie, laut genug, um den Spiegel zu zertrümmern was angesichts der Größe der Splitter das Problem einerseits gelöst, andererseits aber auch verschärft haben würde. Thymes normalerweise angenehme Altstimme steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Diskant. »Sie will Sie umbringen!«

Dann griff sie den Spiegel an.

Ich schaffte es im letzten Moment, mich zwischen sie und den Spiegel zu werfen, doch Thyme hatte so viel Schwung, dass mein Rücken mit Wucht gegen den Spiegel krachte. »Aufhören!«, stieß ich hervor und verkniff mir einen Schmerzenslaut. Wenn Cadence ihren Körper zurückerhielt, würde sie sich wundern, warum ihre Nieren schmerzten. Und wahrscheinlich auch über das Blut beim Wasserlassen. Vielleicht sollte ich ihr einen Zettel schreiben

Agent Thyme war ein Wirbelwind aus krallenden Fingern und tretenden Füßen. In ihrer Panik hatte sie sogar die simpelsten Verhaftungsgriffe vergessen. Ob diese allerdings bei einem Spiegel gewirkt hätten, wage ich zu bezweifeln.

Ich schlug mich tapfer, hatte aber alle Hände voll zu tun. Ich war in meiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, weil ich Agent Thyme ja nicht ernstlich verletzen wollte. Sie hingegen war nun vollends enthemmt, da sie in dem Wahn befangen war, uns vor den beiden bösen Frauen, die im Spiegel wohnten, beschützen zu müssen. Und so spürte ich alle paar Sekunden eine Faust knapp an meinem Ohr vorbeisausen oder bekam einen heftigen Tritt vors Schienbein. Trug diese Frau etwa Stahlkappen in den Halbschuhen?

Behrman starrte uns mit offenem Mund an. Mein Partner drehte sich zu ihm. »Das ist tausendmal besser, als ich’s mir je vorgestellt hätte«, lobte er.

»Agent Thyme, lassen Sie autsch das. Au! Sie gehören zu den argh! Leuten au , denen ich nicht wehtun will. Au, was für scheißspitze Schuhe! Jetzt gehören Sie nicht stopp! mehr zu den Leuten, denen ich nichts antun will!«

»Lassen Sie mich ich muss sie unschädlich machen!«, keuchte sie. Plötzlich fiel ihr wieder ein, dass sie bewaffnet war. Nur schemenhaft war ihre Hand, die an die Hüfte fuhr, wahrzunehmen. Dort allerdings traf sie klatschend auf meine Hand, denn die hatte ich Sekundenbruchteile zuvor auf ihre Waffe gelegt. »Sie bringt uns um, wenn ich nicht schneller bin.«

»Es reicht.« Ich lockerte den Griff meiner anderen Hand, fing mir einen weiteren Fausthieb ein (ach, wär ich doch ein Tintenfisch!) und drückte so lange auf ihre Halsschlagader, bis sie die Augen verdrehte und zu Boden ging.

Nach diesem Manöver trat ich einen Schritt zurück. Ich keuchte jämmerlich. Agent Thyme sah überhaupt nicht danach aus, aber sie war stärker und schneller, als ich erwartet hatte. Sie hatte sich glänzend geschlagen.

Applaus brandete auf. George und Behrman klatschten Beifall, und zwar (das war das Kranke daran) mit ehrlicher Anerkennung.

»Klasse, Shiro«, lobte George. »Wirklich. Irre Vorstellung.«

»’ne Vorstellung war’s wirklich«, pflichtete Behrman ihm bei. »Was war denn eigentlich los?«

George grinste anzüglich. »Meine Mädchen-mit-Mädchen-Gelüste sind fast befriedigt worden. Puh! Sonst noch jemand so rot geworden? Ich kann euch gar nicht genug danken.«

Ich rieb mir den unteren Rücken. »Mach dich auf einen Splenda-Einlauf gefasst, du Schwein.«