19
»Hey! Trantüte! Die Arbeit ruft.«
Ich blinzelte verwirrt. Ich hatte … nein, Shiro hatte an den hinreißenden Dr. Gallo gedacht. Es zeugte doch von Familiensinn, dass er sein bisheriges Leben aufgegeben und dem Ruf seiner Schwester in unsere Stadt gefolgt war. »George, ich stehe direkt neben dir. Du brauchst nicht zu brüllen.«
»Du hast mindestens zehn Minuten lang die Akte angestarrt. Mit diesem absolut dümmlichen Gesicht, das ich, wie du sehr genau weißt, abgrundtief verabscheue.«
»Welches?« George sollte sich mal etwas deutlicher ausdrücken. Er mochte alles Mögliche an mir nicht. Was auch ganz in Ordnung war, denn dieses Gefühl war gegenseitig. »Das dümmliche Gesicht, das ich mache, wenn ich Hunger habe, oder das dümmliche Gesicht mitten in der Konzentration oder das dümmliche Gesicht, wenn ich grübele, wie ich dir beibringen soll, dass du dich zu oft über mein dümmliches Gesicht beschwerst? Oder meinst du vielleicht ...?«
»Ach, verdammt, lassen wir das. Wollen wir jetzt los? Lass uns fahren. Okay? Cadence?« George wedelte mir mit den Autoschlüsseln vor der Nase herum. »Wollen wir ’ne kleine Ausfahrt machen, Mädel? Hm? Willtu Auto fahren? Hm?«
»Wow«, bemerkte Emma Jan und starrte George an. Vielmehr starrte sie auf seine Krawatte: Hühnerfüße vor einem roten Hintergrund. »Sie sind wirklich ein unliebsamer Zeitgenosse.«
»Danke«, konterte George erfreut. »Sie sind vermutlich auch ein Miststück oder so was. So gut kenne ich Sie ja noch nicht, aber auch Sie besitzen bestimmt ein paar Eigenschaften, die mich anöden. Sie müssen sich nur etwas Zeit lassen. Oder mir.«
»Danke …?«
»Versuch gar nicht erst, ihn zu verstehen«, riet ich ihr. »Denn das klappt sowieso nicht, und am Ende kriegst du Kopfschmerzen.«
»Nein, davon bekommst nur du Kopfschmerzen, Cadence!«, blaffte George. Ich begriff, dass er wegen der Notaufnahme/Handschellen/Tragbahren-Geschichte immer noch megasauer war. Normalerweise war George aber nicht so nachtragend. Das war auch einer der wenigen Gründe, warum unsere Partnerschaft überhaupt funktionierte. »Und wenn du Kopfschmerzen hast, kommt die gottverdammte Adrienne zum Vorschein und prügelt mir die Scheiße aus’m Leib, und davon krieg ich nun wieder Kopfschmerzen.«
»Stimmt«, nickte Emma Jan. »Ich hab gehört, was mit dir los ist.« Sie blickte mich mit glänzenden schwarzen Augen an, die an einen Sperber gemahnten. Ein Sperber mit einer 45er Single-Action im Holster. »Äh, gibt es da eine Liste von Dingen, die ich besser unterlassen oder nicht sagen sollte, damit diese Verrückte nicht zum Vorschein kommt?«
Ich starrte sie nur an. Diese Verrückte wollte wissen, wie sie meinem Wahnsinn aus dem Weg gehen konnte?
George war mittlerweile in bester Streitlaune. »Machen Sie Witze? Als ob es da eine Liste gäbe? Denken Sie, wir würden sie jemals provozieren, wenn wir wüssten, wie das geht?«
»Früher aber hast du Adrienne doch gemocht«, wandte ich zaghaft ein. Eigentlich fand ich es merkwürdig (und bezeichnend für Georges Wahnsinn), dass er so gern mit Adrienne Egoshooter-Games spielte. Und dass sie ihm gelegentlich Omelettes buk. Manchmal sogar ohne Glas darin.
»Ich mag sie auch immer noch, wenn sie nicht gerade meinen Kopf als Fußball benutzt. Letztes Mal musste ich mir eine Krone neu befestigen lassen!« Er krümmte den Finger, steckte ihn in den Mund und zog seine rechte Wange zurück. »Iieh uh? Af ar ie.«
»Kannst du bitte aufhören, mir deine Zähne zu zeigen?« Widerlich. Übrigens hatte er eine ausgezeichnete zahnärztliche Versorgung, mir war gar nicht klar, worüber er sich beschwerte. Die einzige Behörde, die ihre Angestellten in gesundheitlicher Hinsicht noch besser versorgt, ist das NYPD. »Und wir können auch sofort losfahren. Ich warte nur noch auf ...«
»Hey, meine Hübsche!«
Wir fuhren herum. Ich spürte bereits ein Lächeln in meinem Gesicht aufblühen, das meine miese Laune vertrieb. Patrick Flannery war gekommen, um mich während der Arbeit zu besuchen. Und … er hatte tatsächlich einen Kuchenkarton dabei!
Er raste förmlich auf mich zu. Wie immer war ich überrascht, dass sich dieser große Mann – einsdreiundachtzig, 99 Kilo, kein Gramm Fett – dermaßen flink bewegen konnte. Schon erstaunlich, wenn man bedachte, wie viel er futterte. Kuchenteig war für ihn so etwas wie ein Getränk.
»Na toll.« George warf die Hände hoch. »Es ist die gottverdammte Little Debbie.«
»Pssst«, machte ich, und dann entwich meinen Lungen alle darin befindliche Luft, weil Patrick mich so heftig an sich drückte, dass ich den Bodenkontakt verlor. Gaaaah! »He, stopp, du brichst mir noch die Rippen.«
»Na, hör mal.« Grinsend setzte er mich ab. Und ich erwiderte sein Grinsen wie eine Liebeskranke. Dazu trug vor allem sein extrem gutes Aussehen bei. Patrick hatte dunkelrotes Haar, wie Cherry Coke mit echtem Kirschsaft, und Augen von Schokotrüffelfarbe. (Das war jetzt reichlich viel Essensmetaphorik … ich hätte das Frühstück nicht auslassen sollen.)
Trotz der Dezemberkälte trug er Kaki-Bermudas (seine Lieblingshosen – er besaß mindestens sechs Paar) und ein Denim-Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, sodass man das dunkelrote Haar auf seinen kräftigen Unterarmen bewundern konnte. (Man sollte nicht glauben, wie gut sich das Bäckerhandwerk auf die Ausbildung einer ordentlichen Oberkörpermuskulatur auswirkt.) Patrick trug ganzjährig Shorts. Ich fand das zwar unpraktisch (unsere strengen Minnesota-Winter!), aber wer war ich denn, dass ich die seltsamen Gewohnheiten anderer beurteilen durfte?
Ich wusste, dass er mich beim Näherkommen argwöhnisch beobachtet hatte: Er musste sich ja zunächst vergewissern, welche von uns momentan in meinem Körper hauste. Doch Patrick war inzwischen richtig gut in der Beurteilung unserer Mimik und Körpersprache. Nach drei Monaten schien er mir sogar schon besser als manche meiner Kollegen, die mich bereits seit Jahren kannten.
Patrick würde jedenfalls nie mehr den Fehler begehen, mich zu umarmen, ohne sich erst überzeugt zu haben, dass ich es war.
»Hey, Cadence. Bleibt’s bei heute Abend?« Er überreichte mir den Karton. Ich musste gar nicht erst nachschauen: Er hatte mir einen Kokosnusscremekuchen gebacken. Ich war im Büro richtig beliebt geworden, seit ich seine Backwerke mitbrachte.
Und Kokosnusscreme war eine sichere Wahl: Ich mochte sie ungeheuer gern, Shiro war ihr auch nicht gänzlich abgeneigt (ihr Lieblingsgebäck ist Baby Turtle Bread aus Kyoto), und Adrienne aß sie nicht, weil ihr Lieblingsdessert Sirloin Steak war … dafür liebte sie es, mit Kokosnusscreme zu werfen. Also war alles in Butter. Nahm ich jedenfalls an.
Es war überaus anstrengend gewesen, die Kokosnusscreme aus meiner Waschmaschine zu entfernen … ich war so tief in Gedanken, dass mir erst jetzt auffiel, dass ich Patrick überhaupt nicht geantwortet hatte. »Eigentlich schon«, gab ich ein vages Versprechen. »Tut mir leid, dass wir in letzter Zeit so wenig Zeit füreinander hatten.« Mir tat es wirklich leid. Solange ich ich war.
Patrick legte einen Finger unter mein Kinn und hob es sanft an. »Du bist das Warten wert. Ihr alle seid es wert.«
Ich fühlte, wie ich dahinschmolz. Es war tatsächlich ein Gefühl, als ob meine Knie zu Gummi würden. Klischees sind wahrscheinlich nicht umsonst Klischees, denn schmelzen war der treffende Begriff, um meinen Zustand zu beschreiben. Ich wurde zu einer beurre blanc! Nein, halt, da ist ja Essig drin … dann vielleicht eine beurre noisette? Ach, sei’s drum, Shiro ist diejenige von uns, die fließend Französisch spricht. Ich kann dafür Spanisch.
Wie dem auch sei, wenn ich weiter so dahinschmolz, würde ich bald nur noch eine Butterpfütze in einem leeren Shirt, einer leeren Jacke und Slacks sein. Eine Pfütze, die man nur noch anhand meines FBI-Ausweises würde identifizieren können. Doch Patrick war noch da, er berührte mich. Und was noch besser war: Auch ich war immer noch da. »Patrick, du bist einfach der Beste.«
Er beugte sich vor. »Das ist wahr. Gott, wie hinreißend du heute aussiehst. Überhaupt immer.«
»Das sagst du immer.«
»Weil es auch immer stimmt.« Sein Mund war nun ganz nahe. Ich war einfach glücklich. Die Welt hatte sich weit entfernt. Es war ein beängstigendes und zugleich belebendes Gefühl.
»Gib’s mir!«, rief George Ich-krieg-jede-Stimmung-kaputt-Pinkman und riss Patrick den Karton aus den Händen. »Oooch, Little Debbie, das wär aber doch nicht nötig gewesen!«
»Wem sagen Sie das?«, erwiderte Debbie grimmig und bedachte meinen Partner mit einem finsteren Blick. Man konnte Patricks Gefühle für George durchaus als Verachtung bezeichnen. Oder als Ekel und Abscheu. George konnte Frauen allzu leicht um den kleinen Finger wickeln (auch weibliche Soziopathen können Männer bezaubern), doch bei einem Mann gelang ihm das so gut wie nie. Und im Falle Patricks ganz sicher nicht, denn er fragte bitter: »Sollten Sie nicht Welpen tottreten, oder was immer Sie tun, wenn Sie nicht gerade meine Freundin quälen?«
George lachte. »Ach, Little Debbie, was sind Sie naiv! Sie haben ja keine Ahnung, was Quälen ist.«
»Hi«, sagte Emma Jan und streckte Patrick die Hand hin. Ich erschrak. Ich hatte ihre Gegenwart völlig vergessen, doch jetzt war ich froh über die Ablenkung, denn die Atmosphäre schien mit Mord geladen. »Ich bin Emma Jan und sammle ungewöhnliche Todesfälle.«
Ein kurzes Schweigen entstand, während Patrick diese Information verdaute. Dann entschied er sich für ein zaghaftes »Freut mich, Sie kennenzulernen!«
»Neue Kollegin«, erklärte George überflüssigerweise.
»Patrick Flannery.« Er schüttelte ihr die Hand. Da mein Freund über BOFFO Bescheid wusste, konnte ich ihm ansehen, dass er jetzt zu erraten versuchte, über welche Superkräfte Emma Jan wohl verfügte. (So pflegte Michaela unsere psychotisch begründeten Talente gelegentlich zu bezeichnen.) »Sie klingen wie Paula Deen.«
»Hab ich schon öfter gehört.«
»Ich hoffe, es gefällt Ihnen hier. Aber jetzt sollte ich besser gehen. Ihr habt bestimmt noch viele Verbrecher zu schnappen und so.« Er sah mich an. »Bis heute Abend?«
»Yep.«
Er streifte meine Wange mit seinen Lippen.
(Ob Dr. Gallo wohl gut küssen kann?)
Also, wo zum Teufel kam das denn jetzt her? Ich litt wohl unter Schlafentzug.
Patrick strich mir die Ponyfransen aus der Stirn, dann flüsterte er zärtlich: »Gib deinem Arschloch von Partner bloß keinen Krümel davon ab.«
»Ooch. Das hast du aber schön gesagt.«
»Bye!« George umklammerte den Kuchenkarton wie eine Mutterkatze eines ihrer Jungen. Man konnte förmlich hören, wie er Mein Sssssatz zischte. »Nein, ehrlich. Bye! Hoffe, Sie fallen nicht die Treppe runter und landen auf Ihrem Gesicht, oder geraten versehentlich mit dem Hemd in einen Traktormotor und müssen ein Jahr lang Ihre Brusthaut nachwachsen lassen.«
Patrick strebte auf die Fahrstühle zu, wobei er vernehmlich vor sich hin brummelte. Ich meinte »Arschloch« und »Scheißkerl« herauszuhören.
»Wie lange seid ihr beide eigentlich schon Partner?«, wollte Emma Jan wissen. Ich konnte ihr Erstaunen gut verstehen. Im Büro wurden Wetten darauf abgeschlossen, wann einer von uns ausrasten und den anderen zu Brei schlagen würde. Sollte ich George im September des kommenden Jahres töten, würde ich nahezu achthundert Dollar gewinnen. Und wenn er mich vor einem Monat erschlagen hätte … nun, ich will’s mal so sagen: Dann müsste er jetzt nicht zweimal pro Woche um Geld fürs Mittagessen betteln.
»Eine wahre Ewigkeit«, seufzte der Soziopath und klappte den Deckel des Kuchenkartons auf. »Ohhh, Baby! Wo bist du nur mein ganzes Leben gewesen?« Er hob die Tortenplatte aus dem Karton. Die Kokosnusscreme war verschwenderisch mit luftigen Baisers belegt, während geröstete Kokossplitter darüber gesprenkelt waren. Der Mürbeteigboden sah zart und vollkommen aus. »Jetzt weiß ich wieder, warum du dich überhaupt mit Little Debbie abgibst – abgesehen von seinem großen Schwanz.«
»Er ist Bäcker?«, erriet Emma Jan, während ich spürte, wie ich bis zu den Augenbrauen errötete.
»Du musst wohl eine hervorragend ausgebildete Bundesermittlerin sein«, neckte ich meine neue Kollegin. Tatsächlich war Patrick der Chef eines Konditor-Imperiums, seine Pies und Torten wurden in Supermärkten des ganzen Landes verkauft. Georges fieser Spitzname Little Debbie (das bekannte Kuchen-Imperium mit den herzigen Kindern auf der Packung) war typischer Pinkman-Humor: auf gemeine Art witzig und äußerst treffend.
»Lunch ist gestorben, ich mach mich lieber über deinen Kuchen her. Oh, fantastisch! Ich kann’s nicht fassen, dass ich dich nach all den Jahren tatsächlich mal loben muss.«
»Ich weiß drei kleine Worte für dich, George«, flötete ich.
»Fröhliche Weihnachten, Schatz?«, riet er und steckte einen Finger in die weichen Baisers, schleckte ihn genüsslich ab. »Ich will dich? Welch ein Hengst? Bitte bums mich? Little Debbie lutscht?«
»Splenda Zucker Ersatz.«
»Was? Fuck!« Er schüttelte seinen Finger, als sei dieser in Flammen aufgegangen und er müsse den Brand löschen. »Mach das weg, mach das weg, mach das sofort weg!« Damit drückte er mir die Kuchenschachtel in die Hand und sprintete zur Herrentoilette.
Nach einem längeren nachdenklichen Schweigen sagte Emma Jan: »Ist ja wirklich verrückt bei euch. Hast du mal ’ne Gabel für mich?«