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Ich blinzelte und sah Dr. Gallos schwarze Augen in dreißig Zentimetern Entfernung vor mir. »Ha!«, krächzte ich. »Hab ich’s also doch geschafft!«
»Sie sind verrückt!«, teilte er mir mit und versuchte, durch den dicken Verband meinen Puls zu fühlen.
»Und Sie sind betrunken.« Was stimmte. Als ich durch die Schwingtür gefallen war, hatte ich einen flüchtigen Blick auf den guten Doktor erhascht, der triefäugig an seinem Schreibtisch hockte, eine halb leere Flasche Rum als Gesellschaft. Ich hatte gesehen, wie er die Augen aufriss, wie seine Finger die Tischkante umklammerten, wie er dann wie ein Turner über den Tisch hechtete und mich in eben dem Moment auffing, als meine Knie nachgaben. Wenn ich nicht vor Schmerzen groggy und schweißnass und völlig erschöpft gewesen wäre, hätte ich ihm zu seinen blitzschnellen Reflexen gratuliert. Selbst betrunken konnte er so schnell reagieren? Zu was war er dann erst in nüchternem Zustand in der Lage?
»Adrienne, was zum Henker? Wie sind Sie aus der Station entwischt?«
»Das ist nicht mein Name.« Pssst! Das ist doch ein Geheimnis! Halt die Klappe, innere Stimme. »Die Station, pah! Denen hätte ich jederzeit entwischen können.« Das war gelogen. »Ich bin ausgebildete FBI-Agentin, und die auf der Station sind überarbeitete und unterbezahlte Krankenhausangestellte, denen ich immer sechs Schritte voraus sein werde.«
»Das mag wohl sein. Jetzt halten Sie erst mal still«, sagte er und schob mich sanft von seinem Schoß. Schade. »Ich rufe die ...«
Ich umklammerte sein knochiges Handgelenk und drückte an der richtigen Stelle zu. Dr. Gallo wurde blass, gab jedoch keinen Laut von sich. In diesem Augenblick bewunderte ich ihn sehr. In diesem Augenblick hätte ich mich verlieben können. Später war ich mir nicht mehr so sicher. Die ganze Begegnung hatte etwas von einem Traum an sich.
»Warten Sie«, flehte ich mit einer Stimme, die ich nie, niemals einem anderen Menschen gegenüber benutzt hatte. »Warten Sie. Ich muss Ihnen etwas sagen. Über George und Luann und all die toten Jungs dazwischen. Ich kann es Ihnen nur jetzt sagen. Später bin ich wieder Polizistin. Später ist nicht jetzt.«
Er zog die Brauen hoch, ein Mundwinkel zuckte leicht. »Sie sind sich schon darüber im Klaren, Hon, dass Sie wegen Ihres Blutverlusts ein wenig delirieren, ganz zu schweigen von den anderen Verletzungen?«
»Das ist mir klar. Deshalb musste ich ja gerade jetzt kommen.«
Nun lächelte er. Er freute sich, und es störte ihn nicht, dass ich es sah. »Jetzt? Wo Sie halb tot sind wegen des Blutverlusts und halb weggeschossen von Morphium? Wo Sie vor Schweiß triefen und sich ein paar Wundnähte aufgerissen haben? Wo ich mir mit Captain Morgan’s die Kante gegeben habe und mich frage, ob das nicht so eine Art Delirium ist und ich ziemlich unanständige Sachen über die hilflose heiße Braut auf meinem Schoß denke? Jetzt, ja?«
»Ich bin nie hilflos.« Dann musste ich einfach lachen. Mir hätte auf seinem Schoß nicht so behaglich zumute sein sollen, aber es war so. »Ja, jetzt.«
»Na schön.« Er rieb sich die Augen, suchte in seiner Tasche nach einem Kleenex, hielt es mir hin, und als ich dankend mit der Hand wedelte, steckte er es wieder ein. »Also die Kurzfassung. Und sobald du ohnmächtig wirst, rufe ich die Station an.«
»Na gut.« Ich schloss die Augen. Dachte einen Moment nach. Dann, ohne die Augen zu öffnen: »Ich bin nicht ohnmächtig, ich ordne nur meine Gedanken.« Er grunzte, schwieg jedoch. Seine Hände waren überall, doch es fühlte sich gar nicht schlecht an. Er strich etwas glatt und untersuchte und tätschelte sogar auf zerstreute Weise, aber es fühlte sich nicht unanständig an. Ich war hier die Unanständige: Ich war benebelt, hatte Schmerzen, fühlte mich elend, hatte Durst und rasende Kopfschmerzen … und wurde scharf. Wenn ich genug Atem gehabt hätte, um wohlig zu stöhnen, hätte ich es getan.
»Es war einmal ein Junge namens George Stinney, der am 16. Juni 1944 vom Staat Carolina ermordet wurde.« Wie alle Anfänge klang auch dieser nicht besonders sensationell. Ich hatte jedoch Glück, denn mein Zuhörer war sichtlich gefesselt. Selbst wenn er es riskiert hätte, die bedauernswerte Schussverletzte von seinem Schoß gleiten zu lassen, um ein Telefon oder Verbandsmull zu suchen, war er von George Stinney ebenso gefesselt wie ich.
»Dann starb Luann mit einem Lächeln auf den Lippen«, beendete ich meine Geschichte wenige Tage später. (Ich muss zugeben, mein Zeitgefühl war ein wenig durcheinander geraten.) »Und das ist alles. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
»Aber sicher gibt es das«, widersprach Max. Immer noch war er leichenblass, immer noch roch sein Atem nach Rum und Kokosnuss, doch eine einsame Träne bahnte sich ihren Weg über seine Wange, was er aber nicht zu bemerken schien. »Warum erzählst du mir das? Du hättest mir die gesäuberte FBI-Version erzählen können, ich hätte es nie zu erfahren brauchen.«
»Aber ich hätte es gewusst! Außerdem …« Die Gegenstände wurden unscharf. Entweder versagte die Stromversorgung der Blutbank, oder ich stand mal wieder kurz vor einer Ohnmacht. »Außerdem hast du mich zum Fliegen gebracht. Deine Honda … ist wie eine Sturmwolke auf Rädern.«
»Oje. Eine poetische FBI-Agentin.« Und er feixte, aber auf eine Art, dass ich unmöglich gekränkt sein konnte. Dann wurde er wieder ernst, beugte sich vor und fuhr mir rasch mit den Lippen über die Stirn. »Ich stehe auf ewig in deiner Schuld. Nicht nur, weil du mir Georges traurige Geschichte erzählt hast. Sondern auch, weil du sie erwischt hast. Beide. Wenn du etwas brauchst, dann wende dich auf jeden Fall zuerst an mich.«
Ich hörte Schritte auf dem Korridor. »Ich spüre, dass die Rettung unmittelbar bevorsteht. Wahrscheinlich konnten sie doch nicht umhin, meine Abwesenheit zu bemerken.«
Max lachte und hielt die linke Hand hoch, in der sein Handy lag. »Ich hab sie angerufen, als du gerade nicht hingeschaut hast.«
»Du … heimtückischer …« Ich konnte nicht weitersprechen. Ich war zu gereizt. Und voller Bewunderung. Max Gallo, ein Mann, der in einem anderen Leben ohne MP zur Liebe meines Lebens hätte werden können. »Heimtückischer … Verräter … wunderbarer …«
Glücklicherweise wurde ich ohnmächtig und rettete so meinen Stolz. Denn wer weiß, welche Verrücktheiten mir sonst noch entschlüpft wären?