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... als der jetzige.
Ich zog den Reißverschluss an Cadence’ Tasche zu und stand auf. Sich träge auf Felsen zu sonnen wie ein Leguan, das war nicht sonderlich produktiv. Mit Dr. Gallo zu sprechen konnte dagegen ziemlich produktiv sein. Ich fragte mich, wie er um diese Tageszeit wohl aussah. Ob er sich täglich rasierte oder einen Stoppelbart kultivierte. Er war einer dieser dunklen und attraktiven Typen, die jeden Look tragen konnten, wenn sie nur ...
Dunkel und attraktiv?
Ich brauchte wohl ein Nickerchen. Vermutlich mehrere.
Oder vielleicht brauchte ich einfach mal Sex. Hmm. Es war wirklich schon eine Weile her. Leider war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um Abhilfe zu schaffen, deshalb beschloss ich, mich vorerst mit den unpassenden Hormonschüben abzufinden. Diese Schübe, so begriff ich unendlich erleichtert, hatten überhaupt nichts mit Max Gallo zu tun, sondern lediglich damit, dass ich seit … wie vielen Jahren? … keinen Sex mehr gehabt hatte.
Ich ging, ohne auf Georges und Agent Thymes Fragen zu antworten. Obwohl Georges Gekreische »Mich führst du nicht hinters Licht! Dieser Stock-im-Arsch-Gang ist typisch Shiro! Du bist nicht Cadence!« mich fast zum Grinsen gebracht hätte.
* * *
Ich marschierte in die Folterkammer, wo eine Menge Rotkreuzangestellter umherwuselten, und hielt Ausschau nach Dr. Gallo. Ein mir unbekannter Krankenpfleger sprach mich an der Tür an.
»Adrienne, Sie böses Mädchen, Sie wissen doch, dass zwischen den Spenden wenigstens ein paar Tage Abstand liegen müssen. Was tun Sie also hier? Sich unters gemeine Volk mischen?«
Ich beäugte den stark behaarten Pfleger und überlegte, ob solch ein Pelz im Winter wohl wärmte. »Durchaus nicht.« Dreimal nein. Erstens war ich nicht Adrienne, obwohl ich nicht wusste, warum ich das nicht sagen konnte. Zweitens: Ich mischte mich nicht unters … gemeine Volk. Außerdem war es ätzend, mit dem Namen einer anderen angesprochen zu werden. Und drittens: Ich war gewiss nicht gekommen, um wieder einmal meine kostbaren Körpersäfte zu spenden. Wie schwer kann es sein, Blut auf synthetischem Wege herzustellen? Wir können doch auch sonst beinahe alles künstlich herstellen. »Weichen Sie von mir, Sie Unmensch. Aber zuerst sagen Sie, wo ich Dr. Gallo finde.«
»Sie schon wieder.« Ich drehte mich um und erblickte meine ersehnte Beute. Eben erst war er aus seinem Büro getreten, streifte eine ramponierte Motorradjacke über und hielt einen ebenso ramponierten schwarzen Motorradhelm in der Hand. Die Jacke machte den Eindruck, als hätte Gallo sie im Kriegseinsatz getragen. In mehr als einem. »Wollen Sie die neue Lieferung Haferkekse probieren?«
Ein Schauder überlief mich. »Nicht mal, wenn Sie mir eine Pistole ins Ohr stecken würden.« Kein Witz. Ich hab tatsächlich mal eine Pistole im Ohr stecken gehabt. Ach, ihr süßen Kochshow-Erinnerungen … »Wenn Sie versuchen, mir einen Keks anzudrehen, kann ich nicht für Ihre Sicherheit garantieren.«
Gallo warf den Kopf zurück und lachte. Er hatte ein tolles Lachen, das ungeheuer ansteckend wirkte. Ich musste an mich halten, um nicht wie eine Idiotin mitzugiggeln.
»Ich bin dienstlich hier. Dürfte ich um einen Augenblick Ihrer Zeit bitten?«
Er musterte mich einige Sekunden. »Sie sind wegen meines Neffen gekommen.«
Ich begriff, dass dies keine Frage gewesen war. Tatsächlich hatte mir Dr. Gallo bislang noch keine einzige unnötige Frage gestellt. Eine seltene und wunderbare Eigenschaft. Ich konnte nachvollziehen, warum Cadence ihn mochte. Obwohl sich diese dumme Nuss bereits einredete, dass es einen Betrug an Patrick darstellte, wenn sie einen anderen Mann auch nur anziehend fand. Ich kenne keinen Menschen, der sich von seinem Gewissen derart knechten lässt wie Cadence. Sie bestraft sich selbst, schon bevor sie etwas Falsches getan hat.
Muss furchtbar anstrengend sein.
»Ja«, erwiderte ich. »Wegen Ihres Neffen. Darf ich Sie kurz sprechen?« Die Regeln des guten Benehmens erfordern Floskeln wie: Bitte, Danke, Sir, Ma’am. Doch wenn die Benimmregeln erschöpft waren, konnte ich ebenso gut auf Gossensprache zurückgreifen und ihn mit … einer dieser unzähligen Decken einschüchtern. Vielleicht ersticken.
»Klar.«
Wie? Oh. Er hatte mir geantwortet. Warum war ich nur so verwirrt? Und wie konnte Cadence das überhaupt aushalten?
»Kommen Sie, wir gehen ein Stück. Ich wollte mir ohnehin gerade was zum Lunch besorgen. Bis später, Leute.« Er winkte seinen Angestellten lässig zu, und diese reagierten ebenso lässig, was ich ein wenig respektlos fand, da er doch immerhin ihr Vorgesetzter war. Gallo schien es aber nicht zu stören. Es stand mir jedoch nicht zu, sein Verhalten zu kommentieren, deshalb ließ ich es bleiben.
Er steuerte auf den nächstgelegenen Ausgang zu. Ich nahm an, dass es der Weg zum Parkplatz war. Seine abgewetzte Lederjacke passte perfekt zu seinem Pflegerhabit, das demnächst in alle Einzelteile zerfallen würde. Er brauchte dringend einen Haarschnitt, denn seine dunklen Ponyfransen wehten ihm in die Augen, und er musste sie durch eine ruckartige Kopfbewegung entfernen. Patrick würde sein Haar nie so unordentlich tragen, dachte ich und durchlebte einen Anfall Cadence-artiger Panik. Warum zog ich Vergleiche? Und warum gefiel es mir so sehr, mit Dr. Gallo allein zu sein? Ich würde mich nicht selber belügen und so tun, als geschehe es nur im Interesse des JB-Falles.
»Ich nehme an, Sie haben noch keine Spuren.«
Erleichtert, mich wieder dem Fall zuwenden zu können, erwiderte ich: »Wir ermitteln in jede erdenkliche Richtung. Wir kriegen diesen Mistkerl, Dr. Gallo, da können Sie sicher sein.«
»Hmmm, Ihre Augen sind gerade zu richtig schmalen Schlitzen geworden. Ich möchte Sie nicht unbedingt in einer dunklen Gasse treffen.«
»Nein«, erwiderte ich. »Das würde ich Ihnen auch nicht raten.«
Er kicherte leise und hielt mir die Tür auf. Zuerst hielt ich es für einen Trick. Dann für Chauvinismus. Als ich endlich begriff, dass er nur höflich sein wollte, hatte er bereits geseufzt und war vorausgegangen. »Das merke ich mir«, sagte er, als ich hinterdreineilte. »Ihnen werde ich keine Tür mehr aufhalten!«
»Würden Sie mir glauben, wenn ich sage, dass ich tief in Gedanken war?«
»Nö.« Er feixte, fischte einen klirrenden Schlüsselbund aus der Tasche und richtete ihn nach links. Ich vernahm einen gedämpften Piepston, woraufhin wir beide in diese Richtung schauten. »Hören Sie, ich muss mal raus hier, aber nicht bloß auf einen McFlab Deluxe. Machen wir doch eine Tour.«
»Eine Tour?« Wir standen neben einer ansehnlichen schwarzen Maschine, die wahrscheinlich in meinem Geburtsjahr brandneu aus dem Show Room gerollt war. Sie war tadellos in Schuss und schien, wie sie da aufgebockt auf ihren Stützen stand, erwartungsvoll vor sich hin zu brüten. Sie wirkte wie eine massive Sturmwolke auf Rädern. »Äh …«
Hmmm. Das sah mir gar nicht ähnlich. Normalerweise ging ich neuen und möglicherweise gefährlichen Herausforderungen nicht aus dem Weg. Wollte ich weniger tapfer, dafür aber umso weiblicher auf Dr. Gallo wirken? Wollte ich etwa einen Mann beeindrucken, den ich kaum kannte?
Oh ihr Götter! Ich wurde ja bald so weinerlich wie Cadence! Höchste Zeit, die Dosierung unserer Medikamente neu einzustellen. »Wir fahren sofort«, sagte ich fest und musste mich ziemlich zurückhalten, um mich nicht auf die Maschine zu stürzen.
»Ich will es ja auch, Adrienne, also immer mit der Ruhe.« Gallo hatte sich vorgebeugt und wühlte herum. Und als er sich wieder aufrichtete, hielt er mir einen zweiten schwarzen Helm hin. Ich riss ihm das Ding aus der Hand und stülpte es auf meinen Schädel.
»Na schön. Los geht’s.«
»Immer mit der Ruhe, Valentino Rossi.«
»Wer?«
»Ihr Helm sitzt schief«, sagte er, als sei damit alles erklärt. Er fummelte an meinem Kinnriemen herum. In diesem langen Augenblick, da wir einander dicht gegenüberstanden, hatte ich das Gefühl, nicht Auge in Auge, sondern Auge an Klitoris zu stehen. Seine Finger am Riemen, die meine Haut streiften, sein dunkler Blick, nur wenige Zoll entfernt … An diesen endlosen Moment würde ich in den nächsten Wochen immer und immer wieder denken.
Was ist nur mit dir los?
»... verlieren Sie ihn noch.«
»Was?« Endlich, endlich hatte er die Fummelei an meinem Helm beendet, trat einen Schritt zurück und berührte mich nicht länger, und ich war traurig und glücklich zugleich, und was war bloß mit mir los?
»Alles in Ordnung?«
Ich ging nicht auf die Frage ein. »Also, was für eine ist das? Eine Harley Davidson? Ein … ein Chopper?« Mir fiel auf, dass ich von Motorrädern keinen blassen Schimmer hatte. »Eine, äh, Triumph?«
»Eine Honda.«
»Was?«
»Es ist eine Honda. Die beste, die es gibt, ob Sie’s glauben oder nicht.« Gallo hatte schwarze Handschuhe übergestreift und tätschelte die Maschine – liebevoll, wie ich fand. »Hab sie direkt nach Studienbeginn gekauft. Eine Schönheit, was?«
»Sie klingen wie ein Kanadier, wenn Sie so reden«, war das Einzige, was ich herausbrachte. Was mir ansonsten durch den Kopf schoss (»Honda baut Motorräder? Wie sonderbar. Sie sind übrigens auch sonderbar, Dr. Gallo, aber ich bin es ja auch, also brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen.«), wäre nicht besonders taktvoll – oder vernünftig – gewesen.
»Tja«, meinte er, während er ein langes Bein über die Maschine schwang. »Ich bin ja auch Kanadier. Los, steigen Sie auf. Ja, genau hinter – boah, nicht so stürmisch, fast wären wir auf den Asphalt geknallt. Normalerweise fahre ich mindestens fünfzehn Meilen in der Stunde, bevor ich mich auf die Fahrbahn lege … So! So ist’s besser.«
Ich konnte kaum etwas sehen – vor allem die seitliche Sicht war durch den Helm erheblich beeinträchtigt. Zuerst legte ich nur schüchtern die Finger an seine Taille, aber Dr. Gallo ergriff meine Hände entschlossen und zog sie nach vorn, zeigte mir, wie ich meine Arme um seine Taille schlingen und mit der einen Hand das Handgelenk der anderen vor seinem flachen Bauch festhalten sollte. Dann tat er etwas, das einen ohrenbetäubenden Lärm auslöste – dieser lästige Helm! Ich konnte überhaupt nichts sehen! – und dann ...
dann
dann