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»Bedauerlich.« So fasste Michaela unsere Gefühle in ihrer üblichen abgeklärten Weise zusammen. Stundenlang hatte es im Vortragssaal von Zuhörern, Feds und Ortspolizisten nur so gewimmelt. Doch inzwischen waren auch die Letzten gegangen.

»Eine verdammt nervige Scheiße«, lautete Georges Kommentar. »Ich glaub’s einfach nicht, dass wir ihn nicht herlocken konnten. Und dann dieser Vortrag! Wie hat der Typ es bloß geschafft, die Stinney-Geschichte dermaßen langweilig rüberzubringen? Ich hätte mich am liebsten an meinen Eingeweiden aufgehängt. Ich kann einfach nicht glauben, dass es nicht geklappt hat!«

»Vielleicht hätte es geklappt«, widersprach Michaela. »Die Profiler hatten ja empfohlen, dass der Professor über George Stinney und das Verbrechen sprechen sollte, das an ihm begangen wurde, jedoch nicht über die Morde, die danach geschahen. Aber sie haben uns nicht versprochen, dass JB mit ausgestreckten Händen antreten und um seine Verhaftung betteln würde. Sie haben nicht prophezeit, dass eine erzwungene Gegenüberstellung zu einem Geständnis führen werde. Wie immer war dieses Vorgehen eine Möglichkeit, dem Täter näherzukommen. Wenn wir genauso denken wie der Täter, können wir ihn auch erwischen. Das wissen Sie doch, George.«

»Wollen Sie wissen, wie es in meiner Vorstellung aussieht? Die haben uns das alles versprochen. In meiner Vorstellung hat mir der Bürgermeister den Stadtschlüssel überreicht und den Schlüssel zu sämtlichen Damenumkleidekabinen sämtlicher Fitnessstudios in der Stadt.« Er seufzte. »Hör’n Sie, der Vortrag ist schon fast zwei Stunden vorbei, die Cowboys haben ihr Spielzeug mitgenommen und sind nach Haus geritten, und ich brauche dringend einen Drink, also warum lassen wir’s nicht ...«

»Glaubt ihr etwa all den Mist über den armen Jungen?«, fragte ich so laut dazwischen, dass alle erschrocken zusammenzuckten. Normalerweise benutze ich meine laute Stimme nur, wenn ich einen der bösen Buben stelle. »Ich meine, heiliger Strohsack, es ist doch einfach grauenvoll.« Ich atmete tief durch, um meinen You-betcha!-Akzent zu verstärken. Garrison Keillor ist es zu verdanken, dass die Kultur Minnesotas auf ewig in der Welt verrufen sein wird. In den Siebzigern, als er seine Karriere begann, war unser Ruf nämlich gar nicht so schlecht, denn Minnesota war kein beliebtes Urlaubsziel. Die Leute fuhren lieber mit ihren Kids nach Disney World oder besuchten den Grand Canyon, und Flitterwöchner reisten ohnehin nach Cancun oder Paris.

Dann schrieb Keillor seine Stories über den Lake Wobegon. Und sie waren gut! So wurde unser prächtiger, schöner Bundesstaat nach und nach geoutet! Und niemand fragte, ob uns das auch gefiel, am wenigsten Keillor. Hätte man uns gefragt, dann hätten wir Keillor höflich gesagt, dass wir es vorzögen, weiterhin ein verborgener Winkel der Welt zu bleiben. Es sagte uns sehr zu, dass alle anderen Amerikaner der Meinung waren, der August in Minnesota sei doch gar zu kalt.

Aber dann Dann! Kam Fargo Blutiger Schnee in die Kinos. Dass wir uns nicht missverstehen: Ich habe überhaupt nichts gegen die Geschichte, die Schauspieler usw. es ist ein erstaunlicher Film. Ich will ihn ganz gewiss nicht verunglimpfen.

Aber dieser schreckliche Akzent! Du meine Güte! Nicht jeder in diesem Teil des Landes muss jede Frage mit einem »You betcha!« beenden oder andauernd »Yah« brummeln.

»Klar isses kalt heute.« »You betcha!« Nein.

»Also, dann woll’n wir mal zurückfahrn, yah?« »Yah!« Nein.

Doch jetzt ist unser Geheimnis offengelegt worden. Alle Welt kennt nun unsere dichten Wälder, unsere klaren, sauberen Seen und Flüsse, unsere frische Luft und unsere reichen Ernten. Die Ernten! Mais und Zuckerrüben, Weizen und Roggen, Kartoffeln und Hirse, Sorghum und Sonnenblumen. Wir haben so viel zu essen, dass wir der Welt eine ganze Menge davon abgeben könnten.

Und vergessen Sie nicht den sanften Akzent unserer Sprache und die durchweg friedliche Bevölkerung. Wikipedia beharrt ja darauf, dass Minnesota Nice bloß ein moderner Mythos sei, aber Wikipedia ist dumm, denn es weiß nur, was die Leute ihm erzählen. Vertrauen Sie jedoch nicht meiner vorurteilsbehafteten Meinung, sondern machen Sie sich selbst ein Bild, indem Sie unsere Verbrechensstatistik prüfen. Doch wir hinken den Statistiken von New York, Miami und Los Angeles weit hinterher. Weil wir eben so nett und freundlich sind!

Und dann, aus heiterem Himmel: Ich hörte sozusagen das Knirschen, mit dem etwas Hartes auf mein Schienbein traf. Und merkte einigermaßen erstaunt, dass ich mitten in einem Einsatz komplett weggetreten war.

Ich schaute zur Uhr hoch. Aha. Okay. Immerhin hatte es keine drei Minuten gedauert. Trotzdem eine lange Zeitspanne, wenn man stumm dasteht, während die anderen einen fragend anstarren, oder wenn man etwas zu Ende denken will.

»Sorry, hab grade nachgedacht. Bin auch noch nicht fertig.«

»Dann sei ja vorsichtig, yah? Du könntest dir dabei was verrenken.«

»Sag nicht yah am Ende des Satzes!«, fauchte ich ihn an. Bevor George mit einer Garstigkeit antworten oder seine Pistole auf mich richten konnte, fuhr ich fort: »Wisst ihr was? Ich habe nachgedacht: Ich glaube nicht, dass George Stinney die Mädchen ermordet hat. Aber der Staat, der Staat hat ihn hingerichtet, den armen kleinen Kerl. Warum hat niemand etwas dagegen unternommen? Jemand sollte das mal seiner Familie sagen, diesen armen Leuten. Jemand sollte Georges Familie sagen, dass der Staat sie gewaltig um Verzeihung bitten muss.«

Ich hatte sie schon vorher aus dem Augenwinkel wahrgenommen. Mitte vierzig, Afroamerikanerin, gut gekleidet in einen J. Jill-Wintermantel und Slacks. Sie hatte sich ganz am Rand der Ereignisse gehalten. War sehr, sehr unauffällig hereingekommen, eine Zuschauerin unter vielen. Von ihrem Mantel tropfte es, sie konnte also noch nicht lange im Saal sein, denn draußen schneite es.

Ich weiß nicht, warum sie mir auffiel vielleicht lag es an der Art, wie sie sich im Hintergrund hielt. Ihr Gesichtsausdruck und diese unauffällige Art waren es wohl, die mich gewarnt hatten. Auch wenn ich es nicht bewusst wahrnahm, schrillten in meinem Unterbewusstsein die Alarmglocken. Diese Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte sie wirkte nicht einfach nur interessiert. Sondern geradezu gebannt.

Sie wirkte wie eine Frau auf mich, der die Familie über alles ging in einer Familie, in der jeder Einzelne Opfer bringen musste. Seine Zeit und sein Geld opferte. Zeit, die man im Spiel mit seinen Kindern hätte verbringen können, floss hier in eine Familienaufgabe ein, die niemals ein Ende fand. Eine Aufgabe, die immer neue Opfer erforderte. Das Stinney-Racheunternehmen einfacher wäre es gewesen, eine Burger-King-Filiale zu leiten.

Das Stinney-Familienunternehmen: Es hatte sein Mal so deutlich hinterlassen, dass ich meinte, es auf der Stirn dieser Frau erkennen zu können.

Man konnte nicht behaupten, dass wir uns nicht vorbereitet hätten. Wir hatten uns solche Mühe gegeben, uns zu verkleiden, hatten es aussehen lassen, als wären wir neugierige Vorortbewohner, die einen Vortrag hören und dann ins hiesige Starbucks einfallen wollten. Keiner von uns trug irgendetwas an sich, das Regierungsagenten, beachten Sie bitte die schwarzen Anzüge signalisierte.

Doch ebenso, wie ich sie erkannt hatte, wusste auch sie sofort, wer wir waren.

Sie versuchte ein schüchternes Lächeln. Als ich später erfuhr, dass sie erst sechsunddreißig Jahre alt war, konnte ich es nicht glauben. Ich hätte auf Mitte vierzig getippt. Und als sie lächelte, belief sich meine Schätzung auf Ende vierzig.

Sie trat einen Schritt näher. Ich bewunderte sie dafür. Sie kam näher. Jeder andere wäre um sein Leben gerannt. Um seine Freiheit. Ihre Stimme klang nachdenklich und melodisch. »Sie interessieren sich also für George Stinney.« Eine ruhige Stimme. Viel zu ruhig. Vielleicht eine tote Stimme? »Sie meinen also dass ihm Unrecht geschehen ist, yah?«

Ich hatte keine Ahnung, wie ich reagieren sollte. Bloß jetzt nicht wegen dieses yah aus der Haut fahren

Aber zum Glück war Michaela da. »Wir meinen gar nichts. Wir wissen, dass ihm Unrecht geschehen ist, Ma’am. Und wir wissen, was dieses Unrecht Ihrer Familie angetan hat. Es tut mir sehr leid. Aber hiermit sind Sie festgenommen.« Ich zuckte innerlich zusammen. Das letzte Mal, als Michaela im Einsatz gewesen war, hatte sie den Verbrecher erschossen.

Aber ich hätte mir wohl keine Sorgen zu machen brauchen. Das Lächeln der Frau wurde beinahe strahlend. »Jetzt, wo es so weit gekommen ist, bin ich im Grund erleichtert, diese Worte zu hören. Ist das nicht töricht? Ich fühle mich tatsächlich erleichtert

»Weil das Familienunternehmen nun nicht mehr Ihren Sohn fordern wird«, vermutete ich.

»Ja, er ja! Sie verstehen mich wirklich. Ich hatte es so gehofft! Ich habe gedacht, wenn ich es nur erklären könnte wenn ich es Ihnen nur zeigen könnte Er ist vierzehn. Er ist gerade vierzehn Jahre alt geworden. Wie hätte ich von ihm erwarten können aber ich musste doch Er ist vierzehn! Wie George! Sie haben uns gezwungen, diese schrecklichen Dinge zu tun, weil George um sein Leben gebracht wurde, aber sie verstehen einfach nicht, wie es unsere Familie vergiftet hat! Mein Sohn verdient das, was sie ihm nehmen wollten. Er darf ein Leben haben!« Und die JB-Mörderin brach in Tränen aus.

In diesem Augenblick verschwand ich. Und dieses Mal dauerte es sehr lange, viel länger als vierundzwanzig Stunden. Als ich endlich zurückkehrte, mussten die anderen mir berichten, was in der Zwischenzeit geschehen war.