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»Wir haben einen Durchbruch, glaube ich.« Agent Thyme, George und ich hatten uns in Michaelas anderem Büro zum JB-Briefing eingefunden.
»Das ist also ihr anderes Büro?« Agent Thyme schien verblüfft zu sein, dass wir uns in der Dienststellenküche versammelt hatten. Dort hockten wir auf Barhockern vor der riesigen Granitarbeitsplatte der Kücheninsel, während Michaela sich damit vergnügte, eine Banane in Stücke zu hacken.
»Obstsalat«, erklärte sie, obwohl keiner gefragt hatte. »Wie ich sehe, ist Shiro anstelle von Cadence gekommen. Das kann nur bedeuten, dass etwas passiert ist.« Sie wischte Bananenreste von ihrem Messer in eine rote Schüssel, in die ein ganzes Huhn gepasst hätte. »Was für ein Durchbruch?«
Ich hielt den Brief so, dass sie ihn lesen konnte. Bananenschmiere musste ja nicht unbedingt sein.
»Sieht nicht so aus, als wäre er vorher im Labor untersucht worden«, lautete ihr erster Kommentar. Fast hätte ich gegrinst. Irgendwie bewunderte ich unsere Chefin, diesen Inbegriff kühler Beherrschtheit. Die meisten Vorgesetzten hätten mit einem »Ach, du Scheiße!« reagiert.
»Ich fand, Sie sollten ihn sofort zu Gesicht bekommen.«
Das verfing keineswegs. Michaela musterte mich lediglich mit erhobener Silberbraue, während ich den Brief vorsichtig auf einer sauberen Stelle der Arbeitsplatte platzierte. »In der Tat. Nachdem Sie ihn geöffnet und gelesen hatten.«
»Nun … ja.«
Michaela warf noch einen Blick auf den Brief, dann begab sie sich zu dem großen Edelstahl-Kühlschrank und entnahm diesem zwei Zucchini. Sie wusch das Gemüse in dem Großküchenspülbecken (ebenfalls Edelstahl), dann schnitt sie auch dieses klein. Und durchaus nicht behutsam: Es ging Hack! Hack! Hackhackhack! »Das klingt authentisch.«
»Finde ich auch.«
»Ein Jammer, dass sie immer noch so auf Sie fixiert sind, aber das war ja im Grunde nicht anders zu erwarten.« Hackhackhack!
»Stimmt.« Meine Güte! Für Michaelas Verhältnisse war das schon ein tiefes Mitgefühl. Wartet’s nur ab, bis ich Agent Thyme am Schießstand vernichtend geschlagen habe, dachte ich. Michaela würde meinen Triumph genießen.
Einen Augenblick lang war ich stark verwirrt. Warum … hatte ich so einen Gedanken gehabt? Warum wollte ich Michaela unbedingt etwas beweisen? Und obendrein auf Kosten der neuen Kollegin?
Oh ihr Götter! Cadence konnte nicht aufhören, sich nach dem düster-attraktiven Dr. Gallo zu sehnen (und er war ja auch wirklich sehnenswert), während ich unserer Chefin einen Sieg aufzutischen gedachte, genauso wie eine Katze ihrem Frauchen eine tote Maus apportiert. Fast könnte man annehmen, dass Michaela so eine Art – ha, ha – Mutterfigur für mich war. Ha, ha!
Wahrscheinlich litt ich unter Schlafmangel.
»Aber warum haben die Ihnen nicht auch etwas geschickt, Michaela?«
Wir mussten uns immer noch daran gewöhnen, dass Agent Thyme nun in unserer Mitte weilte, deshalb verstand erst mal keiner, was für eine wichtige Frage das war – oder nahm sie überhaupt wahr. Wenn ein neuer Kollege zu seinem ersten Meeting in Michaelas anderes Büro gebeten wurde, staunte er zunächst geraume Zeit über diese riesige glänzende Küche, die in Größe (und Ausstattung) zu einem Restaurant zu gehören schien.
Thyme hingegen akklimatisierte sich rasend schnell. Es hatte den Anschein, dass sie eine hervorragende Agentin war, solange sie nicht mit reflektierenden Oberflächen konfrontiert wurde.
»Verzeihung, was haben Sie gerade gesagt?«, erkundigte sich Michaela. »Ich habe das nicht genau verstanden.«
Ich blickte Agent Thyme an. Sie hatte die Augen so weit aufgerissen, dass man das Weiße um ihre Pupillen herum sehen konnte – wie ein verängstigtes Pferd, das vor dem Feuer flieht. Entweder war sie tatsächlich völlig verängstigt oder sehr aufgeregt. Angesichts unseres Berufes hätte ich auf Letzteres gewettet.
»Ich meine …« Sie hüstelte, als sie merkte, dass wir aufmerksam lauschten. »Michaela hat immerhin ihren Bruder erschossen. Wegen Ihnen«, sie deutete auf unsere Chefin, »sind sie jetzt nur noch zu zweit. Ihre Schuld«, jetzt zeigte sie auf mich, »ist das ja nicht. Ich habe mich in die Fallakten eingelesen, bevor ich hierher versetzt wurde. Wobei mir einfällt: Ich wollte Sie doch so vieles fragen!«
»Später.«
»Ja, einverstanden, Shiro. Aber dass Sie’s nur wissen: Später bedeutet in meinem Wortschatz keineswegs niemals. Doch um auf meine Frage zurückzukommen – warum haben die Michaela keinen Brief geschickt?«
»Weil sie nicht glauben, in mich verliebt zu sein«, erwiderte unsere Chefin kühl. »Obschon ich bezweifele, dass derart gestörte Menschen überhaupt wissen, was Liebe ist.«
»Ooooch«, machte George grinsend. »Wer könnte Sie nicht lieben, Boss? Ihr Haar ist feinstgesponnenes Silber. Und Ihre Turnschuhe sind so weiß!«
Michaela zeigte mit der Messerspitze auf sein linkes Auge. »Schluss mit dem Quatsch, Pinkman, oder ich lasse Sie erschießen.«
Ich überlegte, ob ich Michaela die Bemerkung über gestörte Menschen und deren Unfähigkeit zu lieben übelnehmen sollte. Immerhin litt jeder der Anwesenden unter einer schweren seelischen Störung. Ich jedoch wusste, was Liebe bedeutet. Denn ich liebte …
Patrick? Ja. Ich … zumindest glaubte ich es.
Ich liebte es, dass er mich liebte. War das dasselbe? Ich wusste es nicht und war zu stolz nachzufragen.
Konzentrier dich, Shiro.
»Obwohl es Michaela war, die Opus den Gnadenschuss gegeben hat, kann ich euch versichern, dass die beiden Überlebenden mich und meine Schwestern dafür verantwortlich machen.«
»Weil sie alle diese Menschen ermordet haben, immer in Dreiergruppen, um Ihre Aufmerksamkeit zu bekommen? Da Sie zu ihnen kommen sollten? Sie alle drei, meine ich.«
»Korrekt.« Michaela hatte die zerkleinerten Zucchini in eine andere Schüssel gegeben. »Shiro, Cadence und Adrienne sollten sich jedoch nicht für die Mordserie oder Opus’ Tod verantwortlich fühlen.«
»Keine Sorge, Chefin«, versicherte ich. »Das tun wir nicht.«
»Nein, aber sie sollten sich für meine Entführung verantwortlich fühlen!«, knatschte George.
»Abgelehnt«, grinste ich. »Ist deine eigene Schuld, wenn du dich von Irren überrumpeln lässt.«
»Muss wohl ein Dienstag gewesen sein«, knurrte er.
»Ja, ich entsinne mich«, schaltete sich Thyme ein. »Die haben Sie in einen Besenschrank gesperrt, und Sie haben sich in die Hose geschissen, damit man Sie finden konnte, bloß …«
»Bloß dass ich von lauter Vollidioten umgeben war, und mein brillanter Plan nicht funktionierte! Meine Hose ist übrigens ruiniert. Der Angestellte in der chemischen Reinigung hat buchstäblich geheult, das könnt ihr mir glauben. Geheult. Seit Jahren entfernt der Mann unsägliche Flecken aus meiner Kleidung, aber das … das hat ihm den Rest gegeben, dem armen Kerl.« Er fing sich wieder und fuhr in seinem üblichen Ton fort: »Wie viele Male haben Sie die Scheißakte denn gelesen?«
»Oh, viele Male. Deshalb glauben wir ja, dass der Brief echt ist«, erwiderte Thyme.
»Wer wir, New Girl?« George verfiel schon wieder in diesen quengeligen Ton. Kein gutes Omen für den Rest des Meetings.
»Ja, Agent Thyme, das glauben wir in der Tat. Wir werden den Brief natürlich noch genau untersuchen lassen. Doch jetzt und hier gehe ich von der Voraussetzung aus, dass er echt ist.« Michaela zeigte mit dem Messer auf mich. »Wenn Sie nicht hier in der Zentrale sind, müssen Sie gut auf sich aufpassen.«
»Einverstanden.«
»Aber wenn der Brief doch echt ist … woher haben die wissen können, dass wir im JB-Fall ermitteln?«, fragte Thyme. Wenn Dreierpack eines Tages käme, um uns zu holen, dann würde hoffentlich ich unseren Körper steuern. Cadence war dieser Konfrontation nämlich nicht gewachsen. »Woher wissen die das nur?«
»Tja«, sagte ich niedergeschlagen. »Sie sind eben brillant. Ein unglückseliger Zufall.«
»Zu dritt waren sie brillant«, widersprach Thyme. »Doch jetzt sind sie nur noch zu zweit. Als sie noch zu dritt waren, schienen sie eine Art … Schwarmdenken zu besitzen. Ich weiß, wie das klingt«, fuhr sie hastig fort, »es ist natürlich ein veralteter Begriff. Jedenfalls waren sie damals höchst beeindruckend. Was aber ist jetzt?«
»Sie haben ja den Brief gelesen. Die wissen Dinge, die sie eigentlich nicht wissen können.« Ich stutzte. »George hat übrigens eine gute Frage gestellt.«
»Na, endlich«, grunzte er.
»Wie viele Male haben Sie die Scheißakte gelesen?«
Thyme lachte. »Viele, viele Male. Als Alternative wäre mir nur der neue Stephen King geblieben, und seit der mit Koks und Alk aufgehört hat, hat er seinen Biss verloren.«
»Autsch«, sagte Michaela leise. »Eine Buchkritikerin in unseren Reihen.«
»Also Opus war – Sie müssen mir sagen, wenn ich etwas falsch verstanden habe – ein Idiot Savant ...«
Nun wies Michaelas Messer drohend auf Thymes Gesicht. »Es heißt Savant-Syndrom. Sie müssen sich schon eine politisch korrekte Ausdrucksweise aneignen, wenn Sie hier arbeiten, Thyme.«
»Ja, Ma’am«, erwiderte unsere neue Kollegin voller Respekt. Da sich die Messerspitze keine fünf Zentimeter vor ihrer Nase befand, nahm ich an, dass sie es auch so meinte. Agent Thyme machte sich jedoch umsonst Sorgen. Michaela schlitzte kaum jemals Menschen auf. »Okay, also … Opus war derjenige mit dem Savant-Syndrom. Er konnte einem nicht sagen, was er zum Frühstück gegessen hatte, aber er konnte mühelos innerhalb von vier Sekunden sechsstellige Zahlen im Kopf addieren.« Thyme schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist unglaublich. Ich brauche meinen Taschenrechner ja schon, um zweistellige zu addieren!«
»Was hat Treffert noch mal gesagt? Dieser Savant- Forscher? Ihr Denken ist unergründlich, aber begrenzt.« Ich muss gestehen, dass mir die Eleganz dieser Darlegung überaus zusagte. »Tracy, der mittlere Teil des Trios, leidet unter Asperger. Ein mit Inselbegabung verwandtes Syndrom.«
»Korrekt.« Michaela hatte ein Bündel Staudensellerie (Igitt! »Widerwärtiges Unkraut!«, wie mein Held Newman in Seinfeld sagen würde) aus dem Kühlschrank genommen und säuberte es nun unter fließendem Wasser. Bald schon würden die Hackgeräusche erneut ertönen. »Eine abgeschwächte Form von Autismus. Aber anders als bei Autisten bleibt ihnen die Sprachentwicklung erhalten.«
»Diese Typen versagen so dermaßen, wenn sie einen sozialen Code erkennen sollen«, warf George ein. Er mampfte fröhlich die Bananen, die unsere Vorgesetzte klein gehackt hatte. Ich fand es bedenklich, dass er seine Hand in eine gefährliche Nähe des Messers brachte, wenn er in die Schüssel griff, aber das ging mich ja schließlich nichts an.
»Oh ja, die tun das, nicht wahr?«
Mampf, mampf. »Wisst ihr noch: Jameson? Ein sensationelles fotografisches Gedächtnis, aber er musste erst lernen, dass es, wenn man so macht …«, George demonstrierte uns ein übertriebenes Grinsen voller Zähne und Arglist und zermatschter Banane, »… bedeutet, dass die Menschen glücklich sind. Und wenn jemand so macht …«, sein finsteres Gesicht hätte bei jeder Schwangeren zu einer sofortigen Fehlgeburt geführt, »… ist das ein Stirnrunzeln und bedeutet, sie sind böse oder traurig. Jameson musste Sachen lernen, die die meisten Menschen sonst mit der Muttermilch oder Babynahrung oder was auch immer einsaugen.«
»Vielen Dank für die Einführung in Asperger. Der dritte Teil des Trios – Jeremy – stottert. Mit seinem Hirn ist aber alles in Ordnung.«
»Abgesehen von diesem Hang zu Serienmord«, fügte ich hinzu.
Michaela zuckte nur mit den Achseln. Mittlerweile spaltete sie Selleriestängel, um sie danach umso leichter klein hacken zu können. »Korrekt. Ja, nachdem sie einen Teil ihres … Schwarmdenkens, haben Sie gesagt?« Auf Thymes Nicken fuhr sie fort. »Ein sehr griffiges Wort. Also, nachdem sie einen Teil ihres Schwarmdenkens verloren hatten, waren sie beschädigt. Aber beileibe nicht außer Gefecht gesetzt. Schließlich war jeder Einzelne von ihnen auf seine Weise herausragend gewesen, und zwei sind ja noch übrig. Jeremy und Tracy …« Michaela hielt kurz inne, dann begann sie, den Sellerie zu verhackstücken. »Auch sie können immer noch formidable Leistungen vollbringen.«
»Also haben sie sich in die JB-Akte gehackt? War die denn für Opus freigegeben?«
»Nein, er war ja Hausmeister. Äh, Hausverwalter.« Ich musste ein Grinsen verbergen. Michaela pflegte selten ein politisch unkorrekter Lapsus zu unterlaufen. »Er hatte keinen Zugang zu dem Material.«
»Und trotzdem wissen sie offensichtlich über unsere Ermittlung Bescheid. Ganz schön schlau, wenn man bedenkt, dass wir die Presse doch so weit wie möglich herausgehalten haben. Und selbst wenn sie es von einem Reporter haben sollten, woher konnten sie wissen, dass Shiro den Fall bearbeitet?«
»Das«, sagte Michaela, »ist eine bedenkenswerte Frage. Ich werde sie gründlich bedenken, dessen können Sie sicher sein.«
Ich dachte ebenfalls nach. Wie mir schien, musste es eine ziemlich logische Erklärung geben … sie lag mir sozusagen auf der Zunge. »Ich muss in Ruhe darüber nachdenken«, sagte ich zu den anderen und verschwand.