68
Patrick wirkte erstaunt, als er mich sah. Er hatte natürlich Michaela erwartet.
»Was machst du denn hier?«
»Ich bin deine Anwältin. Danke, Officer, ich möchte gern eine Zeit lang ungestört mit meinem Klienten sprechen.« Nachdem die Polizisten hinausgegangen waren, setzte ich mich Patrick gegenüber, stellte meinen Aktenkoffer ab und faltete die Hände auf dem Tisch.
In dem grellen Neonlicht blinzelte Patrick mich an. Dann beugte er sich vor und flüsterte (als wären die Mikrofone nicht so empfindlich, dass sie einen Pups im luftleeren Weltraum aufnehmen könnten): »Shiro, ich weiß zu schätzen, was du für mich tust, aber das kannst du doch nicht machen! Du kannst doch nicht einfach so vorgeben, meine Anwältin zu sein.«
»Wer gibt denn hier was vor? Ich bin Anwältin.« Ich zog meine Karte aus der linken Brusttasche und schob sie ihm über den Tisch zu. »Und tatsächlich bin ich im Moment deine Anwältin.«
Er starrte mich nur an. Er trug noch immer die Kleider vom Vorabend. Ohne Blutflecke, Gott sei Dank.
»Du – du bist meine Anwältin?«
»Ich hatte eine Woche lang nichts zu tun, da habe ich meine Anwaltsprüfung gemacht.«
Patrick ließ seinen Kopf langsam auf die Tischplatte sinken. Dann begann er, ihn auf den Tisch zu schlagen. Ich schob meine Hände dazwischen und dämpfte die Schläge ab. »Klar hast du das gemacht. Natürlich hast du das gemacht, ist ja auch völlig normal, dass jemand, der kein Anwalt sein will, lang genug abwartet, um die Prüfung abzulegen und dann hin und wieder Anwalt zu spielen.« Dröhn. Dröhn. Dröhn.
»Hör auf damit, mir werden gleich die Hände taub. Und ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst. Denn ich muss gestehen, dass die Prüfung gar nicht so schwer war. Was allerdings nur dazu beigetragen hat, dass ich vom Anwaltsstand jetzt noch weniger halte«, fügte ich an. »Außerdem mussten in früheren Zeiten alle FBI-Agenten zugleich auch Anwälte sein. Deshalb hab ich überhaupt diese Kurse belegt.«
Sein Kopf fuhr hoch. »In früheren – na schön, aber Cadence hat das nicht gemacht.«
Meine Reaktion bestand in einem verächtlichen Schnauben.
»Und Adrienne auch nicht.«
Ich musste laut lachen.
Er beugte sich wieder vor, diesmal, um meine Handflächen zu küssen. Und sah davon ab, seinen Kopf weiterhin auf die Tischplatte zu schlagen. Ich war sehr erleichtert. Er setzte sich gerade hin. »Na schön, Frau Anwältin. Wie lautet der Plan?«
»Hör auf, gegen das Gesetz zu verstoßen.«
»Kapiert. Schritt zwei?«
»Erzähl der Polizei nicht, du hättest gegen das Gesetz verstoßen, wenn es gar nicht stimmt.«
»Oh.« Er sah verlegen drein. »Du hast also davon gehört?«
»Natürlich, du haariger Schwachkopf.«
»Da rasiert man sich einen Morgen mal nicht und wird sofort beschimpft«, klagte er, während er sich mit der Hand über die Stoppeln fuhr.
»Ich weiß außerdem, dass du törichterweise angenommen hast, Adriennes Missetaten wären deine Schuld. Ich weiß, dass du törichterweise Verbrechen gestanden hast, die du nicht begangen hast: als da wären Zerstörung von Eigentum, Einbruch ...«
»Eigentlich eher Zerbruch.«
»Unterbrich deine Anwältin nicht. Du wirst erleichtert sein zu hören, dass ich deine Freilassung in die Wege geleitet habe. Und Michaela kennt den DA, also wird es möglicherweise kein Verfahren geben. Es war nett, dass du angeboten hast, für den Schaden aufzukommen, aber das kann ich nicht zulassen, denn ich schäme mich viel zu sehr. Wir müssen uns also etwas anderes ausdenken.«
»Shiro, ihr habt doch gar nicht genug Geld, und du weißt, dass es mir nichts ausmacht.«
»Aber in der Zwischenzeit wäre es eine gewaltige Hilfe, wenn du … was nicht tun würdest?«
»Wenn ich nicht gegen das Gesetz verstoßen würde?«, vermutete er.
»Korrekt. Und außerdem?«
»Nicht behaupten würde, ich hätte gegen das Gesetz verstoßen, wenn es nicht stimmt?«
»Eine Eins plus für meinen Meisterschüler. Komm jetzt, Patrick. Du Idiot.«
Er rührte sich nicht von der Stelle. »Tut mir wirklich leid, dass ich dir solche Angst eingejagt habe. Hätte besser den Mund gehalten. Ich hab’s total vermasselt und …« Er schüttelte den Kopf. »Ich wusste einfach nicht, wie ich anfangen sollte.«
Also hatte er in typischer Mars-Manier (siehe: Männer sind vom Mars, Frauen etc.) das größere Problem auf den Tisch gepackt. Das Problem, auf welches er Einfluss hatte.
»Es tut mir wirklich l...«
»Entschuldige dich bloß nicht dafür, dass du mir den Antrag gemacht hast, mit dir zusammenzuleben. Das war einer der glücklichsten Momente meines Lebens.«
»Und einer der erschreckendsten.«
»Ja. zugegeben. Aber das war ja wohl kaum deine Schuld.«
»Aber das größte Problem ist, dass ich der Feigling bin. Nicht du. Ich bin von uns beiden der Schisser.«
»Was willst du denn damit sagen?«
Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl herum. Ich hätte wetten können, dass er am liebsten aufgesprungen und umhergelaufen wäre, aber er zwang sich, still zu sitzen und mir in die Augen zu schauen. Interessant.
»Als wir über Hunde geredet haben. Warum ich mich mit Hunden auskenne. Meine Schwester hatte einen Hund, als sie noch klein war. Als das mit ihrer … Krankheit anfing. Richtig anfing. Meine Eltern …« Wieder schüttelte er den Kopf. »Die konnten einfach nicht damit umgehen. Nein, das stimmt nicht ganz … sie wollten es nicht. Cathie ging es immer schlechter, zuerst haben sie behauptet, sie wolle bloß mehr Aufmerksamkeit, dann hieß es, sie habe eine Lernschwäche. Sie haben sie von der Schule genommen und ihr neue Lehrer besorgt und einfach alles versucht – nur das nicht, was Cathie wirklich gebraucht hätte, und was uns allen auch sonnenklar war. Sie haben eine Therapie nicht einmal in Betracht gezogen, ihrer Meinung nach war das etwas für Schwächlinge.
Zwischendurch hieß es dann: Patrick, hast du schon fürs College gepackt? Und: Patrick, hast du dich schon für die Uni-Rallye angemeldet? Und: Patrick, willst du wirklich Eingangskurse für Jura besuchen? Etwas anderes war mit ihnen nicht zu besprechen. Ihre Jüngste, mit ihrer Jüngsten lief etwas gewaltig schief, aber das erwähnten sie nicht, sie wollten nur von ihrem klugen älteren Sprössling erzählen, der mit siebzehn schon aufs College kam.
Aber ich … ich wollte immer wieder wissen, was mit Cathie war. Wenn es ihr ein wenig besser ginge, dann könnte man sie doch vielleicht in eine Klinik bringen, nicht wahr? Aber meine Eltern sagten immer nur: Mach dir keine Sorgen, es geht ihr gut, solltest du nicht allmählich fürs College packen? Bla bla bla. Sie haben gelogen, und ich wusste, dass sie logen, aber ich habe … zugelassen, dass sie mich fortschickten.«
»Patrick, du warst selbst noch so jung, und Cathies Krankheit war doch nicht deine Schuld …«
»Sei still, ich schaffe es nur einmal, dir das alles zu erzählen.« Er machte eine schneidende Bewegung mit der Hand, die ich bei ihm noch nie zuvor gesehen hatte. Aber sie passte zu der gepressten, harten Stimme, die ich auch noch nie von Patrick gehört hatte, und obwohl ich im Geiste die Brauen hochzog, ließ ich ihn fortfahren.
»Nachdem ich eine Weile fort gewesen war, hörte ich, dass sie sie eingewiesen hatten. Ein kleines Mädchen! Sie haben nach der Aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Maxime gehandelt und Cathie in dieses verdammte Irrenhaus eingewiesen!«
Seine Hände lagen zu Fäusten geballt auf dem Tisch. Er atmete schwer. Wir schwiegen eine Weile. Schließlich sagte ich: »Wenn du jetzt von mir dafür verurteilt werden willst, Patrick, dann war deine Mühe umsonst. Es ist nicht deine Schuld gewesen. Weder Cathies Krankheit, noch die Feigheit deiner Eltern, noch dein Wunsch, auf dem College ein eigenes Leben zu leben. Wäre es dir etwa lieber gewesen, wenn Cathie und ich einander nie kennengelernt hätten? Denn auch so hätte es kommen können, wenn die Dinge anders gelaufen wären.«
»Natürlich nicht.« Immer noch konnte er mich nicht ansehen. »Es ist nur … ich bin auf die Uni gegangen und habe mein eigenes Leben gelebt, weit entfernt von ihnen – und Cathie. So hab ich zugelassen, dass sie sie weggesperrt haben. Und als sie dann dich kennenlernte – als ich dich kennenlernte … ich glaube, ich habe dich schon geliebt, bevor ich dich kannte. Denn als ich herausfand …«
»Was herausfand?«, fragte ich sanft.
»Als mir klar wurde, was meine Eltern getan hatten … was sie tun konnten, nachdem ich aus dem Weg war … da hatte ich tatsächlich das Gefühl, verrückt zu werden. Ich dachte wirklich so etwas wie: Juch-hu, nun hat’s mich auch erwischt, jetzt kann ich Cathie Gesellschaft leisten! Ich hab tatsächlich gespürt … wie ich … das seelische Gleichgewicht verlor.« Er hielt mich mit einem dunklen Blick fest. In seinen Augen standen Tränen. »Es war, als ob mein Verstand ein Boot auf einem See wäre und ein Gewitter losbräche. Ich spürte, wie mein … Ich kippte. Ich spürte, wie mein Ich sich spalten wollte. Ich habe es tatsächlich gefühlt.
Und als Cathie mir dann von dir erzählte, und als ich dich kennenlernte, dachte ich: Das ist eine Frau, die weiß, wie das ist … sie hat sich aufgespalten und konnte es nicht rechtzeitig stoppen. Es war, als ob … als ich dich kennenlernte, war es so, als ob ich dich schon immer gekannt hätte. Alle Teile, die dich ausmachen. Nicht nur jene, die du glaubst, der Welt zeigen zu dürfen.«
Mir wurde bewusst, dass ich ihn schon seit einiger Zeit mit offenem Mund anstarrte. Mein schöner Bäcker, mein Freund, von dem ich glaubte, ich hätte mich für ihn entschieden!
»Ich habe dich auf schreckliche Weise für zu selbstverständlich genommen«, war alles, was ich zu dieser außergewöhnlichen Geschichte sagen konnte. Oh. Da war aber noch etwas. »Wenn du dich allerdings für Cathies Geisteskrankheit verantwortlich fühlst, dann ist das nicht nur töricht, sondern auch überheblich und egoistisch.«
Nun fiel ihm der Kiefer herunter. »Was?«
»Auf eine nette Weise«, versicherte ich ihm. »Und mit den besten Absichten. Du solltest mal mit Cathie darüber reden.«
»Ich hab Cathie all das schon vor Jahren erzählt!«, fauchte er. »Jede Woche haben wir in der Therapie darüber gesprochen.«
»Ihr seid in Therapie?«
»Nicht mehr. Aber als ich vom College abging und etwas mehr Rückgrat hatte, musste ich natürlich mit ihr reden … über die Vergangenheit reden. Und jetzt, wo meine Eltern bald … abberufen werden – so lautet wohl die höfliche Umschreibung – jetzt auf einmal wollen sie ihre Tochter sehen. Sie sind selbst daran schuld, dass Cathie nicht will, aber das ist …« Er schüttelte den Kopf. »Eigentlich hatte ich nicht vor, über all das zu sprechen, als man mir sagte, mein Anwalt sei gekommen.«
Ich lachte. »Natürlich nicht! Ich hab ja schon genug im Gepäck und hätte mir nie träumen lassen, dass du dein Päckchen mit mir teilen würdest. Und das«, fuhr ich grimmig fort, »sagt dir eine, die wöchentlich zu soundso vielen Therapien rennt. Patrick, die Wahrheit lautet, dass ich Schiss bekommen hatte. Ich bin ein Feigling. Du warst damals noch sehr jung, ich hingegen kann nicht mal das zu meiner Rechtfertigung anführen. Du hast mir etwas Wunderbares angeboten, und meine Reaktion bestand darin, Hals über Kopf abzuhauen. Du verdienst etwas Besseres.« Ja, genau. Also flieh, Patrick. Flieh wie der Wind. Ich kann dir nichts als Leid anbieten.
Er zog seine dunklen Brauen hoch und grinste. »Bist du sicher?«
»Ja. Ich …« Ich senkte den Blick, dann sah ich ihn wieder an. »Ich mag dein Haus sehr.«
Sein Grinsen wurde breiter. »Mein Haus?«
»Ja. Und ich würde gern dort wohnen. Mit dir. Ich weiß nur nicht, wie wir drei ...«
»Fünf«, sagte er und grinste noch breiter.
»Wie bitte?«
»Wir fünf. Du, ich, Cadence, Adrienne und Olive, der Köter.«
»Olive, der Köter?«
»Ja.«
Ich seufzte und nahm meinen Aktenkoffer. »Darüber müssen wir uns noch mal unterhalten.«
»Ja gut.«
»Ausführlich.«
»Yep.«
»Denn es wird kompliziert. Wer schläft wo? Wer schläft mit wem?« Um genau zu sein: Noch war es mit Patrick nicht passiert. Cadence war immer noch Jungfrau. Ich zwar nicht, aber immerhin war das letzte Mal ein paar Monate her. Und ich wusste wirklich nicht, was Adrienne war. Niemand wusste das. Keiner wollte es wissen. »Wir müssen das gut planen. Warum grinst du so?«
»Weil ich nicht gewusst habe, dass eine meiner Freundinnen Anwältin ist.«
»Ja, ja, dies ist wahrlich ein Tag der Überraschungen.«
»Und du bist sofort hergekommen, nicht wahr?« Er strahlte mich voller Freude an. »Ich hab’s gerade erst geschnallt. Michaela hat es dir erst nach eurem supergeheimen Briefing mitgeteilt. Aber als du es wusstest, bist du sofort gekommen.« Und er fügte in einer grässlichen Nachahmung von Sally Field bei der Oscar-Verleihung 1985 hinzu: »Ihr liebt mich! Ihr liebt mich wirklich!«
»Ich liebe deine Meyer-Lemon-Törtchen«, berichtigte ich ihn. »Nicht dich.«
»Ooch.« Er stand auf. Ich stand auf. »Kann die hübscheste Anwältin im Raum mich vielleicht mal küssen?«
»Ich bin die einzige Anwältin in diesem Raum, du Schwachkopf.«
Ach, zum Teufel … Ich küsste ihn. Fern sei es mir, die Bitte eines zu Unrecht eingesperrten Bäcker-Millionärs zu ignorieren, der unnützerweise ein gerüttelt Maß an Schuld mit sich herumtrug und in Gesellschaft von Olive, dem Köter, geheime Ausflüge zu PetCo-Märkten unternahm.
In meinem Leben gab es nichts, was unkompliziert war. Doch an einem Tag wie diesem scherte es mich kaum.