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Glockengebimmel weckte mich auf. Ich lag in meinem eigenen Bett und war nackt? Ich schlug die Decke zurück und überzeugte mich. Yup. Nackt. Aber ich hatte weder neue Tattoos noch blaue Flecke, war nicht eingegipst und auch nicht dick verbunden. Sogar Body Glitter entdeckte ich keinen hach, was war ich froh, als dieser bescheuerte Glitzertrend ausstarb. Kein Henna gerechterweise muss ich aber zugeben, dass die Hennamuster, die ich einmal auf meinen Händen gefunden hatte, ziemlich cool waren. So ein kompliziertes, schönes Muster, und es hatte tagelang gehalten. Trotzdem waren es immer noch meine Hände, verflixt noch mal. Wäre nett gewesen, wenn sie vorher gefragt hätte.

Keine Aufklebe-Tattoos, keine Schatzkarte, die umgekehrt auf meinen Bauch gekritzelt war, damit ich sie lesen konnte (Adrienne kann manchmal sehr verwickelt denken). Keine Piercings, kein Sonnenbrand und keine Frostbeulen. Uuunnd argwöhnisch tastete ich mein Gesicht ab. Der Spiegel war im Bad, aber es fühlte sich ohnehin nicht so an, als wäre mein Gesicht bemalt worden.

Nein, alles war in Ordnung. Es war das Glöckchengebimmel, das mich geweckt hatte. Ich schlug die Decke zurück, nahm den Quilt, der stets zuoberst lag, hüllte mich hinein, nahm mein Handy vom Nachttisch und folgte dem Klang.

Köter saß vor der Schiebetür. Ein Glöckchen war mittels einer Schnur an die Türklinke gebunden worden und schwang leicht hin und her. Es hing so tief, dass sie mit der Nase daran reichte. Wieder stupste sie die kleine Glocke an, dann hörte sie mich und kam schwanzwedelnd auf mich zu.

»Soll das heißen willst du raus?« Köter trug jetzt ein rotes Halsband und wirkte gepflegter als vorher. Nein, nicht bloß gepflegt sie war sauber! Sie war gründlich gewaschen und gebürstet worden und roch fantastisch.

Ich kniete mich hin, um sie zu streicheln und boah! »Was hast du denn gefressen?« Ihr kleiner Bauch war förmlich aufgebläht. Überhaupt war der ganze Hund lebhafter, als ich ihn je zuvor erlebt hatte. Voll mit gutem Hundefutter und Leckerlis, wetten? Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie mehr zu fressen bekommen als die paar Brocken, die ihr ein Mistkerl mit Hundekacke im Hirn zugeworfen hatte.

Ich öffnete zuerst das Schloss der Schiebetür, dann das der Fliegengittertür und schob beide auf. Und schnappte erschrocken nach Luft argh! Immer noch Dezember. Köter trottete aus der Tür, hielt geradewegs auf ein paar Bäume zu, die ungefähr sechs Meter hinter meinem Haus standen, hockte sich hin, erledigte ihr Hundegeschäft und kam brav wieder zurück. Netter Zug von ihr, denn ich hatte zu spät gemerkt, dass ich sie ja nicht an der Leine hielt und dass sie also hätte davonlaufen können.

Verwirrt schob ich, nachdem Köter fügsam hereingewatschelt war, die Türen wieder zu und verriegelte sie. Während sie draußen war, hatte ich mich mit einem prüfenden Rundumblick vergewissert, dass in meiner Wohnung keine unangenehmen Überraschungen auf mich lauerten. Keine heimlichen Haufen und auch keine mysteriösen Flecken auf dem Teppich.

Und Köter musste während meiner Abwesenheit eine Menge Zeug angeschleppt haben. Im Wohnzimmer lag Hundespielzeug herum, am Mantelhaken hing eine Leine, in der Küche stand eine Futternapf-und-Wasser-Kombi und das waren nur die Dinge, die ich auf den ersten Blick sah.

»Wow«, sagte ich zu Köter und beugte mich vor, um ihren glänzenden (und sauberen) Kopf zu streicheln. Köter beschnüffelte meine Hand und tanzte dann ausgelassen um meine nackten Beine herum. »Du hast dich ja « Schnell eingelebt. Ja. Das konnte man wohl sagen. Vielleicht aber auch nicht. Wie lange war ich diesmal eigentlich fort gewesen?

Ängstlich starrte ich mein Handy an. Ein Tastendruck, und ich würde genau wissen, wie viel Uhr es war und welchen Tag wir heute hatten. Und das war bei Weitem nicht alles. Shiro hatte jede Menge hilfreicher Apps auf mein Handy geladen (ich benutzte es ja hauptsächlich zum Telefonieren und Koifüttern).

Wenn ich die richtigen Tasten drückte, konnte ich meine relative Position zur BOFFO-Zentrale bestimmen stellen Sie sich nur meine Überraschung vor, als ich einmal aufgewacht war und den Mississippi auf der falschen Seite hatte, bis die App mir mitteilte, wo ich mich befand. Das ist allerdings gar nichts im Vergleich zu den Verwicklungen, wenn man aufwacht und den Ozean auf der falschen Seite hat.

Ich konnte jederzeit herausfinden, wie das Wetter derzeit war (klar, eigentlich eine dämliche Überinformation, aber zuweilen kann eine Wettervoraussage doch sehr hilfreich sein) beziehungsweise wie es in den nächsten Tagen werden würde.

Eine App teilte mir mit, wo sich die nächste Apotheke, der nächste Supermarkt, Post, Krankenhaus, Autovermietung, Flughafen, Tankstelle oder Bar befanden. Wieder eine andere übertrug Sprachmitteilungen von Shiro: »Reg dich nicht auf, aber du bist gerade in Südvietnam und hast dem Mann, der dich im Ehrenduell töten will, die Ehe versprochen. Außerdem haben wir keine Milch mehr«, oder von Adrienne: »Duck dich duck dich! Duck duck graue Schrotflinte! Oooooh, die Schrotflinte! Glänzt. Wo ist die Milch?«

Ich konnte Flugbewegungen in Echtzeit verfolgen, mithilfe von Google Earth die Erde googeln, übersetzen (mein Spanisch ist leidlich gut, mein Deutsch leidlich schlecht, mein Französisch nicht zu gebrauchen und mein Arabisch ein Witz) und wie bitte? Ich blinzelte erstaunt, als ich eine brandneue App entdeckte, die ich auf meinem Handy noch nie gesehen hatte. Es war ein weißes Kreuz vor rotem Hintergrund: Die Hunde-Nothilfe. »Wow«, sagte ich zu Köter. »Shiro will aber wirklich kein Risiko eingehen.«

Was ich damit sagen will: Shiro hatte sich große Mühe gegeben, damit unser Handy mehr war als nur ein simples Telefon, sie hatte es mit Apps vollgestopft, die uns helfen würden, wenn wir auf einem fremden Kontinent aufwachten.

Ich war ihr so dankbar dafür gewesen. Und so wütend, dass es überhaupt nötig war. So ist Cadence Jones nun mal: Wenn sie sich ärgert, ärgert sie sich. Und wenn sie dankbar ist, ärgert sie sich auch.

Ich sollte diese Angewohnheit, von mir in der dritten Person zu sprechen, im Keim ersticken, und zwar unverzüglich. Und damit aufhören, mir immer wieder die gleiche Frage zu stellen. Können Sie mir folgen? Unverzüglich.

Ich atmete tief durch und drückte eine Taste. Wir hatten den 6. Dezember, es war 9 Uhr vormittags. Also war es diesmal ein Tag. Ein ganzer Tag. Weg.

Ich schleppte mich ins Schlafzimmer, warf den Quilt aufs Bett und zog Schubladen auf, um ein paar Klamotten hervorzukramen. Ich vermochte nicht zu sagen, warum mir dieses Datum dermaßen Sorgen bereitete. Sicher, ich hatte einen ganzen Tag verloren, aber es war auch schon vorgekommen, dass ich mehrere Tage, ja sogar Wochen verloren hatte. Einmal war ich sogar zwei ganze Monate verschwunden gewesen.

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Als ich zu Bett ging, hatten wir uns noch mitten in der Grillsaison befunden, doch als ich wieder aufwachte, war das Thermometer um sieben Grad gefallen, die Bäume hatten ihr buntes Herbstkleid angelegt, und überall stieß ich auf Schulbusse voller Kinder, die ihren allzu kurzen Sommerferien nachtrauerten. Ach Kinder, ich kann nachfühlen, wie euch zumute ist.

Ich war mit der Frage zu Bett gegangen, ob diese feuchte Hitze wohl jemals nachlassen würde schon die kürzeste Shorts kam einem zu warm vor. Doch als ich aufwachte, brauchte ich bereits für den kurzen Weg vom Haus zum Auto einen Pullover.

Damals das war doch sehr viel schlimmer gewesen. Viel schlimmer, als bloß einen lumpigen Tag zu verlieren.

Doch es half nichts, dass ich mir das immer wieder vorsagte. Ich seufzte und blickte lustlos in meinen Kleiderschrank. Sollte ich einen Rock anziehen? Ich trug nie Rock bei der Arbeit. Den vielleicht? Nein, nicht mal diesen superniedlichen Rock. Okay, und wie wär’s mit der Hose? Nein, ich hatte die Kaki-Slacks gekauft, weil sie an dem Mannequin so toll ausgesehen hatten, und weil ich nicht zugeben wollte, dass diese Art Hose meine Taille verschwinden ließ. Egal, welches Oberteil ich trage, ob Bluse oder Pullover oder enges T-Shirt mit Blazer, immer sehe ich aus, als hätte Gott meine Beine erschaffen und dann meinen Kopf auf meine Oberschenkel gepfropft. Leider war die bescheuerte Hose zu teuer gewesen, als dass ich sie mit gutem Gefühl der Behindertenhilfe hätte spenden wollen. Tragen konnte ich sie natürlich auch nicht, deshalb lag sie bloß im Schrank herum.

Mein Handy begann »They’re Coming to Take Me Away, Ha-Haaa!« von Napoleon XIV zu plärren. Adrienne hatte schon wieder einen anderen Klingelton heruntergeladen. Ich beschloss, es mit Ergebenheit durchzustehen. Das letzte Mal, als sie einen Klingelton heruntergeladen hatte, hatte sie Paper Laces »The Night Chicago Died« den romantischsten Song aller Zeiten durch irgendeinen Dreck von Maroon 5 ersetzt. Das ist Irrsinn.

Ah! Der Anrufer war Cathie. Sie würde mich aufheitern. Vielleicht wollte sie mir etwas irrsinnig Komisches erzählen, das ihr passiert war: von einem Bild, das sie nicht fertig malen konnte, weswegen sie es in Orangensaft ertränkt hatte. Oder von einem Galeriebesitzer, der »das und das Bild« wollte, und »können Sie nicht noch sieben in genau diesem Stil malen?«

»Hey, Cath. Du kennst doch diese Kaki-Hose, die ich absolut «

»Warum ist mein Bruder im Knast?«

»… hasse«, beendete ich meinen Satz und hätte vor Verblüffung fast das Handy fallen lassen.

»Was? Patrick sitzt im Gefängnis? Was?«

»Ja! Im Knast! Und er will nichts sagen, und die Cops wollen auch nichts sagen, und wirst du das wieder in Ordnung bringen, oder muss ich deine Augäpfel als Pinselhalter benutzen?«

»Hör mal, das klingt ja richtig übel.« Mein Kopf bemühte sich, die Sache zu begreifen, aber die Sache weigerte sich. Jedes Mal, wenn ich glaubte, sie im Griff zu haben, entglitt sie mir wieder. »Cathie, sag mir alles, was du weißt.«

»Er sitzt im Knast.«

Ich hüpfte durch mein Schlafzimmer Köter hielt das für ein tolles Spiel und streifte die Slacks über, die ich hasste, während ich versuchte, mein Handy zwischen Ohr und Kinn zu klemmen. Das funktioniert mit diesen fimschigen Handys zwar nie, aber alte Gewohnheiten etc.

»Woher weißt du?«

»Michaela hat angerufen und es mir gesagt!«

»Was Michaela?« Vor Schreck hätte ich fast schon wieder das Handy fallen lassen. »Meine Chefin Michaela? Diese Michaela?«

»Ja! Ich nehme an, er hat sie angerufen, um sie zu bitten, mich anzurufen, damit ich bloß nicht hinkomme kannst du dir das vorstellen? Er hat seinen einzigen Anruf benutzt, um sich bei ihr zu melden. Er hätte den besten Anwalt von drei Bundesstaaten anheuern können, und was macht er stattdessen? Ruft Michaela an und sagt ihr, sie soll mir sagen, dass ich nicht kommen soll, um ihn da rauszuholen.«

»Aber du hast das natürlich ignoriert.«

»Ach nee, Cadence.«

Reizend. Ich sah Shiro förmlich vor mir, die sardonisch grinste. Cathie ruft dich verzweifelt um Hilfe und schiebt dir dann ein »Ach nee, Cadence« unter? Wie nett.

Ich schob den Gedanken (fast schon eine Vision, könnte man sagen) beiseite.

»Aber dieser miese Scheißkerl hat mir nicht sagen wollen, in welchem Gefängnis er sitzt«, erzählte Cathie. »Und in den Cities haben wir du weißt schon.«

Ich wusste. Im Großraum Minneapolis und St. Paul gibt es eine Menge Counties. Das größte ist Hennepin, mit mehr als einer Million Einwohner. Damit hätten wir schon mal ein Gefängnis, in einer Stadt. Und es gibt noch eine ganze Menge mehr in Minneapolis, gar nicht zu reden von St. Paul und all den umliegenden Städten und Gemeinden.

Ich wusste nicht mal, wo genau Patrick verhaftet worden war und wenn man’s recht bedachte, nicht mal, warum, oder was er verbrochen hatte. Aber das war jetzt auch nebensächlich. Wenn er in Burnsville oder St. Paul oder Minneapolis oder Lilydale verhaftet worden war es waren unterschiedliche Counties mit unterschiedlichen Verfahren und ja, auch unterschiedlichen Gefängnissen. Ein Federal Agent hat bei den Ortspolizisten keinen leichten Stand. Zu schnell fühlen sie sich übergangen.

»… also wusste ich nicht, wohin, und schon gar nicht, was ich «

Ich hüpfte immer noch im Schlafzimmer herum. Grunzte beruhigend ins Telefon. Scheuchte Köter von meinen Schuhen. Dann verlor ich das Gleichgewicht und schlug heftig auf dem Schlafzimmerteppich auf. »Ummmmmmmpf! Au.«

»… könnte irgendeins von zehn Gerichten sein Cadence!«

»Ich bin da, ich bin ja da, hat der Cop irgendwas von einer Haftrichter-Vorführung gesagt oder kommst du wohl her! Ich brauch das, Köter!«

»Du brauchst einen Köter? Welchen Köter? Darfst du in deiner Wohnung überhaupt Hunde ach, verdammt! Ich will’s gar nicht wissen. Scheiße, hörst du mir überhaupt zu? Mein Bruder ist eingesperrt worden wie ein tollwütiges Stinktier, und meine beste Freundin scheint irgendwie nicht ganz bei der Sache zu sein! Noch verwirrter als sonst!«

»Cathie, es tut mir wirklich leid, es ist nur es ist gerade alles so verrückt.« Eine glatte Untertreibung. »Ich nehme dein Problem ernst, das versichere ich dir.«

»Okay, zugegeben, du hast zeitweise an die achthundert Krisen zu bewältigen, ich bin aber deine beste Freundin. Das muss doch zu irgendwas gut sein, Cadence. Ich löse also jetzt meinen Beste-Freundin-Gutschein ein.« Bitte nicht. Tu’s nicht. Heb ihn dir für eine andere Gelegenheit auf. »Nur ein Mal, nur dieses eine Mal müssen mein Bruder und ich die Krise sein, die du über alle deine anderen Krisen stellst.«

Ich war hinter Köter hergerannt, wobei mir durchaus bewusst war, dass ich einen verwilderten Welpen für ein nicht erwünschtes Verhalten belohnte. Aber ich hatte keine Zeit und war auch zu erschöpft, um mir deswegen Sorgen zu machen. Ich schaffte es, sie einzukesseln, und nahm ihr den zweiten Schuh ab. Er war zwar feucht, aber noch nicht zerkaut. Ausgezeichnet. Äh, mit Abstrichen.

»Yep, yep«, brabbelte ich ins Telefon, weil ich wieder nur den zweiten Teil von Cathies Tirade mitbekommen hatte. »Ich werde ...« Das Handy klingelte: ein zweiter Anrufer. Ich sah kurz nach verflixt und zugenäht! »Ach, zur ... es ist Michaela.«

»Nein, das tust du jetzt nicht, Cadence Jones. Wir sind deine Krise du jour, wie ich dir gerade klargemacht habe, da kannst du nicht einfach ...«

»Cathie, sie weiß bestimmt, wo Patrick steckt. Was auch immer los ist, ich bringe es in Ordnung. Ich verspreche es. Hon, es tut mir leid, ich muss jetzt los, vielleicht hat es einen Mord gegeben.«

»Die gibt es doch immer!«

Damit hatte sie nur zu recht. Zaghaft beendete ich das Gespräch. Ohhhh, dafür würde ich bezahlen müssen. Bezahlen, bezahlen und nochmals bezahlen.

Beim letzten Mal, als ich mir eine ordentliche Portion Cathie-Zorn zugezogen hatte, hatte sie meine Haustür in Limonengrün mit pastellblauen Streifen verschönert. Die Farben sahen nicht nur grauenhaft aus, sie hielten auch Gäste fern, die diesem Angriff auf die Sinne nicht standzuhalten vermochten. Und unser Streit war lediglich darum gegangen, ob Van Gogh sein Ohrläppchen aus Liebeskummer oder aus Wahnsinn abgeschnitten hatte. Er war nicht mal um ein inhaftiertes Familienmitglied gegangen, um des vermaledeiten verflixten Himmels willen!

»Michaela?«

»Wir haben einen Durchbruch. Kommen Sie sofort.«

»Ich «

Ich was? Was sollte ich ihr denn sagen? Dass ich keine Ahnung hatte, was passiert war, weder mit Patrick noch mit JB? Dass mir ein ganzer Tag fehlte, dass ich erst seit fünf Minuten wieder präsent war, und dass ich, ach ja, übrigens, seit Neuestem Hundebesitzerin war?

Wie sollte ich meiner Chefin, einer Frau, die ständig bis zu den Kinnbacken in bürokratischem Hickhack steckte, um mich in Lohn und Brot und überdies geistig gesund zu erhalten, begreiflich machen, dass ich, wie auch immer der Durchbruch aussehen mochte, mehr daran interessiert war, Patrick zu finden und zu helfen, und dass mir alles andere nun einigermaßen gleichgültig war?

Machte mich das zu einer guten Freundin, aber zu einer schlechten FBI-Agentin?

Max Gallo würde nie in eine solche Patsche geraten. Er würde seine Probleme selber lösen. Jeder, der solche Augen hat, kommt in Arrestzellen bestens klar.

Wo in aller Welt kam das denn jetzt her? Von allen Dingen, mit denen ich mich in diesem Moment nicht befassen sollte, stand Max Gallos Tausend-Yard-Blick ganz oben auf der Liste.

Ernsthaft, ich möchte mal eine nicht rhetorische Frage stellen: Wie werden Menschen, die nicht unter Tranquilizern stehen und nicht in psychiatrischer Behandlung sind, mit diesem täglichen Stress fertig? Das möchte ich wirklich gern mal wissen!

Ich weiß nur zu gut, was es bedeutet, eine Seele zu besitzen, die einen in entgegengesetzte Richtungen zerrt. Wenn ich über etwas zornig oder froh oder traurig bin, aber genau weiß, dass sich ein anderer Teil von mir über die gleichen Dinge freut oder sich ihrer schämt.

Es ist ein verwirrender Zustand, aber ich kenne mich bestens damit aus. Es ist wie eine Achterbahnfahrt auf der Kirmes. Man weiß, dass man nach der Fahrt mindestens eine Stunde lang mit Übelkeit kämpfen wird, aber deswegen von vornherein auf die Fahrt zu verzichten, ist undenkbar.

Ich hatte nie die Erfahrung gemacht, wie es war, wenn mein Herz in verschiedene Richtungen gezerrt wurde ja, wenn es zwischen entgegengesetzten Gefühlen förmlich zerrissen wurde. Nicht mehr seit jenem Tag, als meine Mutter meinen Vater tötete und ich mich von einem einzelnen Mädchen in drei aufspaltete. Zum ersten Mal begriff ich auf der Gefühlsebene und nicht auf der intellektuellen das ganze Ausmaß meiner Bewältigungsstrategie. Mein Ich hatte sich vor einer Zersplitterung in tausend Teile zu schützen gewusst, indem es eine kontrollierte Spaltung in drei Ich-Persönlickeiten erzwang.

Ich konnte auch nicht umhin zu bemerken, dass Shiro, egal, wie erschöpft oder verängstigt ich war, nicht mehr sofort erschien, um mir zu helfen. War das Fortschritt? Oder Streik? Je angespannter ich wurde, desto mehr erwartete ich, aufzuwachen und mich einen Tag in die Zukunft versetzt wiederzufinden. Aber ich blieb, wo ich war.

Dies war der Albtraum, zu dem mein alltägliches Leben geworden war: Dass ich darüber glatt enttäuscht war, nicht mehr aus dem Kontrollraum meines Körpers vertrieben zu werden.

Zu wissen, dass der Teil von mir, der es liebte, Rätsel zu lösen und die Bösen zu fangen, ebenso viel von meinem Herzen verlangte wie der Teil, der alles fallen lassen und auf der Stelle zu Patrick wollte das war eine neue und schreckliche und gleichzeitig eine wunderbare Erfahrung.

Und Dr. Gallo? Dr. Max Gallo? Nichts weiter als ein flüchtiger Bekannter und darüber hinaus mit einem der Opfer verwandt. Ein Mann, an den ich nur in beruflicher Hinsicht denken sollte was ich allerdings nie getan hatte. Nicht ein einziges Mal.

Ich schätze, man könnte sagen, dass ich derzeit einen Gewissenskonflikt erlitt. (Oder mehrere.)