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»Okay«, sagte Patrick. Wir ahnten nicht, dass er mit seinem Vorschlag meinen Schutzpanzer durchbrechen würde, der arme Trottel. »Also. Ich hab nachgedacht. Du weißt ja, dass ich bald in mein neues Haus ziehe?«
Ich nickte. Wir alle wussten es. Patrick war nach Minnesota zurückgekehrt, um nach vielen Jahren Trennung wieder in der Nähe seiner Schwester zu sein. Cathie war zehn Jahre jünger und noch auf der Grundschule gewesen, während er das College besuchte.
Was als sachte Wiederannäherung unter Geschwistern begonnen hatte, führte nun dazu, dass Patrick in den Twin Cities Wurzeln zu schlagen gedachte. Cathie gab meinen Schwestern und mir die Schuld und rieb es uns bei den verschiedensten Gelegenheiten unter die Nase.
Ich für mein Teil fand keineswegs, dass ich dafür verantwortlich war. Meiner Meinung nach suchte Patrick schlicht nach dem, was Cadence ihr Leben lang gewollt hatte: ein Zuhause. Ich nahm an, er habe aus ganz persönlichen Gründen beschlossen, sich niederzulassen, also aus Gründen, die nicht unbedingt etwas mit den Jones-Schwestern zu tun hatten.
Ich hatte das Haus gesehen, das er kaufen wollte. Es war … umwerfend. Es gab kein anderes Wort dafür. Eine ehemalige Kirche, 1910 erbaut, von Grund auf renoviert und im Hinblick auf Nachhaltigkeit umgerüstet. So gab es die modernste Ausstattung, eine Fußbodenheizung und eben alles, was zu einem Niedrigenergiehaus gehört.
Und als wäre umweltfreundlich nicht schon genug, war die ehemalige Kirche auch noch mit den edelsten Materialien ausgestattet worden: Kieferndielen, Roteichendielen, Schiebetüren, Baumwollvorhänge. Ein fast fünf Meter breiter Kamin mit Schieferumrandung (und zwei andere Kaminplätze, nicht ganz so eindrucksvoll, dafür aber umso gemütlicher). Hohe gewölbte Decken, eine Küche mit zwei Kochinseln, ein riesiges Esszimmer mit Seeblick, eine Luxusbadewanne für zwei, eine begehbare Dusche, begehbare Kleiderschränke, eine Bar mit Spülbecken, eine beheizbare Garage für drei Wagen, Balkone und Dachterrassen.
Ich liebte Patricks Haus. Oder vielmehr das Haus, das ihm in wenigen Tagen gehören würde. Ich hatte keinen Schimmer, wozu er so viele Zimmer brauchte, aber das ging mich ja schließlich auch nichts an. Sein Haus, sein wunderschönes Haus … selbst jetzt, im leeren Zustand noch, schien es auf eine Familie zu warten, die seine Räume mit Leben füllen und es zu einem chaotischen und lauten und warmen Zuhause machen konnte. Wenn seine Zeit gekommen war, dann würde das Haus dafür bereit sein, dessen war ich mir sicher.
Ich mag Häuser. Ich selbst habe nie in einem Haus gelebt. Von Kindheit an waren mir Menschen, die in eigenen Häusern wohnten, sehr glücklich vorgekommen. Denn sie wissen, wohin sie gehören. Sie kommen gern heim, denn sie haben ein Haus. Vielleicht würde auch ich eines Tages dieses Gefühl entdecken. Für mich sind Häuser das gefühlsmäßige Pendant zu einem Tornado-Schutzbunker. Zu gern wüsste ich, wie ich …
Egal. Das war ein dummer Gedanke.
»Stimmt, du hast es ja schon gesehen. Shiro, dort gibt es massig Zimmer. Stimmt’s? Massig.«
»Ja, so wolltest du es anscheinend haben.« Ich würde ihm nicht den Gefallen tun, das Unausgesprochene anzusprechen.
»So wollte ich es ...?« Er raufte sich die Haare. »Ich wollte wegen euch so viel Platz haben. Ich wollte … es wäre einfach toll, wenn ihr mit Olive, dem Köter, einziehen würdet. Ihr könnt so lange bleiben, wie ihr mögt. Ihr …« Endlich sah er mir wieder in die Augen. Ja, er war definitiv nervös. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt, ohne es zu merken. »Du könntest – wir alle könnten dort zusammenleben.«
Zusammenleben.
Zusammenleben? In diesem wunderwunderschönen Haus?
Zusammen?
Es war ein großzügiges, erschütterndes, wunderbar schreckliches Angebot.
»Ich …«
»Du brauchst nicht sofort zu antworten, okay?«, beeilte er sich zu versichern. »Ich weiß, dass es ein großer Schritt ist. Wenn es dir nicht gefällt … ich meine, es muss ja nicht für immer sein.«
Aha. Patricks Plan sah also vor, so lange zu warten, bis ich mich an das Leben in seinem wunderwunderschönen Haus gewöhnt hatte, und mich dann wieder hinauszuwerfen?
Prüfend betrachtete ich seine Kehle. Ein Schlag mit der Handkante, und er würde zu Boden gehen und mit scheußlichen Kopfschmerzen wieder aufwachen. Und das war bloß eine der Maßnahmen, die ich ...
»Aber wenn es doch für immer wäre … Sieh mal, mir ist schon klar, dass das ein bisschen plötzlich kommt.«
War es denn klar?
»Denk einfach drüber nach, okay? Und wenn du’s dir anders überlegst, wenn es doch nicht für immer sein soll, dann kannst du ja jederzeit wieder ausziehen.«
Ein kalter Gedanke meldete sich aus einem Winkel meines Gehirns: Max Gallo würde nicht so einen Zirkus veranstalten. Er würde klar sagen, was er will, und dann auf unsere Antwort warten.
»Ich verstehe, dass du es dir überlegen musst, und wie gesagt, du könntest ja auch wieder in dieses Apartment hier zurückkehren oder in eine Wohnung ziehen, in der Hunde erlaubt sind.«
»Hör auf damit.«
»Womit?«
Hör auf, mir Liebe einzureden, damit du mich loswerden kannst, wann es dir in den Kram passt. Lass es sein.
»Es kommt zu überraschend, nicht wahr?« Er schüttelte den Kopf. »Ich wusste, dass ich’s vermasseln würde. Ich hab gegrübelt und gegrübelt und … weißt du was?«
Ich wagte kaum zu fragen.
»Vielleicht sollten wir einfach vergessen, dass ich gefragt habe.«
Denn nach reiflicher Überlegung fällt mir ein, dass mein Leben vielleicht doch zu kompliziert werden würde, wenn du bei mir wohntest … Am besten vergessen wir das Ganze.
»Ich glaube, das ist das Sicherste.«
»Das Sicherste?«
»Du kennst uns nicht richtig.«
»Shiro …«
»Du weißt nicht, wie abstoßend wir sind.«
»Abstoßend?« Er starrte mich offenen Mundes an, und seine großen Augen wurden vor Schreck noch größer. »Shiro, du und Cadence und Adrienne, ihr seid die schönsten Frauen der Welt! Ihr seid geistreich und tapfer und kompliziert und verrückt und wunderbar und sexy und hinreißend und fantastisch und furchterregend. Ich bin ein Glückspilz, dass ich all das zusammen bekomme, in einem herrlichen, rauchenden, heißen Paket ...«
»Innerlich, meine ich.« In meinen Ohren entstand ein Dröhnen wie von einem Flugzeug, kurz bevor die Räder von der Startbahn abheben. »Davon weißt du nichts. Wir sind innerlich abstoßend. Und wenn wir alle zusammen in dem wunderschönen Haus leben würden, könnten wir das nicht mehr vor dir verbergen. Es wäre … unmöglich.«
Olive hatte die Augen wieder geöffnet, sich erhoben und drückte sich nun winselnd an meine Beine. Ich spürte ihr Zittern durch den Stoff meiner Hose.
»Du würdest das nicht ertragen, Patrick. Du würdest unsere Verdorbenheit nicht ertragen. Der Teil von dir, der glaubt, uns zu lieben, wird das nicht überstehen.«
»Der Teil, der glaubt …? Okay. Weißt du was?! Ich hätte dich nicht so überfallen sollen. Ich wollte doch nur … aber es war zu schnell. Ich weiß. Wenn es dich dermaßen aufregt, ziehe ich mein Angebot zurück, okay? Hör zu, ich hab in meinem Leben auch schon Mist gebaut. Von dem du nichts wissen solltest. Mir wird Angst und Bange bei der Vorstellung, dass du es rauskriegen könntest.«
Das brachte mich zum Lachen. »Du hast bloß ein Doppel- statt eines Dreifachlebens führen müssen? Dein Soufflé hat nur den ersten Preis gewonnen und nicht den ersten Preis mit Auszeichnung?«
Er bedachte mich mit einem finsteren Blick … es war also wirklich nur der erste Preis gewesen. »Du brauchst dich nicht über mich lustig zu machen. Ich schicke zwar keine bösen Buben in die Notaufnahme, aber das bedeutet noch nicht, dass ich nicht mit meinem eigenen Mist klarkommen musste.«
»Und ich bin sicher, dass dir das glänzend gelungen ist.«
»Streiten wir uns gerade? Ist das ein Streit?«
»Wenn du schon so fragen musst«, seufzte ich, »dann ist es wohl keiner.« Was hatte ich mir nur dabei gedacht, mit diesem netten, unkomplizierten, reichen Jungen anzubandeln? Ich – wir – brauchten einen Erwachsenen. Einen Mann mit Falten. Einen Mann, der wusste, dass die Welt sich wandeln und jederzeit ohne die geringste Vorwarnung zubeißen konnte.
Einen Mann wie Max Gallo vermutlich?
»Also gut, was auch immer wir beschließen«, sagte er in einem Ton, der drohend klingen sollte. Ich war jedoch nicht beeindruckt. »Du kannst Olive, den Köter, jederzeit zu mir bringen, während du dich nach einer Wohnung umsiehst, in der Hunde erlaubt sind. Mein ganzer Hinterhof ist umzäunt, erinnerst du dich? Also mach dir keine Sorgen. Ich hätte einfach den Mund halten sollen.«
Falsch. DAS war nicht dein Fehler.
Ich starrte in sein ernstes Gesicht und erblickte zum ersten Mal das Antlitz des Feindes darin. Olive zitterte zu meinen Füßen, während meine Gedanken im Kreis fuhren wie die billigen Blechkisten auf einer Go-Kart-Bahn.
Du hättest mich nie glauben lassen dürfen, dass in deinem Zuhause ein Platz für mich ist. Und nachdem du mir das versprochen hattest, hättest du es mir nicht wieder wegnehmen dürfen. Bevor du in mein Leben getreten bist, hätte ich von so etwas nicht einmal geträumt. Bevor du kamst, hätte ich nie gewagt, mir mein zerrüttetes Leben mit einem anderen Menschen gemeinsam vorzustellen. Im Haus eines anderen Menschen.
Das hättest du nicht tun dürfen, Patrick.
Und ich werde dir nicht erlauben, es noch einmal zu tun.
»Was aber diese andere Sache angeht … Ich wollte es dir schon vor einer Weile sagen, aber ich war einfach zu …«, er starrte auf seine Hände, auf seine großen starken Hände, »ich hatte einfach zu viel Schiss, glaub ich. Ich wollte vor euch dreien immer gut dastehen. Aber ich bin nicht gut. Vor langer, langer Zeit, als es für meine Familie sehr wichtig gewesen wäre, dass ich der Gute war, habe ich Mist gebaut. Und seitdem lebe ich mit ... Shiro?«
Ich war fort. Olive hatte es gemerkt; Patrick, der zu sehr damit beschäftigt gewesen war, über seine furchtbare Verfehlung in seine Hände hinein zu jammern, hingegen nicht.