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Doch vorher hatte ich meinen Nervenzusammenbruch. Einen Mini-Zusammenbruch. Keinen Vorwurf, bitte … er war schon seit Langem überfällig gewesen! Ich habe aber keinen Schimmer, warum es ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt passierte. Es kam mir so willkürlich vor. Und anderen (wie ich später hörte) auch.
»Es reicht!«, brach es aus mir heraus. Ohne mich zu beachten, fuhren meine Kollegen mit ihrer emsigen FBI-Arbeit fort. Natürlich war ich nicht die Erste, die in ihrer Bürowabe ausflippte. Plötzlich wollte ich nur noch raus. Raus, raus, raus!
»Es reicht«, wiederholte ich etwas leiser. »Ich muss … muss …« Was? Was konnte ich schon groß machen? Mit welcher gerechtfertigten Begründung sollte ich meinen Arbeitsplatz verlassen? Wohin sollte ich gehen? Oooh! Genau! Dr. Gallo! »Ich muss Blutplättchen spenden gehen.« Es konnte aber durchaus noch zu früh dafür sein … ein Mindestabstand von sieben Tagen zwischen den einzelnen Spenden …
»Nein«, sagte Michaela. Sie war auf dem Weg zu einer ihrer unzähligen Besprechungen gewesen, doch mein Gebrüll hielt sie auf. »Sie müssen ...«
»Nein! Ich muss spenden! Blutplättchen! Sofort!«
Sämtliche Hintergrundgeräusche erstarben. Ich spürte ungefähr tausend Augen, die mich anstarrten. Aber ausnahmsweise – dieses eine Mal – war es mir vollkommen gleichgültig.
»Ich kann in meinem verrückten, idiotischen Leben eine nützliche Sache tun, und zwar zum Roten Kreuz gehen und Blutplättchen spenden! Eine einzige normale Sache unter den zigtausend abartigen Sachen, die mein Leben sonst ausmachen! Hab ich etwa schon mal um etwas gebeten? Hm? Hab ich das?«
George öffnete den Mund.
»Halt die Klappe, George!«
George schloss den Mund wieder.
»Ich lese von Morden und rede über Morde und analysiere Morde, und wenn ich das zufällig gerade mal nicht tue, fahre ich zu Tatorten und schaue mir Leichen an und versuche Mörder zu fassen, und dann muss ich zu meinem Shrink oder auch gleich zu fünfen, und dann sehe ich noch mehr Leichen, und dann gibt’s ein Meeting, wo meine Chefin alles, was sich nicht wehren kann, in kleine Würfel hackt, während wir so tun, als wäre das nicht verrückt, verrückt, verrückt, und eine meiner Persönlichkeiten ist eine motorradbesessene Wahnsinnige und die andere eine Konkurrenz-Zicke, die unsere neue Kollegin nicht mal für fünf Sekunden in Ruhe lassen kann, und jetzt hab ich auch noch einen Hund, obwohl ich das eigentlich nicht darf, und ich hab einen Freund und bin möglicherweise in einen anderen Mann verknallt, und ich …« Ich tastete hinter mich, ergriff etwas Weiches und warf es mit voller Wucht in den Raum. »Will jetzt …« Tastete, warf. »Blutplättchen …« Tastete und warf. »Spenden!«
Absolute Stille.
»Also gehe ich jetzt, und wagen Sie es ja nicht, mich mit einem Thorazinpfeil an der Tür festzunageln!«
»Das würde mir nicht im Traum einfallen«, sagte Michaela mit schreckhaft geweiteten Augen. »Allerdings wäre es nett, wenn Sie direkt danach …«
»Schön! Mach ich! Aber jetzt geh ich erst mal!«
»Einverstanden.«
»Ja, chill dich mal«, wünschte mir ein blasser George.
»Hast dir ’ne Pause verdient«, setzte Emma Jan hinzu.
»Prima.«
»Prima.«
»Okay. Dann geh ich jetzt.«
»Okay.«
Ich marschierte zum Fahrstuhl, wobei ich wirklich halb erwartete, von einem Pfeil getroffen zu werden. Der umgehend ein Gefühl der Benommenheit hervorrufen würde. Doch kein Pfeil hielt mich auf. Alle schauten schlicht meinem Abgang zu.
Ich machte weiterhin ein böses Gesicht, doch sobald sich die Fahrstuhltüren geschlossen hatten, grinste ich breit. Mensch! Mir ging es bombig! Das hätte ich schon vor langer Zeit tun sollen.
Doch dann überfiel mich unweigerlich ein Schuldgefühl und zerquetschte meine Freude, so wie eine Ausgabe von Vom Winde verweht eine Wanze zerquetscht hätte.
Ich war diejenige, die zurückkehrte … es war tatsächlich zu früh, um schon wieder Blutplättchen zu spenden, deshalb war Cadence lediglich ein paarmal um den Block getrabt und hatte sich ihrer Freiheit erfreut. Manchmal war sie ja so nett!
Auf meinem/unserem Schreibtisch wartete eine Notiz Michaelas mit der Bitte um baldige Besprechung. Was ich nach Cadence’ Wutausbruch auch erwartet hatte.
Dennoch musste ich mich um eine freundliche Miene bemühen, als ich Michaelas Büro betrat. »Was kann ich für Sie tun?«
Michaela stand auf und schloss die Tür hinter mir. Sie nahm sich Zeit, ging langsam um ihren Schreibtisch herum, setzte sich und sah mich an. »Haben Sie gewusst, dass Patrick im Gefängnis sitzt?«
Nichts. Stille. Nur diese beiden Worte: »im Gefängnis«. Ich spürte ihre folgenschwere Bedeutung beinahe körperlich.
Nein. Ich hatte es nicht gewusst. Aber ich würde mich darum kümmern. Unverzüglich. Ich stand auf, doch sofort hörte ich ein scharfes »Setzen Sie sich!«
Ich setzte mich.
»Ich muss mich entschuldigen. Dies ist tatsächlich die erste Gelegenheit, dass ich Sie darauf ansprechen kann. Ihr Freund ist gestern Abend verhaftet worden. Offenbar haben Sie gestritten …«
»Es war kein Streit.«
»… und Adrienne ist aufgetaucht. Sie hat beträchtlichen Sachschaden verursacht. Aus Gründen, die mir unerfindlich sind, hat Patrick die Schuld auf sich genommen, nachdem der Alarm ausgelöst wurde und die Polizei erschien. Patrick hat den Schaden gestanden, der eigentlich auf Adriennes Konto ging. Da sie jedoch bereits verschwunden und er zurückgeblieben war, um die Suppe auszulöffeln, wurde er verhaftet. Ich vermute stark, dass Adrienne nach Hause gegangen ist und sich schlafen gelegt hat. Um ein paar Stunden später als Cadence aufzuwachen. Den Rest kennen Sie.«
Ich spürte förmlich, wie mir die Augen aus dem Kopf quollen.
»Ich werde innerhalb der nächsten Stunde hinfahren. Patrick wird unter Vorbehalt eines späteren Gerichtstermins freigelassen. Sein Fall wird in wenigen Wochen verhandelt, es sei denn, mir gelingt es, den Bezirksstaatsanwalt von meiner Ansicht zu überzeugen. Und ich kann ziemlich überzeugend sein, wenn ich will.«
Zweifellos.
»Positiv ist, dass Patrick bereits eingewilligt hat, für den Schaden aufzukommen. Ich habe ihn auf einen niedrigen sechsstelligen Betrag geschätzt und Patrick mitgeteilt. Ihm war das gleichgültig.«
»Er ist reich«, murmelte ich mit tauben Lippen. Die Schuld auf sich genommen? Willens, für den Schaden aufzukommen? Was … wer …?
»Ja. Ich habe mir gedacht, dass Sie gern über die Situation unterrichtet wären, bevor ich mich auf den Weg mache.«
Ich war verwirrter als je zuvor. In kürzester Zeit hatte ich eine Menge Informationen verarbeiten müssen, nicht nur über George Stinney. »Wie ist die Situation denn genau? Und woher wissen Sie über all das Bescheid?« Und warum weiß ich nichts davon, du heimtückisches Frauenzimmer?
»Weil er den ihm gesetzlich zustehenden Anruf dazu benutzt hat, mich zu kontaktieren.«
Ich schwieg und versuchte, mich zu erinnern. Es war möglich. Es war sogar plausibel. Patrick und Cadence hatten vor Kurzem erst ihre Adressbücher ausgetauscht. Er war ja geschäftlich viel auf Reisen, wollte jedoch immer für uns erreichbar sein. Cadence hatte gemeint, sich unbedingt revanchieren zu müssen, und mir war es absolut gleichgültig gewesen. So war Patrick an Michaelas Kontaktdaten gekommen.
Ich muss zugeben, dass ich ihn irgendwie bewunderte. Michaela anzurufen, zeugte von beträchtlichem Mut. Vor allem dann, wenn er sich stattdessen den besten Anwalt des Staates hätte leisten können und wenn er gar nichts getan hatte, außer mir Angst einzujagen. Und wessen Schuld war das? Ganz gewiss nicht seine. Nicht diesmal. Ich hatte befürchtet, Patrick wolle mich nicht mehr, und war geflohen, hatte ihn mit einer rasenden Adrienne allein gelassen.
Der Edelmut des Bäckers beschämte mich zutiefst.
»Patrick sagt, es sei seine Schuld gewesen, dass Adrienne den hiesigen PetCo zu Kleinholz gemacht habe.«
Ich fragte mich, ob Adrienne obendrein so dreist gewesen war, Olive zu ihrem Amoklauf mitzunehmen. Der arme Hund. Jede von uns war eine schwere Belastung für ein Tier.
»Er hat gesagt, er habe etwas getan, das die ganze Sache ausgelöst habe. Deshalb sei er der Meinung, die Schuld solle ihm angelastet werden.«
Das Haus. Sein Haus. Er hatte über unseren Einzug gesprochen. Er wusste, es würde mich aufwühlen. Wie sehr es mich aufregte, hatte er spätestens dann gemerkt, als er Adriennes Kommen spürte. Und deshalb hatte er … hatte er …
Ich brach in Tränen aus. Das war noch nie vorgekommen. Normalerweise war Cadence die Heulsuse. Hätte ich mich nicht so mies gefühlt, ich hätte mich meiner Tränen bestimmt geschämt.
Michaela zuckte glücklicherweise mit keiner Wimper. Wir hätten ebenso gut über ihre Aktien reden können. Schweigend reichte sie mir eine Schachtel Kleenex. BOFFO sollte die Dinger beim Großhandel kaufen, denn wir verbrauchten pro Woche einige Kilos davon.
»Dieser Trottel. Dieser Idiot. Das hätte er nicht … er … so dumm, dumm, oh Patrick, ich werde dich erwürgen!«
»Das habe ich nicht gehört.«
»Gut.« Heftig putzte ich mir die Nase. »Ich habe es auch nicht gesagt. Ich habe nicht damit gedroht, einen unschuldigen Mann anzugreifen, und schon gar nicht, wenn meine Vorgesetzte es hört. Ich möchte Patrick sehen.«
Sie lächelte jenes Halblächeln, das ich stets ebenso geheimnisvoll wie bezaubernd fand. »Das habe ich mir gedacht. Gehen Sie schon, Shiro. Sie nützen mir gar nichts, wenn Sie sich hier wegen Ihres inhaftierten Freundes die Augen ausweinen.«
Weinen! Der Horror. Ich stand auf. Putzte mir erneut die Nase. Warf das Kleenex in ihren Papierkorb. »Danke, Michaela. Für alles. Ich weiß … dass ich Ihnen zu viel verschweige. Nie genug Dankbarkeit für … all das zeige, was Sie für uns tun. Ich bin aber dankbar. Auch wenn es mir schwer fällt, es zu zeigen.«
Mein Leben war ein Albtraum. Hatte Emma Jan am Ende recht? Betrachtete ich Michaela als Mutterersatz? Wollte ich ihr gefallen?
Sie hatte mich diskret zu sich beordert. Mir in sachlichem und gleichwohl nettem Ton schlechte Nachrichten überbracht. Mein unpassendes Benehmen großzügig übersehen. Mich getröstet … auf ihre Art. Mir Kleenex angeboten.
Bald würde mich der Tod ereilen. Es konnte nicht anders sein. So konnte es nicht weitergehen.
»Ich kann … Ihnen einfach gar nicht genug danken«, schloss ich, wobei ich für meinen Geschmack viel zu weinerlich klang.
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, gähnte Michaela. »Nun gehen Sie schon, Shiro. Ich möchte Sie in einer Sekunde auf der anderen Seite meiner Tür wissen.«
Glücklicherweise ging ich sogleich. Sie mochte zwar ein Mutterersatz sein, aber sie wäre die Letzte, die das zugeben würde. Was mir entgegenkam. So sehr, dass ich vor schierer Dankbarkeit beinahe ohnmächtig wurde.
Aber zuerst galt es, etwas zu erledigen.