24

Nachdem sich George die Hände gewaschen hatte, begaben wir uns wieder an unseren Arbeitsplatz. Thyme weilte immer noch in Michaelas Büro, und obwohl ich sie nicht darum beneidete (habe schließlich selbst oft genug auf dem heißen Stuhl gesessen), nahm ich mir vor, bei unserer Chefin ein gutes Wort einzulegen.

Thyme hatte da ein wirklich blödes Handicap, aber dennoch bewunderte ich sie für ihren Mut. Sie hatte tatsächlich geglaubt, in diesem Spiegel stecke ein böser Doppelgänger, der sie und alle ihre Kollegen ermorden wollte. Und sie hatte unverzüglich gehandelt. Um uns zu beschützen. Das würden nicht viele tun. Meine Schwester zum Beispiel würde es nicht tun. (Und meine andere Schwester hätte versucht, die Spiegelmenschen zu befreien.)

Und dort kam sie, den Kopf gesenkt, den Blick starr auf den Teppich gerichtet. »Es tut mir so leid«, sagte sie zum Teppich.

»Wieso? Was haben Sie denn mit ihm angestellt?« Argwöhnisch musterte George den Teppich. »Ist da etwa Splenda drauf? Wenn Sie auf diesen verschissenen regierungseigenen Teppich Splenda gekippt haben, dann bin ich nicht dafür verantwortlich, auf welcher Kippe Ihre Leiche landet.«

»Wirf ’n Tranquilizer ein, George. Agent Thyme entschuldigt sich bei uns

»Eher bei Ihnen.« Endlich blickte sie auf. Ihre dunklen Augen waren rot gerändert, die Wangen wirkten gedunsen. Sie war eingeschüchtert und gedemütigt worden. Ich wusste nicht, ob es Sinn hätte, ihr zu sagen, dass wir das ständig bei den Neuen erlebten würde es sie trösten oder noch mehr aufregen? Es gab immer eine Phase der Eingewöhnung glückte sie nicht, dann endete der Neuling in einer Anstalt oder, noch schlimmer, wurde gefeuert. George war nicht mein erster Partner. »Ich kann mich gar nicht genug entschuldigen.«

»Das stimmt«, streute George Salz in die Wunden. »Das wäre auch unmöglich. Ich bin immer noch vollkommen traumatisiert von dem schlimmen Erlebnis.« Er täuschte ein Aufschluchzen vor. »Ach, Agent Thyme. Nimm mich mal ganz lieb in den Arm.«

»Willst du mich zwingen, dich totzuschlagen? Halt mal eine Minute deine Sabbelzunge im Zaum.« Ich wandte mich an Thyme. »Ist doch nichts Schlimmes passiert. Wir haben schon ganz andere Dinge gesehen.« Viel, viel schlimmere Dinge. Natürlich hatten wir auch schon Besseres gesehen. Viel, viel Besseres.

Sie schniefte und lächelte unter Tränen. »Ich mag Sie, Shiro. Sie sind doch immer noch Shiro, oder?«

»Aber sicher ist sie Shiro. Merken Sie das nicht an ihrer grimmigen, humorlosen Art, und dass sie so tut, als wäre sie innerlich nicht abgestorben?«

»Ich mag dich«, sagte ich zu ihm, »überhaupt nicht.«

Thyme schniefte wieder, dann rieb sie sich mit den Handrücken über die Wangen. Die Geste erinnerte an ein Kind. In meiner Brust keimte ein ganz seltsames Gefühl. Äußerst untypisch für mich, wollte ich sie in den Arm nehmen und trösten, dass schon alles wieder ins Lot käme. Was aber unlogisch war und vermutlich auch weit von der Wahrheit abwich.

»Soll ich euch meine drei ungewöhnlichsten Todesfälle aufzählen?«

»Klar warum nicht?«

»Ach, was soll das denn noch, der Tag war schon schlimm genug Moment mal. Was?«

»Ich würde sie wirklich gern erfahren. Und ich wette, dass ich mindestens einen von ihnen erraten kann.« Mir fielen auf Anhieb Martin I. von Aragón ein, der sich buchstäblich totgelacht hatte; Eleazar Makkabäus, der einem Elefanten seinen Speer in den Leib gerammt hatte und zermalmt worden war, als das Tier sterbend über ihm zusammenbrach; David Douglas, der in eine Fallgrube fiel (in der sich ein wilder Stier befand), und schließlich Sigurd der Mächtige, der einen Feind köpfte, den Kopf an seinen Sattel band und später an einer Infektion starb, weil ihm die Zähne des Schädels eine Beinverletzung zugefügt hatten. (Mein Lieblings-Todesfall. Oh Ironie, du bist wahrlich eine grausame Herrin.)

»Sie möchten sie wirklich hören?« Thyme schien ebenso erfreut wie misstrauisch zu sein.

»Ich möchte sie wirklich hören.«

Sie setzte sich so abrupt, als liefe sie Gefahr, ihre Füße zu verlieren. Eine etwas beunruhigende, aber interessante Angewohnheit. »Was ist?«

»Es tut mir leid. Es war so ein langer, verrückter Tag, und ich bin einfach sonst will das nie einer hören.«

»Cops und FBI-Agenten wollen nichts über ungewöhnliche Todesfälle hören?« Merkwürdig. Warum denn nicht?

»Sie meinen immer, sie könnten meine Liste noch toppen, und wenn sie’s dann doch nicht können, werden sie wütend.« Sie seufzte. »Deshalb will keiner, dass ich davon spreche.«

»Das ist ja schrecklich.« Ich hatte einen seltenen Anfall von Mitgefühl. »Manche Leute sind einfach furchtbar unhöflich.«

»Okay, also, weil Sie gefragt haben: Mein Favorit ist vermutlich Dan Andersson schwedischer Schriftsteller, kennen Sie ihn? Er starb an Blausäurevergiftung. Die Hotelangestellten hatten vergessen, sein Zimmer zu lüften, nachdem Blausäure gegen Insekten gesprüht worden war.«

»Ja, das leuchtet ein.« Kein Betthupferl für den guten Mann. »Wo wir aber gerade bei Schriftstellern sind, sollten wir Tennessee Williams nicht vergessen.«

»Wollen Sie mir zuhören oder mich übertrumpfen?«, fragte Thyme leicht gereizt. Ihr Akzent fiel mir auf, da er sich verstärkte, wenn sie schlechter Laune war. »Der Mann war doch das reinste Katastrophengebiet dass er an der Verschlusskappe seiner Augentropfen erstickt ist, war noch ein Gnadenschuss!«

»Sie sind wohl kein großer Fan von Endstation Sehnsucht, hm?«

»Er hat das Fläschchen geöffnet und den Verschluss in den Mund gesteckt, während er sich die Tropfen verabreichte. Wie es heißt, war sein Würgereflex durch Alkohol- und Tablettenmissbrauch stark beeinträchtigt, deshalb ist er an dem blöden Ding erstickt. Meine Güte, ein Schriftsteller, der ständig Tabletten und Alkohol einwirft was kann man da schon erwarten?«

»Es geht also nicht nur um die Todesart? Wir müssen auch ihre Lebensweise und ihre Hobbies mit einbeziehen?«

Thyme hob entnervt die Hände. »Ach, nun kommen Sie schon!« Keine Spur mehr von der einsatzfreudigen Kollegin, die mich unbedingt vor ihrem Spiegelbild hatte beschützen wollen. Auch die tränenreichen Entschuldigungen waren vergessen. »Seit wann ist Alkohol- und Tablettenmissbrauch ein Hobby? Hören Sie lieber zu: Nummer zwei auf meiner Liste ist Lucius Fabius Clio. Er ist an einem einzigen Haar in seiner Milch erstickt.«

»Gefällt mir.« Sehr merkwürdig und auch sehr widerlich. »Weiter!«

»François Vatel.«

»Nein.«

»Vatel hat sich umgebracht, weil er für ein Festmahl König Ludwigs des XIV. nicht ausreichend Fisch vorrätig hatte.«

»Stimmt nicht. Das ist nie bewiesen worden.«

»Es sind Zeugenaussagen aus erster Hand! Von Menschen, die dabei waren.«

»Ja, genau, und wir Bundesagenten, wir unermüdlichen Gesetzeshüter, haben ja auch noch nie einen unzuverlässigen Zeugen vernommen!«

»Es ist tatsächlich so passiert! Glauben Sie ...«

»Wenn Ihre Liste zum Teil auf Märchen basiert, dann sollten wir lieber ...«

»Sorry, wenn ich eure selten dämliche Diskussion unterbreche, aber für heute habe ich von Fachidioten die Nase voll.« George checkte sein Telefon und griff nach seinem Jackett. »Bis später, ihr Tussen.«

Agent Thyme wollte sich jedoch noch nicht geschlagen geben. »Es gibt mehrere historische Quellen, die es Wissen Sie was? Wollen wir nicht beim Essen weiter darüber reden?«

»Gern. Wenn Sie übrigens an nachgewiesenen ungewöhnlichen Todesfällen interessiert sind, wüsste ich noch Jim Creighton zu nennen.«

»Hat sich beim Ausholen mit dem Baseballschläger einen Riss in der Blasenwand zugezogen, ich weiß. Aber dann dürfen Sie auch Tycho Brahe nicht vergessen, der während eines Banketts so lange eingehalten hat weil es sich einfach nicht schickte, während eines Festmahls aufzustehen und pinkeln zu gehen , dass ihm die Blase geplatzt ist.«

»Noch so ein Märchen!« Ich angelte mir Cadence’ Jackett von der Rückenlehne meines Bürostuhls (warum sie glaubte, einen karamellfarbenen Hosenanzug tragen zu können, war mir schleierhaft) und schlüpfte hinein. »Worum geht es hier eigentlich: um ungewöhnliche Todesfälle oder ungewöhnliche Märchen?«

»Wieso wollen Sie einfach nicht begreifen, dass diese Todesfälle bestätigt sind?«

»Das sind die Artikel im National Enquirer auch, und dass der lügt, wissen wir schließlich alle. Ist ja berüchtigt dafür. Würden Sie mir jedoch Humayun nennen das ist ein bestätigter ungewöhnlicher Todesfall.«

Thyme schnappte sich ihre riesige Handtasche und trottete hinter mir her. »Was für ein Quatsch! Er ist von einer Treppe gestürzt, Shiro, von einer Treppe! Der Muezzin rief zum Gebet, und da Humayun auf die Knie zu fallen pflegte, sobald er den Ruf hörte, ist er hinuntergestürzt. Was soll daran ungewöhnlicher sein, als an einer übervollen Blase zu sterben?«

»Schon gut, regen Sie sich nicht auf. Wie wär’s mit Jeff Dailey?«

»Ach, nein. Es sterben doch so viele Jugendliche denken Sie nur mal an Ihre June Boys! Daily hat den Löffel während einer Videogame-Session abgegeben. Das finde ich eher dämlich als ungewöhnlich.«

»Ein Neunzehnjähriger erleidet doch nach einer Marathon-Session keinen Herzanfall!«, hielt ich dagegen. »Die trinken Unmengen Red Bull, nehmen ausgiebig gesättigte Fettsäuren zu sich und versuchen danach, ein Mädchen flachzulegen. Wie kommen Sie bloß darauf, dass ist ja gut. Schon kapiert.« Ich beruhigte mich wieder. Die Unterhaltung mit Agent Thyme machte Spaß. Einen Heidenspaß! »Sie können aber nicht in Abrede stellen, dass Basil Brown ziemlich fit gewesen ist.«

»Der hat sich mit Orangensaft zu Tode getrunken.«

»Möhrensaft«, berichtigte ich.

»Worum wetten wir?«

»Um viel.«

Sie machte ihren Einsatz. Ich gewann. Dann gewann sie etwas zurück.

Ich wüsste nicht zu sagen, wann ich zuletzt einen Feierabend derart genossen hatte. Agent Thyme weckte einen enormen Sportsgeist in mir. Bevor wir uns trennten, hatte ich mich ebenso oft bei einem herzhaften Lachen wie bei dem Wunsch ertappt, ihr kräftig gegen das Schienbein zu treten. Und das warf eine wichtige Frage auf: Sind das vielleicht die üblichen Gefühle normaler Menschen?