45

Der klassische Fehler beim Abfeuern einer automatischen Waffe ist, zuzulassen, dass der Rückstoß der ersten Kugel den Lauf nach oben reißt, sodass die zweite Kugel zu hoch abkommt und die dritte noch höher. Aber den Fehler machte Garber nicht. Er hatte genügend viele Stunden auf dem Schießplatz zugebracht, um auf eine Distanz von siebzig Metern zielsicher zu sein. Er hatte genügend unangenehme Situationen hinter sich, um zu wissen, wie man kühl und konzentriert bleibt. Er jagte alle drei Kugeln genau durch die Mitte der rosa Wolke, die einmal Borkens Kopf gewesen war.

Die Kugeln verbrachten zwei Zehntausendstel einer Sekunde damit, durch den Nebel zu fliegen, und rasten dann ungehindert weiter. Sie schmetterten durch die neue Sperrholzplatte im Fensterrahmen. Die erste Kugel wurde von dem Aufprall ein wenig abgelenkt und ruckte nach links, fetzte fünfundfünfzig Zentimeter später durch die innere Verkleidung aus Kiefernholz. Sie durchquerte Hollys Zimmer und drang links von der Tür wieder in die Wand ein. Durchbohrte sie und grub sich in die Wand auf der anderen Seite des Korridors.

Die zweite Kugel kam durch das Loch, das die erste Kugel hinterlassen hatte, und durchflog deshalb den fünfundfünfzig Zentimeter durchmessenden Hohlraum auf gerader Linie. Sie kam durch die Innenverkleidung heraus und wurde nach rechts geworfen. Durchquerte den Raum, krachte durch die Badezimmerwand und zerschmetterte die billige weiße Keramiktoilette.

Die dritte Kugel stieg ein winziges Stück höher. Sie traf einen Nagel in der Außenwand und wurde im rechten Winkel abgelenkt. Bohrte sich wie ein wild gewordene Termite seitwärts und nach unten durch acht der neuen Balken, ehe ihre Energie verbraucht war. Am Ende sah sie aus wie ein Bleiklumpen, den man in die neuen Fichtenbretter gedrückt hatte.

 

Reacher sah Garbers Mündungsfeuer durch sein Zielfernrohr. Wusste, dass er die Wand des Gerichtsgebäudes getroffen haben musste. Er blickte wie gebannt aus zwölfhundert Metern Entfernung hinüber, klammerte sich an der Dachkante fest und schloss die Augen. Wartete auf die Explosion.

 

Garber wusste, dass Borken nicht von seinen Schüssen getötet worden war. Dafür war nicht genug Zeit gewesen. Selbst wenn es um winzige Bruchteile von Sekunden geht, gibt es einen gewissen Rhythmus. Schuss … Treffer. Borken war getroffen worden, ehe seine Kugeln ihr Ziel hätten erreichen können. Also war da noch jemand anders, der schoss. Ein Team war in Aktion. Garber lächelte. Feuerte erneut. Betätigte noch neunmal hintereinander den Abzug und durchlöcherte mit den ihm verbliebenen siebenundzwanzig Patronen Borkens zwei Soldaten vor der Wand des Gerichtsgebäudes.

 

Milosevic kam aus der Eingangshalle des Gerichtsgebäudes gerannt. Er hielt seine .38er in der rechten und seine goldene Dienstplakette hoch erhoben in der linken Hand.

»FBI-Agent!«, schrie er. »Keine Bewegung!«

Er sah nach rechts zu Holly hinüber und dann zu Garber, der den Abhang heraufgerannt kam, und zu McGrath, der hinter dem Bürogebäude hervorkam. McGrath rannte geradewegs auf Holly zu. Er nahm sie in die Arme, drückte sie dabei fest gegen den abgestorbenen Baum. Sie konnte nichts tun, weil ihre Hände hinter dem Baum noch in den Handschellen steckten. McGrath ließ sie los und lief den Abhang hinunter. Klatschte mit der Geste eines Basketballspielers, der gerade den Ball zum siegreichen Punkt in den Korb befördert hat, mit der hoch erhobenen rechten Hand gegen die von Milosevic.

»Wer hat die Schlüssel?«, schrie er dann.

Garber deutete zu den zwei toten Soldaten hinüber. McGrath rannte zu ihnen und durchwühlte die bluttriefenden Taschen. Brachte einen Schlüssel zum Vorschein und lief wieder den kleinen Hügel hinauf. Bückte sich hinter dem Baumstumpf und sperrte die Handschellen auf. Holly sank taumelnd nach vorn, und McGrath fing sie auf, packte sie am Arm. Milosevic fand ihre Krücke auf der Straße und warf sie hinüber. McGrath fing sie auf und reichte sie ihr. Jetzt konnte sie sich darauf stützen und kam Arm in Arm mit McGrath den kleinen Abhang herunter. Dann standen sie nebeneinander da und sahen sich in der plötzlich eingetretenen, betäubenden Stille um.

»Bei wem muss ich mich jetzt bedanken?«, fragte Holly.

Sie hielt McGraths Arm und starrte auf die zwanzig Meter entfernt liegenden Überreste Borkens. Die Leiche lag flach auf dem Rücken, hoch und breit. Sie hatte keinen Kopf mehr.

»Das hier ist General Garber«, sagte McGrath. »Spitzenmann der Militärpolizei.«

Garber schüttelte den Kopf.

»Nein, das war ich nicht«, sagte er. »Jemand ist mir zuvorgekommen.«

»Ich auch nicht«, erklärte Milosevic.

Dann deutete Garber mit einer Kopfbewegung hinter sich.

»Wahrscheinlich war es dieser junge Mann«, sagte er.

Reacher kam den kleinen Abhang herunter. Er war außer Atem. Wenn man einen Meter dreiundneunzig groß und hundert Kilo schwer ist, hat das eine Menge Vorteile, aber nicht, wenn man einen Sprint über eine Meile hinlegen muss.

»Reacher«, sagte Holly.

Er nahm sie nicht zur Kenntnis. Nahm auch die anderen nicht zur Kenntnis. Rannte einfach weiter und starrte die weiße Wand des Gerichtsgebäudes an. Er sah Einschusslöcher. Eine ganze Menge Einschusslöcher. Wahrscheinlich dreißig davon, die meisten über den ersten Stock an der Südostecke verteilt. Er starrte sie eine Sekunde lang an und lief dann auf den Jeep zu, der am Randstein abgestellt war. Schnappte sich die Schaufel, die an der Hinterwand des Wagens unter dem Reservekanister befestigt war. Rannte zur Treppe zurück. Riss die Tür auf und hetzte die Stufen zu Hollys Zimmer hinauf.

Er konnte wenigstens ein Dutzend Ausschusslöcher im Holz erkennen. Große, von Splittern umgebene Löcher. Er hieb mit der Schaufel auf eines der Bretter. Spaltete es der Länge nach und benutzte die Schaufel dazu, es herunterzureißen. Hieb mit dem Schaufelblatt hinter das nächste Brett und riss es mit den Nägeln von den Balken. Als McGrath schließlich in dem Raum auftauchte, hatte Reacher bereits eine Fläche von einem Meter freigelegt. Als dann auch Holly erschien, starrten sie in eine leere Höhlung.

»Kein Dynamit«, sagte sie mit leiser Stimme.

Reacher hastete zur nächsten Wand. Riss auch dort genügend Bretter ab, um sicher sein zu können.

»Da war nie welches«, sagte Holly. »Scheiße, ich kann es einfach nicht glauben.«

»Da war welches«, widersprach McGrath. »Jackson hat es gemeldet. Er hat die ganze Geschichte beschrieben. Ich habe seinen Bericht gelesen. Er hat mit sieben anderen den LKW abgeladen. Hat das Dynamit hier heraufgeschleppt. Er hat selbst gesehen, wie es hinter den Brettern verstaut wurde. Eine Tonne Dynamit. Ein bisschen viel, um sich da zu täuschen.«

»Also haben sie es hineingesteckt«, sagte Reacher. »Und dann wieder herausgeholt. Sie haben dafür gesorgt, dass die Leute sehen, wie es hineinkam, und dann haben sie es insgeheim wieder herausgeholt. Sie haben es irgendwo anders benutzt.«

»Es wieder herausgeholt?«, wiederholte Holly.

»Frauen und Kinder müssen sterben«, sagte Reacher langsam.

»Was?«, fragte Holly. »Was sagst du da?«

»Aber nicht hier«, sagte er. »Nicht diese Frauen und Kinder.«

»Was?«, wiederholte Holly.

»Nicht Massenselbstmord«, sagte Reacher. »Massenmord.«

Dann wurde sein Gesicht ausdruckslos. Er stand stumm da. Aber vor seinem inneren Ohr hörte er etwas. Er hörte dieselbe schreckliche Explosion, die er vor dreizehn Jahren gehört hatte. Die Explosion von Beirut. Den Marinestützpunkt in der Nähe des Flughafens, der in die Luft geflogen war. Er hörte den Lärm so deutlich, als fände die Explosion in diesem Augenblick erneut statt, und sie betäubte ihn.

»Jetzt wissen wir, was es ist«, murmelte er in dem betäubenden Lärm, der ihn einhüllte.

»Was?«, fragte McGrath.

»Durchgedrückte Federung«, sagte Reacher. »Aber wir wissen nicht, wo sie hingefahren sind.«

»Was?«, sagte Holly zum dritten Mal.

»Frauen und Kinder müssen sterben«, wiederholte Reacher. »Das hat Borken gesagt. Er hat gesagt, die historischen Umstände würden das rechtfertigen. Aber er hat nicht diese Frauen und Kinder hier gemeint.«

»Was zum Teufel reden Sie da eigentlich?«, sagte McGrath.

McGraths Blick erfasste ihn und dann Holly, überrascht, als würde er die beiden jetzt zum ersten Mal sehen.

»Ich war in der Höhle, wo sie ihre Fahrzeuge abgestellt haben«, sagte er. »Ich habe den Lieferwagen gesehen. Er stand da, die Federn ganz durchgedrückt, als ob eine schwere Ladung im Laderaum wäre.«

»Was?«, sagte Holly wieder, jetzt zum vierten Mal.

»Sie haben eine Autobombe gebaut«, sagte Reacher. »Stevie bringt sie hin, irgendwo, an irgendeinen öffentlichen Platz. Das ist die andere Attacke. Sie werden den Lieferwagen in einer Menschenmenge zur Explosion bringen. Mit einer ganzen Tonne Dynamit. Und er hat sechs Stunden Vorsprung vor uns.«

McGrath rannte als Erster die Treppe hinunter.

»In den Jeep«, schrie er.

Garber lief auf den Jeep zu. Aber Milosevic stand viel näher dran. Er sprang mit einem Satz hinters Steuer und startete. Dann war McGrath Holly behilflich, vorn Platz zu nehmen. Reacher stand immer noch tief in Gedanken auf dem Bürgersteig und starrte nach Süden. Milosevic zog seinen Revolver, klickte den Hammer zurück. Garber blieb stehen. Hob sein Gewehr und zielte. Milosevic beugte sich vor Holly. McGrath sprang mit einem Satz zur Seite. Milosevic trat aufs Gas und brauste mit einer Hand am Steuer davon, presste mit der anderen Holly den Revolver in die Seite. Auf der unebenen Straße und nur mit einer Hand gesteuert schoss der Jeep wild hin und her. Keine Chance, Milosevic zu treffen. Das erkannte Garber sofort, ließ sein Gewehr sinken und sah ihnen nach.

 

»Beide?«, sagte Webster zu sich. »Bitte, du lieber Gott, nein!«

»Jetzt könnten wir noch einen Hubschrauber gebrauchen«, sagte der Adjutant. »Ich glaube, wegen der Stingers brauchen wir uns jetzt keine Sorgen mehr zu machen.«

Er lenkte die Kamera nach Norden und Westen und zoomte dann auf die Bergsenke vor den Eingängen zu den Bergwerksschächten. Die vier LKWs mit den Stingerraketen kauerten reglos nebeneinander. In der Nähe lag die hingestreckte Leiche des Postens.

»Okay, bestellen Sie einen Chopper«, sagte Johnson.

»Es wäre besser, wenn das direkt von Ihnen käme, Sir«, sagte der Adjutant.

Johnson drehte sich um und griff nach dem Telefon. Dann fuhr er herum, als er sah, wie der Jeep ins Bild raste. Er kam polternd aus der letzten Haarnadelkurve in die Senke und raste quer über das Schiefergestein. Beschrieb einen Bogen um die LKWs herum und kam schlitternd vor dem linken Schuppen zum Stillstand. Milosevic sprang heraus und tänzelte um die Motorhaube herum, den Revolver die ganze Zeit auf Holly gerichet. Er zerrte sie am Arm heraus und zu den hölzernen Toren hinüber. Zog eines davon mit dem Fuß auf und stieß sie hinein, folgte ihr ins Innere der Kaverne. Dann schloss sich das schwere Tor hinter ihm. Webster wandte den Blick vom Bildschirm.

»Rufen Sie den Chopper, Sir«, sagte der Adjutant.

 

Der schnellste Weg zu den Bergwerksschächten führte quer durch die Bastion. Sie lag still und verlassen da. Sie rannten durch das Gelände und dann weiter über den Schießplatz zum Exerzierplatz. Blieben im Wald stehen. Die ganze verbliebene Milizenbevölkerung stand schweigend in Reih und Glied da, die Gesichter ängstlich nach vorn gerichtet, wo Borkens umgedrehte Kiste immer noch auf sein Erscheinen wartete.

Reacher ignorierte die versammelten Männer und Frauen und führte die anderen weiter zur Straße. Dort nach Norden. Reacher trug die schwere Barrett. Er hatte sie vom Dach der Kantine heruntergeholt, weil er die Waffe mochte. Garber rannte neben ihm her. McGrath eilte, so schnell er konnte, hinter ihnen, nur von dem Gedanken an Holly getrieben.

Vor der letzten Haarnadelkurve nahmen sie wieder Deckung hinter den Bäumen, und Reacher ging ein Stück voraus, um auszukundschaften. Er duckte sich hinter den Felsen, der ihm schon einmal Deckung geboten hatte, und suchte die ganze Senke mithilfe des Zielfernrohrs seiner Waffe ab. Dann winkte er den beiden anderen zu, dass sie nachkommen sollten.

»Sie sind in der Höhle mit den Fahrzeugen«, sagte er. »Das linke Tor.«

Er deutete mit dem dicken Lauf seiner Waffe und jetzt sahen die anderen den verlassenen Jeep und nickten. Er rannte quer über die Geröllfläche und kauerte sich hinter der Motorhaube des ersten LKWs nieder. Dann schickte Garber ihm McGrath nach und lief selbst als Letzter hinüber. Jetzt kauerten sie nebeneinander hinter dem LKW und starrten zu den mächtigen Toren hinüber.

»Was jetzt?«, fragte Garber. »Sturmangriff?«

»Er hält ihr den Revolver an den Kopf«, sagte McGrath. »Ich will nicht, dass ihr etwas zustößt, Reacher. Sie ist wertvoll für mich, okay?«

»Gibt es einen anderen Weg dort hinein?«, fragte Garber.

Reacher starrte das Tor an, und der Explosionslärm der Bombe von Beirut verhallte, und an seine Stelle trat das leise Wimmern eines früheren Albtraums. Er verbrachte beinahe eine Minute damit, nach einer Alternative zu suchen. Er dachte an die Gewehre und die Stingerraketen und die LKWs. Dann gab er die Suche auf.

»Beschäftigen Sie ihn«, sagte er. »Reden Sie mit ihm, tun Sie irgendetwas.«

Er lehnte die Barrett an die Motorhaube des LKWs und ließ sich von McGrath die Glock zurückgeben. Hastete geduckt zum Eingang der anderen Höhle. Der Höhle mit den Leichen und den Skeletten und den Ratten. Er hörte, wie McGrath aus weiter Ferne Milosevic rief, und rannte zu den mächtigen Torflügeln. Zwängte sich durch den Spalt hinein.

Er hatte keine Taschenlampe, tastete sich um den Mannschaftswagen herum und erreichte schließlich die Felswand. Streckte die Hand nach oben aus und fühlte die immer niedriger werdende Höhlendecke. Die Ratten hörten und witterten ihn und stießen schrille Warnschreie aus. Er ließ sich auf die Knie sinken, legte sich schließlich flach und kroch durch den Haufen feuchter Knochen. Spürte, wie die Tunneldecke sich auf ihn herabsenkte und die Tunnelwände gegen ihn pressten. Atmete tief durch und spürte, wie die Angst näher rückte.

 

Der schnellste Helikopter, der an jenem Tag zur Verfügung stand, war ein Night Hawk vom Marine Corps, der in Malmstrom stationiert war. Eine lange, dicke Maschine, aber schnell. Binnen weniger Minuten nach Johnsons Anruf liefen die Rotorblätter der Maschine an, und ihr Pilot erhielt Anweisung, in nordwestlicher Richtung zu einer kiesbedeckten Ausfahrt der letzten Straße in Montana zu fliegen. Gleich darauf war die Maschine in der Luft. Der Pilot fand die Straße und folgte ihrem Verlauf dicht über dem Boden schnell nach Norden, bis er eine Gruppe von Kommandofahrzeugen der Army entdeckte, die an einem Felseinschnitt parkten. Er schlug einen Bogen, flog ein Stück zurück und setzte auf der Ausfahrt auf und wartete. Sah drei Männer, die in südlicher Richtung auf ihn zugerannt kamen. Einer davon war Zivilist, die beiden anderen gehörten der Army an. Einer war ein Colonel, der andere war der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs. Der Pilot sah seinen Begleiter, der durch die Plexiglashaube nach oben zeigte, mit einem Schulterzucken an. Man konnte dort in zwölftausend Meter Höhe einen einsamen Kondensstreifen erkennen. Eine große Düsenmaschine, die sich bisher offenbar auf Rundkurs bewegte hatte, verließ diesen und zog nach Süden. Der Pilot war dann sehr erstaunt, als die Offiziere an Bord geklettert kamen und ihn anwiesen, in nördlicher Richtung mit Kurs auf die Berge zu fliegen.

 

Reacher zwängte sich durch den Tunnel und lachte laut. Er hatte keine Angst mehr. Der enge Griff der Felsen nach seinem Körper war wie eine Liebkosung. Er hatte das schon einmal getan und es überlebt. Es war möglich. Er würde hier durchkommen.

Die Furcht war ebenso plötzlich verschwunden, wie sie sich eingestellt hatte. Er hatte sich durch den Haufen Knochen in der Dunkelheit gearbeitet und sich ausgestreckt und gespürt, wie der Felsen gegen seinen Rücken presste. Seine Brust hatte sich verengt, und er hatte gemerkt, wie ihm der Atem stockte. Er hatte die heiße, feuchte Aufwallung von Panik verspürt und sich gegen den Boden gepresst. Er hatte gespürt, wie seine Kräfte versickerten. Und dann hatte er sich konzentriert, sich auf das konzentriert, was jetzt geschehen musste. Holly. Milosevic’ Revolver, der sich gegen ihr dunkles Haar presste, ihre Augen, jetzt vor Verzweiflung stumpf. Er hatte sie vor seinem inneren Auge am Ende des Tunnels gesehen. Holly. Und dann war ihm plötzlich, als würde der Tunnel zu einem warmen, glatten Rohr werden. Einem Rohr, in das seine mächtigen Schultern exakt passten. So, als wäre es für ihn und nur für ihn allein angefertigt. Eine ganz einfache Reise, die ihn durch ein glattes Rohr führte. Er hatte schon vor langer Zeit gelernt, dass es Dinge gab, die es wert waren, dass man sich vor ihnen fürchtete. Und andere, für die das nicht galt. Dinge, die er in der Vergangenheit getan und überlebt hatte, rechtfertigten die Angst nicht. Angst vor etwas zu haben, was man überleben konnte, war irrational. Und was auch immer er sonst noch sein mochte, Reacher wusste, dass er ein rationaler Mensch war. Und in jenem Sekundenbruchteil verschwand die Angst, und er spürte, wie sich alles in ihm lockerte. Er war ein Kämpfer. Ein Rächer. Und Holly wartete auf ihn. Er stieß die Arme nach vorn wie ein Schwimmer, der ins Wasser springt, und hastete quer durch den Berg zu ihr.

Er bewegte sich im gleichmäßigen Rhythmus. So wie man auf offener Straße marschiert, nur dass er sich im Dunkeln befand und auf dem Bauch lag. Kleine geschickte Bewegungen der Hände und der Füße. Den Kopf eingezogen. Er spürte, wie der Tunnel enger wurde und sich an ihn schmiegte. Er glitt weiter. Er spürte die glatte Wand vor sich und wand sich geschickt um die Ecke herum. Atmete erleichtert auf und hörte auf zu lachen. Sagte sich, dass jetzt die Zeit gekommen war, leise zu sein. Er kroch, so schnell er konnte, weiter. Wurde langsamer, als er spürte, wie die Höhlendecke sich über ihm ausweitete. Kroch nach vorn, bis der Geruch der Luft ihm sagte, dass er fast durch war.

Dann hörte er den Hubschrauber. Er hörte das schwache Klopfen der Rotorblätter in der Ferne, hörte kurz vor sich das Schlurfen von Füßen, das unartikulierte Geräusch von Panik und Überraschung. Er hörte Milosevic’ Stimme. Schrill, Westküstenakzent.

»Der Chopper soll verschwinden«, schrie Milosevic durch die Tür.

Der Lärm kam näher. Wurde lauter.

»Weg damit, haben Sie gehört?«, schrie Milosevic. »Ich bringe sie um, McGrath! Das verspreche ich Ihnen, haben Sie gehört?«

Es herrschte völlige Finsternis. Zwischen Reacher und dem wenigen Licht, das durch die Spalten rings um die Tür hereinfiel, standen Fahrzeuge. Aber nicht der weiße Lieferwagen. Der war verschwunden. Er wälzte sich an die Stelle, wo er gestanden hatte, und zog die Glock aus der Tasche. Das Pochen der Rotorblätter war jetzt ganz nahe. Es hallte von den Toren wider und erfüllte die Kaverne.

»Ich schlage Ihnen einen Tauschhandel vor«, schrie Milosevic durch die Tür. »Ich komme hier raus, ohne dass mir jemand etwas tut, und Sie kriegen sie zurück, okay? McGrath? Hören Sie mich?«

Wenn da eine Antwort war, hörte Reacher sie nicht.

»Ich gehöre nicht dazu«, schrie Milosevic. »Das Ganze bedeutet mir nichts. Brogan hat mich da hineingezogen. Er hat mich dazu gebracht.«

Der Lärm war jetzt ohrenbetäubend. Die schweren Tore bebten.

»Ich habe es für Geld getan, das ist alles«, rief Milosevic. »Brogan hat mir Geld gegeben. Ein paar hunderttausend Dollar, McGrath. Sie hätten es auch getan. Brogan hat mich reich gemacht! Er hat mir einen Ford Explorer gekauft. Die Luxusausführung. Fünfunddreißig Riesen. Wie zum Teufel hätte ich sonst jemals an so ein Auto kommen sollen?«

Reacher hörte die schrille Stimme in der Dunkelheit. Er wollte den Mann nicht erschießen. Einen irren Augenblick lang empfand er eine absurde Dankbarkeit für ihn, weil er den Albtraum aus seiner Kindheit vertrieben hatte. Er hatte ihn dazu gezwungen, sich dem Albtraum zu stellen und ihn zu besiegen. Er hatte ihn zu einem besseren Mann gemacht. Am liebsten wäre er zu ihm gerannt und hätte ihm die Hand geschüttelt. Aber dann änderte sich das Bild. Er musste zu ihm und ihn an der Kehle packen und ihn würgen und ihn fragen, ob er wusste, wo Stevie mit dem weißen Lieferwagen hingefahren war. Das musste er jetzt. Und das war der Grund, weshalb er ihn nicht erschießen wollte.

Er bewegte sich in einer eindimensionalen Welt. Wegen der Dunkelheit konnte er nichts sehen, konnte wegen des Hubschraubers nichts hören. Er spürte Bewegung in der Nähe der Tore. Kam hinter einem Pick-up hervor und sah vor den Fugen, durch die das Licht hereindrang, einen Umriss. Oben breit, vier Beine. Milosevic mit dem Arm um Hollys Hals, die Waffe gegen ihren Kopf gepresst. Er wartete, dass sein Sehvermögen sich wieder einstellte. Ihre Gesichter verblassten von Schwarz zu Grau. Holly vor Milosevic. Reacher hob die Glock. Schob sich ein Stück nach links, um besser zielen zu können. Stieß mit dem Schienbein an einen Kotflügel. Er taumelte rückwärts in einen Stapel Farbkanister. Sie krachten lautlos auf den Felsboden, bei dem betäubenden Lärm von draußen nicht zu hören. Er hastete näher an das Licht heran.

Milosevic spürte es und drehte sich um. Reacher sah, wie sein Mund sich in einem lautlosen Schrei öffnete. Sah, wie er sich herumdrehte und Holly wie einen Schild vor sich stieß. Sah ihn zögern, den Revolver hoch erhoben. Reacher duckte sich nach rechts. Milosevic folgte seiner Bewegung. Holly nutzte sein Schwanken, um sich loszureißen. Das Rotorengeräusch war betäubend. Reacher sah Milosevic’ Zögern. Sah ihn seine Entscheidung treffen. Reacher war bewaffnet, Holly nicht. Milosevic machte einen Satz. Die .38er blitzte lautlos in dem Lärm. Die nur den Bruchteil einer Sekunde lange weiße Flamme blendete in der Dunkelheit. Reacher konnte nicht mehr sehen, wo Holly war. Er stieß eine Verwünschung aus, schoss nicht, sah, wie Milosevic erneut zielte. Und dahinter sah er, wie Hollys Arm hochkam und sich von hinten um seinen Kopf streckte. Er sah, wie ihre Hand sein Gesicht mit sanfter Präzision berührte, sah ihn stolpern. Dann flog das Tor auf, und Holly taumelte weg von der überwältigenden Flut aus Lärm und Sonnenlicht und flog geradewegs in seine Arme.

Die Sonne fiel in einem grellen Streifen auf Milosevic. Er lag auf dem Rücken. Er hatte seine .38er in der Hand. Der Hammer war zurückgezogen. Ein Stück von einer Badezimmerfliese ragte dort, wo sein Auge hätte sein sollen, aus seinem Kopf. Ein kleiner Wurm aus Blut lief aus der Stelle, wo es eingedrungen war.

Dann drängten sich Leute in das offene Tor. Reacher sah McGrath und Garber in einer Staubwolke. Hinter ihnen landete eine Night-Hawk. Drei Männer stiegen heraus und kamen gerannt. Ein Zivilist und ein Colonel. Und General Johnson. Holly drehte sich herum und sah sie und vergrub ihr Gesicht wieder an Reachers Brust.

Garber erreichte sie als Erster. Er zog sie hinaus in das Licht und den Lärm. Sie stolperten schwerfällig ins Licht. Der Luftschwall der Rotoren zerrte an ihnen. Holly löste sich aus Reachers Armen und warf sich auf McGrath, drückte ihn an sich. Dann schob sich General Johnson auf sie zu.

»Holly«, rief er durch den Lärm.

Sie schob sich das Haar hinter die Ohren. Löste sich von McGrath und drückte ihren Vater an sich.

»Hier gibt es noch etwas für mich zu erledigen, Dad«, schrie sie laut, um das Rotorengeräusch zu übertönen. »Ich erklär dir alles später, okay?«