13
»Wir müssen miteinander reden«, sagte Holly.
»Dann reden Sie«, erwiderte Reacher.
Sie lagen im Halbdunkel im Laderaum des Lieferwagens auf den Matratzen ausgestreckt und wurden hin und her geworfen, aber nicht sehr. Es war ziemlich klar, dass sie auf einem Highway fuhren. Nach fünfzehn Minuten einer langen, geraden Straße hatte sich ihr Tempo verringert, dann ein kurzes Anhalten und Abbiegen nach links, gefolgt von gleichmäßiger Beschleunigung auf einer Zufahrt. Gleich darauf ein leichtes Schwanken, als der Lieferwagen sich links einordnete. Dann ein ständiges dröhnendes Dahinrollen mit vielleicht sechzig Meilen in der Stunde. So ging das jetzt schon seit einer ganzen Weile.
Die Temperatur in dem dunklen Raum war langsam angestiegen. Jetzt war es ziemlich warm. Reacher hatte sein Hemd ausgezogen. Immerhin hatte der Lieferwagen seine Reise kühl begonnen, schließlich war er die Nacht über in dem Kuhstall gestanden, und Reacher hatte das Gefühl, dass es, solange sie in Bewegung waren, erträglich sein würde. Das Problem würde sich erst dann einstellen, wenn sie längere Zeit anhielten. Dann könnte es sein, dass der Lieferwagen sich erhitzte wie eine Backröhre, und es würde wieder so schlimm werden wie am Tag zuvor.
Die kleinere der Matratzen hatte man mit der Längsseite an die vordere Wand gelehnt, während die größere flach auf dem Boden lag, so dass eine Art Sofa entstanden war. Aber der Neunzig-Grad-Winkel zwischen der Sitzfläche und der Rückseite hatte das Ganze recht unbequem gemacht. Reacher hatte deshalb die größere Matratze nach hinten geschoben – Holly hatte dabei darauf gesessen wie auf einem Schlitten – und hatte dann die zweite Matratze flach daneben gelegt. Jetzt hatten sie eine gepolsterte Fläche von zweieinhalb mal einen Meter neunzig zur Verfügung. Sie lagen auf dem Rücken, die Köpfe dicht beieinander, damit sie reden konnten, die Körper in ziemlichem Abstand wie ein V, und schwankten sanft im Fahrtrhythmus.
»Sie hätten tun sollen, was ich Ihnen sagte«, erklärte Holly. »Sie hätten fliehen können.«
Er gab keine Antwort.
»Sie sind eine Last für mich«, sagte sie. »Verstehen Sie das? Ich habe schon genug um die Ohren und ich möchte mir nicht auch noch um Sie Sorgen machen müssen.«
Er gab keine Antwort. Sie lagen stumm da und schaukelten leicht. Er konnte das Shampoo vom Vortag morgen in ihrem Haar riechen.
»Sie müssen also von jetzt an tun, was ich Ihnen sage«, sagte sie. »Hören Sie mir überhaupt zu? Ich kann es mir einfach nicht leisten, mich ständig um Sie zu sorgen.«
Er drehte den Kopf und sah sie an, ganz aus der Nähe. Sie machte sich um ihn Sorgen. Das war eine große Überraschung, die da plötzlich aus dem Nichts auftauchte. Ein Schock. So als befände man sich auf einem Zug, der auf einem verkehrsreichen Bahnhof neben einem anderen Zug anhält. Der eigene Zug fängt an, sich in Bewegung zu setzen. Wird schneller. Und dann plötzlich ist es gar nicht der eigene Zug, der sich bewegt. Es ist der andere. Der eigene Zug hat die ganze Zeit still dagestanden. Falsche Bezugsebene. Er dachte, sein Zug sei in Bewegung. Sie dachte, es sei der ihre.
»Ich brauche Ihre Hilfe nicht«, sagte sie. »Ich habe bereits alle Hilfe, die ich brauche. Wissen Sie, wie das Büro arbeitet? Wissen Sie, was das größte Verbrechen auf der ganzen Welt ist? Nicht Bombenattentate, nicht Terrorismus, nicht Bandenkriminalität. Das größte Verbrechen der ganzen Welt ist es, sich an FBI-Personal zu vergreifen. Das FBI kümmert sich um seine Leute.«
Reacher blieb eine Weile stumm. Dann lächelte er.
»Dann kann uns beiden ja gar nichts passieren«, sagte er. »Wir warten hier einfach ab, und in Kürze taucht ein ganzes Rudel FBI-Leute auf und kommt hereingeplatzt, um uns zu befreien.«
»Ich vertraue meinen Kollegen«, sagte Holly zu ihm.
Dann herrschte wieder Stille. Der Lieferwagen rollte dröhnend ein paar Minuten dahin. Reacher überschlug im Kopf, welche Entfernung sie bisher zurückgelegt hatten. Vielleicht vierhundertfünfzig Meilen von Chicago. Osten, Westen, Norden oder Süden. Holly stöhnte und legte mit beiden Händen ihr Bein zurecht.
»Schmerzen?«, fragte Reacher.
»Wenn es nicht gerade liegt«, sagte sie. »Wenn es gerade liegt, ist alles in Ordnung.«
»In welche Richtung fahren wir?«, fragte er.
»Werden Sie tun, was ich Ihnen gesagt habe?«, fragte sie.
»Wird es wärmer oder kälter?«, fragte er. »Oder bleibt es gleich?«
Sie zuckte die Schultern.
»Das kann ich nicht sagen«, meinte sie. »Warum?«
»Wenn wir in nördlicher oder in südlicher Richtung fahren, sollte es wärmer oder kälter werden«, sagte er. »Östlich oder westlich würde es mehr oder weniger gleich bleiben.«
»Mir kommt es unverändert vor«, sagte sie. »Aber hier drinnen kann man das eigentlich nicht richtig feststellen.«
»Die Straße scheint mir ziemlich leer zu sein«, sagte Reacher. »Wir fahren immer auf derselben Spur, scheren nicht zum Überholen aus. Und uns hält auch niemand auf. Wir fahren ständig mit gleicher Geschwindigkeit.«
»Und?«
»Das könnte bedeuten, dass wir nicht nach Osten fahren«, sagte er. »Da gibt es so eine Art Grenze, stimmt’s? Von Cleveland bis Pittsburgh bis Baltimore. Der Verkehr wird dort viel dichter. Wir hätten viel mehr Verkehr um uns herum. Was ist heute – Dienstag? Gegen elf Uhr vormittags? Für den Osten kommt mir die Straße zu leer vor.«
Holly nickte.
»Also fahren wir nach Norden, Westen oder Süden«, meinte sie.
»In einem gestohlenen Lieferwagen«, sagte er. »Gefährlich.«
»Gestohlen?«, wiederholte sie. »Woher wollen Sie das wissen?«
»Weil der Personenwagen auch gestohlen war«, sagte er.
»Woher wollen Sie das wissen?«, wiederholte sie.
»Weil sie ihn verbrannt haben«, erklärte er.
Holly drehte den Kopf halb herum und sah ihn an.
»Überlegen Sie doch«, sagte er. »Denken Sie mal über den Plan nach, den diese Burschen gemacht haben. Sie sind in ihrem eigenen Fahrzeug nach Chicago gekommen. Vielleicht schon vor einer ganzen Weile. Möglicherweise haben sie zwei Wochen gebraucht, um Sie auszukundschaften. Vielleicht sogar drei.«
»Drei Wochen?«, sagte sie. »Sie meinen, die haben mich zwei Wochen lang beobachtet?«
»Wahrscheinlich sogar drei«, erwiderte er. »Sie sind jeden Montag zu dieser Reinigung gegangen, stimmt’s? Einmal die Woche? Die müssen eine Weile gebraucht haben, bis sie das Schema erkannt hatten. Aber sie konnten Sie nicht mit ihrem eigenen Fahrzeug schnappen. Zu leicht ausfindig zu machen, und wahrscheinlich hatte es Fenster und alles das, nicht geeignet, um eine gekidnappte Person über eine größere Distanz zu befördern. Und deshalb denke ich mir, dass sie diesen Lieferwagen gestohlen haben, in Chicago, vermutlich gestern vormittag. Die Schrift an den Seitenwänden haben sie übermalt. Haben Sie die weiße Farbe bemerkt? Frisch, nicht ganz zur restlichen Lackierung passend. Vielleicht haben sie auch die Nummernschilder ausgetauscht. Aber trotzdem war der Lieferwagen heiß, stimmt’s? Und er war ihr Fluchtfahrzeug. Also wollten sie nicht riskieren, dass man ihn auf der Straße sieht. Und außerdem fällt es auf, wenn Leute hinten in einen Lieferwagen steigen. Ein Personenwagen ist da besser. Also haben sie die schwarze Limousine gestohlen und die eingesetzt. Und dann die Fahrzeuge auf diesem Schrottplatz ausgetauscht, das schwarze Auto verbrannt und sind losgefahren.«
Holly zuckte die Schultern. Schnitt ein Gesicht.
»Das ist kein Beweis, dass sie irgendetwas gestohlen haben«, sagte sie.
»Doch, das ist es«, widersprach Reacher. »Wer kauft schon einen neuen Wagen mit Lederpolstern, wenn er weiß, dass er ihn später verbrennen wird? Da hätten sie doch auch irgendeine alte Mühle kaufen können.«
Sie nickte widerstrebend.
»Wer sind diese Leute?«, fragte sie, mehr im Selbstgespräch als für Reacher bestimmt.
»Amateure«, sagte Reacher. »Sie machen einen dummen Fehler nach dem anderen.«
»Was zum Beispiel?«
»Verbrennen ist dumm«, sagte er. »Das zieht Aufmerksamkeit auf sich. Die denken, dass sie besonders schlau waren, aber das waren sie nicht. Vermutlich haben sie ihren ursprünglichen Wagen auch verbrannt. Ich wette, sie haben ihn ganz nahe bei der Stelle verbrannt, wo sie die schwarze Limousine gestohlen haben.«
»Mir scheint das eher schlau«, meinte Holly.
»Die Bullen bemerken brennende Autos«, sagte Reacher. »Sie werden die schwarze Limousine finden, sie werden herausfinden, wo man sie gestohlen hat, und wenn sie dort hingehen, werden sie ihr ursprüngliches Fahrzeug finden, wahrscheinlich sogar noch schwelend. Die hinterlassen eine Spur, Holly. Sie hätten beide Autos auf dem Langzeitparkplatz am O’Hare-Flughafen parken sollen. Dort hätten sie ein Jahr lang stehen können, ohne dass jemand etwas bemerkt hätte. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, die Wagen einfach irgendwo an der South Side stehen zu lassen, mit offenen Türen und den Schlüsseln im Zündschloss. Zwei Minuten später hätten dort zwei Leute aus der Umgebung ein neues Auto gehabt. Diese Fahrzeuge wären nie wieder aufgetaucht. So verwischt man seine Spuren! Verbrennen scheint gut zu sein, verschafft einem das Gefühl, es sei endgültig, aber es ist dumm, saudumm sogar.«
Holly legte den Kopf zurück und starrte nach oben auf das heiße Wagendach. Und fragte sich: Wer zum Teufel ist dieser Kerl?