38

»Da kommt keine Reaktion«, sagte Fowler. »Ich möchte wissen, warum.«

Reacher zuckte bloß die Schultern. Sie befanden sich in der Kommandohütte. Stevie hatte ihn durch den Wald zur Bastion gezerrt, und dann hatte Fowler ihn mit zwei bewaffneten Wachen wieder zurückgeschleppt. Die Strafhütte stand nicht zur Verfügung. Die war noch von Joseph Ray besetzt. Sie benutzten an ihrer Stelle die Kommandohütte. Sie zwangen Reacher sich hinzusetzen, und Fowler fesselte sein linkes Handgelenk mit einer Handschelle an die Stuhllehne. Die Wachen bauten sich links und rechts von ihm auf, die Waffen schussbereit in der Armbeuge, ein Bild der Wachsamkeit. Dann ging Fowler weg, um sich Borken und Stevie bei der Zeremonie auf dem Exerzierplatz anzuschließen. Reacher hörte aus der Ferne Rufe und Beifall, als die Proklamation verlesen wurde. Dann hörte er nichts mehr. Neunzig Minuten später kam Fowler allein in die Hütte zurück. Er setzte sich hinter Borkens Schreibtisch und zündete sich eine Zigarette an. Die bewaffneten Wachen rührten sich dabei die ganze Zeit nicht von der Stelle.

»Wir haben es vor einer Stunde gefaxt«, sagte Fowler. »Keine Reaktion.«

Reacher roch den Rauch seiner Zigarette und betrachtete die Fahnen an den Wänden. Dunkles Rot und stumpfes Weiß und darüber windschiefe schwarze Symbole.

»Wissen Sie, warum wir keine Reaktion bekommen?«, fragte Fowler.

Reacher schüttelte bloß den Kopf.

»Wissen Sie, was ich glaube?«, sagte Fowler. »Die haben die Leitung abgeschnitten. Die Telefongesellschaft steckt mit den Leuten vom FBI unter einer Decke. Man hat uns gesagt, dass das um halb acht geschehen würde. Offensichtlich ist es schon früher geschehen.«

Reacher zuckte wieder die Schultern. Sagte nichts.

»Wir hätten erwartet, dass wir über so etwas informiert werden«, sagte Fowler.

Er griff nach seiner Glock und baute sie vor sich mit dem Kolben auf der Schreibtischplatte auf, drehte sie wie ein Marinegeschütz nach links und rechts.

»Und das hat man nicht«, sagte er.

»Vielleicht hat Ihr Kumpel in Chicago Sie aufgegeben«, sagte Reacher.

Fowler schüttelte den Kopf. Seine Glock zielte jetzt auf Reachers Brust.

»Wir haben eine Menge nachrichtendienstliche Meldungen erhalten«, sagte er. »Wir wissen, wo sie sind, wie viele es sind, was sie vorhaben. Aber jetzt, wo wir immer noch Informationen brauchen, kriegen wir keine. Die Verbindung ist unterbrochen.«

Reacher sagte nichts.

»Wir sind dabei, das zu untersuchen«, sagte Fowler. »Im Augenblick überprüfen wir die Funkanlage.«

Reacher sagte nichts.

»Sie wollen uns nicht vielleicht etwas über die Funkanlage sagen?«, fragte Fowler.

»Welche Funkanlage?«, fragte Reacher.

»Gestern hat sie einwandfrei funktioniert«, sagte Fowler. »Jetzt funktioniert sie überhaupt nicht mehr, und Sie sind die ganze Nacht draußen rumgelaufen.«

Er beugte sich hinunter und zog die Schublade heraus, in der Borken den Colt Marshal verwahrte. Aber er kam nicht wieder mit einem Revolver herauf, sondern mit einem kleinen schwarzen Funkgerät.

»Das hat Jackson gehört«, sagte er. »Er war ganz wild darauf, uns zu zeigen, wo es versteckt war. Tatsächlich hat er uns angefleht, es uns zeigen zu dürfen. Er hat geheult und geschrien und gebettelt. Hat sich fast die Fingernägel dabei abgerissen, als er das Ding ausgegraben hat, so wild war er darauf.«

Er lächelte und steckte das kleine Gerät in die Tasche.

»Ich denke, wir schalten das Ding einfach ein«, sagte er. »Auf die Weise sollten wir direkten Kontakt mit diesen FBI-Kotzbrocken kriegen, Mann zu Mann. In dieser Phase müssen wir direkt verhandeln. Vielleicht können wir sie dazu überreden, unsere Faxleitung wieder herzustellen.«

»Großartiger Plan«, sagte Reacher.

»Die Faxleitung ist wichtig, wissen Sie«, sagte Fowler. »Lebenswichtig. Die Welt muss erfahren, was wir hier tun. Die Welt muss das beobachten können, Zeuge sein. Hier wird Geschichte gemacht. Das verstehen Sie doch, oder?«

Reacher starrte die Wand an.

»Die haben Kameras, wissen Sie«, sagte Fowler. »Im Augenblick kreisen dort oben Überwachungsflugzeuge. Jetzt ist wieder Tageslicht, die können also sehen, was wir tun. Die Frage ist nur, wie wir daraus Nutzen ziehen können.«

Reacher schüttelte den Kopf.

»Mich können Sie da rauslassen«, sagte er.

Fowler lächelte.

»Natürlich werden wir Sie da rauslassen«, sagte er. »Was interessiert die auch, wenn man Sie an einen Baum nagelt? Sie sind doch nicht mehr als ein Stück Scheiße, für uns ebenso wie für die. Aber Holly Johnson – das ist eine völlig andere Geschichte. Vielleicht rufen wir sie über ihren eigenen kleinen Sender an und sagen ihnen, sie sollen mit ihren eigenen Spionagekameras zusehen, wie wir es tun. Das könnte sie vielleicht nachdenklich machen. Vielleicht lassen sie sich auf einen Tausch ein – eine Faxleitung für ihre linke Brust.«

Er drückte seine Zigarette aus. Beugte sich vor. Sprach mit leiser Stimme.

»Wir meinen das hier sehr ernst, Reacher«, sagte er. »Sie haben gesehen, was wir mit Jackson gemacht haben. Das können wir auch mit ihr. Oder mit Ihnen. Für uns ist es wichtig, dass wir mit der Welt kommunizieren können. Wir brauchen diese Faxleitung. Also brauchen wir den Kurzwellenfunk, um herauszubekommen, was die mit dieser Faxleitung gemacht haben. Wir brauchen diese Dinge sehr. Das verstehen Sie doch, oder? Wenn Sie sich also eine Menge unnötigen Schmerz ersparen wollen, Ihnen und ihr, dann sollten Sie mir besser sagen, was Sie mit der Funkanlage gemacht haben.«

Reachers Stuhl wurde herumgedreht, sodass sein Blick jetzt auf den Bücherschrank gerichtet war. Er versuchte sich an Einzelheiten der amateurhaften Übersetzung der japanischen Pearl-Harbor-Texte zu erinnern, die er gelesen hatte.

»Sagen Sie es mir jetzt«, forderte Fowler ihn mit leiser Stimme auf. »Ich kann dafür sorgen, dass die Sie und Holly in Ruhe lassen. Keine Schmerzen für Sie beide. Aber wenn Sie Schwierigkeiten machen, kann ich Ihnen nicht helfen.«

Er legte seine Glock auf den Schreibtisch.

»Wollen Sie eine Zigarette?«, fragte er.

Er hielt ihm das Päckchen hin. Lächelte. Der nette Bulle. Der Freund. Der Verbündete. Der Beschützer. Die älteste Tour, die es in diesem Geschäft gab. Und das erforderte die älteste Reaktion. Reacher sah sich um. Zwei Wachen, eine links und eine rechts von ihm, der auf der rechten Seite näher, der auf der linken fast an der Wand, den Karabiner locker in der Armbeuge. Fowler hinter dem Schreibtisch, das Zigarettenpäckchen in der Hand. Reacher zuckte die Schultern und nickte. Nahm mit der freien rechten Hand eine Zigarette heraus. Er hatte seit zehn Jahren nicht mehr geraucht, aber wenn einem jemand eine tödliche Waffe anbietet, nimmt man sie.

»Also, sagen Sie es mir«, forderte Fowler ihn auf. »Und beeilen Sie sich.«

Er schnippte sein Feuerzeug an und hielt es ihm hin. Reacher beugte sich vor und zündete seine Zigarette an der Flamme an. Nahm einen tiefen Zug und lehnte sich zurück. Der Rauch fühlte sich gut an. Zehn Jahre, und immer noch ein Genuss. Er inhalierte tief und machte dann einen weiteren Zug.

»Wie haben Sie unser Funkgerät sabotiert?«, fragte Fowler.

Reacher machte einen dritten Zug. Ließ den Rauch langsam durch die Nase heraus und hielt die Zigarette, so wie Wachposten das tun, zwischen Daumen und Zeigefinger, sodass die Handfläche sie verdeckte. Wenn man schnell und tief zieht, erhitzt sich die Glut an der Spitze der Zigarette auf gute tausend Grad. Und sie wird lang und spitz. Er drehte seine Handfläche herum, als würde er die glühende Spitze studieren, während er über etwas nachdachte, bis die Zigarette wie ein Pfeil gerade nach vorn zeigte.

»Wie haben Sie unser Funkgerät sabotiert?«, wiederholte Fowler seine Frage.

»Sie werden Holly weh tun, wenn ich es Ihnen nicht sage?«, fragte Reacher zurück.

Fowler nickte.

»Das kann ich Ihnen versprechen«, sagte er. »Ich werde ihr so weh tun, dass sie mich anfleht, sterben zu dürfen.«

Reacher zuckte bedrückt die Schultern. Deutete eine Geste an, die den anderen aufforderte, näher zu kommen, weil er ihm etwas Wichtiges zu sagen hatte. Fowler nickte, rutschte auf seinem Stuhl nach vorn und beugte sich vor. Reacher schoss ruckartig vor und rammte ihm die Zigarette ins Auge. Fowler schrie, und Reacher schoss in die Höhe, dass der an sein Handgelenk angekettete Stuhl hinten hochgerissen wurde. Er schwang sich nach rechts, und der Stuhl beschrieb einen weiten Bogen und krachte gegen den Schädel der näher bei ihm stehenden Wache. Der Stuhl ging in Stücke und flog davon, während Reacher nach links tänzelte. Er schmetterte dem weiter entfernt stehenden Mann den Unterarm gegen die Kehle, als der seinen Karabiner hob. Fuhr zurück und traf Fowler mit den Überresten des Stuhls. Ließ sich vom eigenen Schwung tragen und erledigte die erste Wache mit einem Ellbogenstoß gegen den Kopf. Der Mann ging zu Boden. Reacher griff sich sein Gewehr am Lauf und schwang es nach der anderen Wache. Spürte, wie die Schädelknochen unter dem Kolben explodierten. Er ließ das Gewehr fallen, wirbelte herum und schlug die Überreste des Stuhls an Fowlers Schultern in Stücke. Packte ihn an den Ohren und schmetterte ihm das Gesicht gegen die Schreibtischplatte, einmal, zweimal, dreimal. Nahm ein Bein des zerbrochenen Stuhls und presste es quer unter seine Kehle. Klemmte seine Ellbogen um die frei liegenden Enden des Stuhlbeins und schlang seine Hände ineinander. Vergewisserte sich, dass der Griff hielt, und spannte die Schultern. Ein heftiger Ruck, und Fowlers Genick brach laut knirschend an dem Stuhlbein.

Er nahm beide Gewehre, die Glock und den Schlüssel der Handschelle. Die Tür hinaus und hinter die Hütte. Zwischen die Bäume. Steckte die Glock in die Tasche. Nahm die Handschelle ab. Hielt jetzt in jeder Hand ein Gewehr. Atmete tief. Er hatte Schmerzen. Als er den schweren Holzstuhl an der Handschelle geschwungen hatte, war die rote Druckstelle an seinem Handgelenk aufgebrochen. Er führte sie zum Mund, saugte daran und knöpfte dann seine Hemdmanschette darüber zu.

Dann hörte er einen Hubschrauber. Das schwache tiefe Dröhnen einer schweren Maschine mit Doppelrotoren, eine Boeing, eine Sea Knight oder eine Chinook, ein gutes Stück von ihm entfernt im Südosten. Er dachte: Letzte Nacht hat Borken von acht Marines gesprochen. Die haben bloß acht Marines, hat er gesagt. Die Marines setzen Sea Knights ein. Er dachte, die machen einen Frontalangriff. Im gleichen Augenblick kamen ihm Hollys mit Holz vertäfelte Wände in den Sinn, und er rannte zwischen den Bäumen los.

Er kam bis zur Bastion. Das Dröhnen aus der Luft wurde lauter. Er riskierte kurz, auf den Weg hinauszutreten. Es war eine Chinook. Keine Sea Knight. Der Markierung nach auf Sucheinsatz, nicht Marine Corps. Der Hubschrauber folgte dem Straßenverlauf vom Südosten, eine Meile entfernt, hundert Fuß hoch, nutzte den heftigen Sog der Rotoren, um das Blattwerk in seiner unmittelbaren Umgebung zu teilen und ihm dabei bei der Suche zu helfen. Die Chinook wirkte langsam und behäbig, wie sie so mit der Schnauze nach unten in der Luft hing und beim Näherkommen leicht von einer Seite zur anderen schwankte. Reacher nahm an, dass sie sich ziemlich nahe bei der Ortschaft Yorke befinden musste.

Dann sah er auf die Lichtung und entdeckte dort, fünfzig Meter von ihm entfernt, einen Mann. Er trug Tarnuniform, hatte eine Stinger auf der Schulter. Drehte sich jetzt herum und zielte durch das primitive offene Visier. Er sah, dass der Mann das Ziel erfasste. Der Mann kam zum Stillstand, spreizte die Beine. Seine Hand tastete nach dem Schalter. Der Infrarotsensor des Geschosses schaltete sich ein. Reacher wartete, dass das IFF ihn wieder abschaltete. Doch das geschah nicht. Das Raketengeschoss fing sein schrilles Quietschen an. Es war auf die Hitze eingestellt, die die Motoren der Chinook ausstrahlten. Der Finger des Mannes krümmte sich um den Abzug.

Reacher ließ das Gewehr fallen, das er in der linken Hand hielt. Riss das andere hoch und legte dabei mit dem Daumen den Sicherungsflügel um. Trat einen Schritt nach links und lehnte sich mit der Schulter an einen Baum. Zielte auf den Kopf des Mannes und feuerte.

Aber der Mann schoss vor ihm. Den Bruchteil einer Sekunde, bevor Reachers Kugel ihn tötete, betätigte er den Abzug der Stinger. Zwei Dinge geschahen. Der Raketenmotor der Stinger leuchtete auf. Das Geschoss raste durch das Werferrohr. Dann wurde der Mann am Kopf getroffen. Der Aufprall warf ihn zur Seite. Das Werferrohr erfasste den hinteren Teil der Rakete und kippte sie um. Sie kam heraus und blieb wie ein Wurfspeer, mit dem Schwanz nach unten, in der Luft stehen, vom Startschub getragen, praktisch bewegungslos.

Dann korrigierte sie sich. Reacher sah entsetzt zu, wie das Geschoss genau das tat, wozu es konstruiert war. Seine acht kleinen Tragflächen klappten aus. Es hing fast senkrecht da, bis es den Helikopter wieder erfasst hatte. Dann zündete die zweite Raketenstufe und es schoss in den Himmel. Ehe die Leiche des Mannes auf den Boden traf, jagte es mit tausend Meilen in der Stunde auf die Chinook zu.

Die Chinook polterte in stetigem Flug nach Nordwesten. Eine Meile entfernt. Folgte der Straße. Die Straße führte geradewegs durch die Ortschaft. Zwischen den verlassenen Gebäuden hindurch. An der Südwestecke war das erste Gebäude, das der Hubschrauber passierte, das Gerichtsgebäude. Die Chinook rückte mit achtzig Meilen in der Stunde näher. Die Stingerrakete jagte mit tausend Meilen in der Stunde auf ihr Ziel zu.

Eine Meile bei tausend Meilen in der Stunde. Ein Tausendstel von einer Stunde. Eine Winzigkeit mehr als dreieinhalb Sekunden. Reacher kam es wie eine Ewigkeit vor. Er sah dem Geschoss die ganze Zeit nach. Eine wundervolle, brutale Waffe. Einem einzigen unerschütterlichen Ziel gewidmet. Dafür gebaut, die exakte Wärmesignatur von Flugzeugmotoren zu erkennen. Dazu bestimmt, diesem Ziel zu folgen, bis es dieses entweder erreichte oder ihm der Treibstoff ausging. Ein einfacher Einsatz von dreieinhalb Sekunden.

Der Pilot der Chinook entdeckte die Stinger frühzeitig. Die erste Sekunde beobachtete er sie starr. Nicht starr vor Schrecken, nicht vor Angst, einfach weil er nicht glauben konnte, dass aus einer kleinen Waldlichtung in Montana ein Hitze suchendes Geschoss auf ihn abgefeuert worden war. Dann setzten sein Instinkt und seine Ausbildung ein. Ausweichmanöver. Dem Geschoss ausweichen und einen Absturz über bewohntem Gebiet verhindern. Reacher sah ihn, wie er die Schnauze der Maschine nach unten drückte und den Schwanz hochriss. Die riesige Chinook wendete und spie einen Schwall Auspuffgase in die Atmosphäre. Dann fegte ihr Schwanz in die Gegenrichtung, die Motoren brüllten, überhitzte Gase strömten im weiten Bogen aus. Die Stinger folgte geduldig der ersten Kurve. Verengte ihren Radius. Die Chinook sank langsam ab und stieg dann ruckartig hoch. Entfernte sich in einer nach oben gerichteten Spirale von der Ortschaft. Die Stinger wendete und folgte dem zweiten Bogen. Traf dort ein, wo die Hitze den Bruchteil einer Sekunde zuvor gewesen war. Konnte sie nicht finden. Sie zog einen vollen, trägen Bogen unmittelbar unter dem Helikopter. Fing ein Echo des neuen Manövers auf und machte sich daran, unbarmherzig auf einer neuen Spirale in die Höhe zu steigen.

Der Pilot gewann eine zusätzliche Sekunde, aber das war alles. Die Stinger erfasste ihn am höchsten Punkt seines verzweifelten Ausweichmanövers. Sie folgte der Hitzespur bis hinein in den Steuerbordmotor. Explodierte dicht am Auspuffrohr.

Dreieinhalb Kilo hochexplosiver Sprengstoff gegen zehn Tonnen Flugzeug, aber der Sprengstoff gewinnt immer. Reacher sah, wie der Steuerbordmotor sich auflöste, und dann flog das hintere Rotorgehäuse davon. Fragmente des Antriebsstrangs wurden abgerissen und wurden davongeschleudert, und dann löste der Rotor sich ab und kreiselte wie in Zeitlupe davon. Die Chinook kam einen Augenblick lang zum Stillstand und fiel dann mit dem Schwanz voran, nur durch den wild aufbrüllenden vorderen Rotor etwas abgebremst, und kreiselte langsam zur Erde hinunter, so wie ein leckes Schiff langsam unter die Wasserfläche gezogen wird.

 

Holly hörte den Helikopter. Hörte, wie das Geräusch lauter wurde. Dann kam die Explosion und das schrille Kreischen des vorderen Rotors, der den Sturz abbremste. Dann hörte sie nichts mehr.

Sie stemmte den Ellbogen in ihre Krücke und hinkte zu der diagonal verlaufenden Trennwand. Der Gefängnisraum war mit Ausnahme der Matratze völlig leer.

 

»Nur eine Frage«, sagte Webster. »Wie lange können wir das geheim halten?«

General Johnson gab keine Antwort. Auch sein Adjutant blieb stumm. Websters Blick wanderte zu Garber weiter. Der blickte grimmig.

»Nicht sehr lang«, sagte er.

»Aber wie lang?«, bohrte Webster. »Einen Tag? Eine Stunde?«

»Sechs Stunden«, erklärte Garber.

»Warum?«, wollte McGrath wissen.

»Übliche Vorgehensweise«, erklärte Garber. »Sie werden natürlich den Absturz untersuchen. Normalerweise würden sie einen weiteren Hubschrauber ausschicken. Aber nicht, wenn mit Beschuss vom Boden aus gerechnet werden muss. Also werden sie auf der Straße von Malmstrom kommen. Sechs Stunden.«

Webster nickte. Drehte sich zu Johnson herum.

»Können Sie sie aufhalten, General?«, fragte er.

Johnson schüttelte den Kopf.

»Eigentlich nicht«, sagte er. Seine Stimme klang resigniert. »Sie haben gerade eine Chinook verloren. Ich kann nicht anrufen und sagen, tut mir einen Gefallen, geht dem nicht nach. Ich könnte es wahrscheinlich versuchen, und sie würden mir vielleicht sogar zunächst den Gefallen tun, aber dann würde etwas durchsickern und wir stünden wieder dort, wo wir angefangen haben. Wir würden damit vielleicht eine Stunde gewinnen.«

Webster nickte.

»Sieben Stunden, sechs Stunden, was macht das schon für einen Unterschied?«, sagte er.

Darauf antwortete niemand.

»Wir müssen jetzt handeln«, sagte McGrath. »Vergessen wir das Weiße Haus. Wir können nicht länger warten. Wir müssen sofort etwas unternehmen, Leute. In sechs Stunden fliegt uns die ganze Chose hier um die Ohren. Und wir verlieren sie.«

Sechs Stunden sind dreihundertsechzig Minuten. Die ersten zwei davon vergeudeten sie, indem sie stumm dasaßen. Johnson starrte ins Leere. Webster trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte. Garber starrte McGrath mit verzerrter Miene an. McGrath starrte auf die Landkarte. Milosevic und Brogan standen mit ihren Frühstückstüten und den Styroporbechern in der Hand da.

»Kaffee, wenn jemand welchen will«, sagte Brogan.

Garber winkte ihn zu sich.

»Wir können gleichzeitig essen und planen«, sagte er.

»Landkarte«, stieß Johnson hervor.

McGrath schob ihm die Landkarte über den Tisch. Alle beugten sich vor. Der Bann war gebrochen. Noch dreihundertachtundfünfzig Minuten.

»Die Schlucht ist etwa vier Meilen nördlich von uns«, sagte der Adjutant. »Wir haben lediglich acht Marines in einer LAV-25.«

»Ist das ein Panzer?«, fragte McGrath.

Der Adjutant schüttelte den Kopf.

»Ein leichter Straßenpanzer«, sagte er. »Light Armored Vehicle  – LAV. Acht Räder, keine Ketten.«

»Schusssicher?«, fragte Webster.

»Ja«, nickte der Adjutant. »Die können damit bis nach Yorke fahren.«

»Wenn er durch die Schlucht kommt«, wandte Garber ein.

Johnson nickte.

»Das ist die große Frage«, sagte er. »Wir müssen uns das ansehen.«

 

Für McGraths Zivilistenblick sah der LAV wie ein Panzer aus, nur dass er acht Räder und keine Ketten hatte. Der Rumpf war aus schrägen Panzerplatten zusammengeschweißt, und oben war ein Turm mit einer Kanone. Der Fahrer saß vorn, der Kommandant im Turm. Im hinteren Teil saßen zwei Reihen von je drei Marines Rücken an Rücken an Schießscharten. Jede Schießscharte hatte ihr eigenes Periskop. McGrath konnte sich gut vorstellen, wie das Fahrzeug ins Gefecht polterte, unverletzbar und vor Waffen starrend. In die Schlucht hinunter, auf der anderen Seite wieder hinauf, über die Straße nach Yorke zum Gerichtsgebäude. Er zog Webster beiseite und redete eindringlich auf ihn ein.

»Wir haben es ihnen nie gesagt«, meinte er. »Das mit dem Dynamit in den Wänden.«

»Und das werden wir auch nicht«, entschied Webster leise. »Sonst dreht der Alte durch. Er macht mir ohnehin schon den Eindruck, als würde er gleich in Stücke gehen. Ich werde es den Marines unmittelbar sagen. Die müssen dort rein. Die müssen damit klarkommen. Es macht keinen Unterschied, ob Johnson das vorher weiß oder nicht.«

McGrath hielt Johnson auf, und Webster rannte zu dem gepanzerten Fahrzeug hinüber. McGrath sah, wie der Marine-Kommandant sich vom Turm herunterlehnte. Sah ihn nicken und das Gesicht verziehen, als Webster zu ihm sprach. Dann ließ der Adjutant des Generals den olivgrünen Chevrolet an. Johnson und Garber zwängten sich vorn zu ihm hinein. McGrath sprang auf den Rücksitz. Brogan und Milosevic neben ihm.

Webster war fertig und setzte sich neben Milosevic. Der schwere Dieselmotor des LAV stieß eine schwarze Rauchwolke aus. Dann konnte man hören, wie knirschend ein Gang eingelegt wurde, und das Monstrum polterte nach Norden davon. Der Chevy heftete sich an sein Heck.

 

Vier Meilen weiter nördlich überwanden sie eine kleine Anhöhe und bogen in eine Kurve. Bremsten ab und hielten vor einem schroffen Felsvorsprung an. Der Panzerkommandant sprang aus dem Turm und rannte in nördlicher Richtung die Straße hinauf. Webster, Johnson und McGrath stiegen aus und hetzten hinter ihm her. Dann hatten sie das Ende des Vorsprungs erreicht und spähten vorsichtig in die Schlucht hinunter. Ein Anblick, der einem Angst machen konnte.

Sie verlief mehr oder weniger gerade von links nach rechts vor ihnen. Und es war nicht bloß ein Graben. Es war ein Graben und eine Art Stufe. Die Erdkruste war hier aufgebrochen, und die südliche Platte war unter das Niveau der nördlichen Platte abgesackt. Wie aneinander angrenzende Teile einer alten Betonstraße, wo der Höhenunterschied an der Anschlussstelle ein paar Zentimeter beträgt. Auf geologische Maßstäbe ausgeweitet, machten diese Zentimeter hier fünfzehn Meter aus.

Wo die Erde aufgebrochen und heruntergefallen war, hatten sich die Ränder in riesige Felsbrocken zerteilt. Die Gletscher hatten die Felsbrocken nach Süden getragen, und das Eis, die geologische Verschiebung und das Wetter hatten im Verlauf einer Million Jahre aus dem Bruch einen Graben gemacht. Die Kräfte der Natur hatten die Felsplatten so verschoben, dass sie sozusagen wieder zusammengewachsen waren. An manchen Stellen waren Sprünge von hundert Meter Breite offen geblieben. An anderen Stellen waren diese Spalten bloß zwanzig Meter breit.

Dann hatten die Wurzeln von tausend Generationen von Bäumen und das gefrorene Wasser im Winter die Ränder geglättet, bis eine Art ausgefranstes Bachbett nach unten und ein ebensolches auf der Nordseite wieder nach oben führte, fünfzehn Meter höher als der Ausgangspunkt. Es gab verkrüppelte Bäume und ineinander verwachsenes Gehölz und Felsrutsche. Die Straße selbst schraubte sich auf Betonpfeilern höher und führte sanft über eine Brücke und wurde von weiteren Betonpfeilern allmählich im Norden wieder auf das alte Niveau heruntergeführt, von wo aus sie sich durch den Wald zwischen die Berge davonschlängelte.

Aber die Brücke war gesprengt. Man hatte an den beiden Pfeilern in der Mitte Sprengladungen zur Explosion gebracht. Ein sechs Meter langes Stück Straße in der Mitte war dreißig Meter in die Tiefe gefallen. Die vier Männer hinter dem Felsvorsprung konnten unten in der Schlucht Bruchstücke der Straßenplatten liegen sehen.

»Was meinen Sie?«, fragte Johnson eindringlich.

Der Fahrzeugkommandant musterte das Gelände mit seinem Feldstecher. Ließ ihn nach links und rechts, nach oben und unten wandern, überprüfte das gesamte Terrain.

»Ziemliche Scheiße, Sir«, sagte er.

»Kommen Sie durch?«, fragte ihn Johnson.

Der Mann ließ seinen Feldstecher sinken und schüttelte den Kopf.

»Nicht die leiseste Hoffnung«, sagte er.

Er trat neben den General, damit Johnson und er dieselbe Perspektive hatten. Erläuterte seine Feststellung und deutete dabei in das Gelände.

»Wir könnten bis nach unten kommen«, sagte er. »Dort, wo der Felsrutsch eine einigermaßen glatte Bahn liefert. Aber das Problem ist, auf der anderen Seite wieder hinaufzukommen. Das LAV schafft nicht viel mehr als fünfundvierzig Grad. Und ein Großteil der Nordseite scheint mir wesentlich steiler zu sein. An manchen Stellen ist die Wand fast senkrecht. Und alles, was es an sanften Steigungen gibt, ist zugewachsen. Und außerdem haben diese Mistkerle Bäume gefällt. Da, sehen Sie, Sir.«

Er deutete auf ein bewaldetes Stück auf der gegenüberliegenden Hangseite. Dort waren Bäume gefällt worden und mit den abgehackten Enden nach Süden weisend liegen gelassen worden.

»Da bleibt unser Fahrzeug hängen. Ohne jeden Zweifel. Diese Dinger würden sogar einen ausgewachsenen Panzer aufhalten. Wenn wir da reingehen, bleiben wir im Graben liegen.«

»Was zum Teufel machen wir dann?«, fragte Johnson.

Der Offizier zuckte die Schultern.

»Bringen Sie mir ein paar Pioniere«, sagte er. »Die Lücke, die die hier rausgesprengt haben, ist etwa sechs Meter breit. Die können wir überbrücken.«

»Und wie lange dauert das?«, fragte Webster.

Wieder zuckte der Marine die Schultern.

»Hier oben?«, sagte er. »Sechs Stunden? Vielleicht auch acht.«

»Viel zu lang«, sagte Webster.

Und dann fing plötzlich der Funkempfänger in McGraths Tasche zu knistern an.