43
Zum ersten Mal nach zwanzig Jahren hatte General Garber einen Menschen getötet. Er hatte das nicht beabsichtigt. Er hatte vorgehabt, den Mann niederzuschlagen und ihm seine Waffe wegzunehmen. Sonst nichts. Der Mann war Teil eines inneren Rings von Wachen. Sie waren in unterschiedlichen Abständen in einer Linie aufgestellt, die hundert Meter südlich von dem Gerichtsgebäude verlief. Garber war im Wald an dieser Linie entlang geschlichen und hatte sie ausfindig gemacht.
Garber hatte denjenigen ausgewählt, der sich am nächsten zwischen ihm und dem großen weißen Gebäude befand. Der Mann musste weg. Garber brauchte einen direkten Zugang zu dem Gebäude. Und er brauchte eine Waffe. Also hatte er den Mann ausgewählt und sich näher an ihn herangearbeitet. Er hatte einen großen Stein von dem feuchten Waldboden aufgehoben. Hatte sich von hinten an den Mann herangeschlichen.
Die mangelhafte Ausbildung erleichterte das Ganze. Ein Suchtrupp muss beweglich sein. Die Männer müssen sich nebeneinander an der Umgrenzungslinie entlang bewegen, die sie zu verteidigen haben. Auf diese Weise decken sie jeden Fußbreit des Territoriums ab und können auch feststellen, ob ihr Nachbar in der Reihe angegriffen und außer Gefecht gesetzt worden ist. Aber diese Männer standen bloß da. Beobachteten und lauschten. Schlechte Taktik.
Der Mann, den Garber ausgewählt hatte, trug eine Feldmütze aus Tarnstoff. Nur dass es die falsche Tarnung war. Ein Muster aus schwarzen und grauen Flecken. Dafür bestimmt, ihren Träger in einer Stadtumgebung zu schützen, in einer von der Sonne gesprenkelten Waldumgebung aber völlig ungeeignet. Garber hatte sich von hinten an den Mann angeschlichen und mit dem Stein zugeschlagen. Ihn am Hinterkopf getroffen.
Ihn zu heftig getroffen. Das Problem war, dass die Menschen unterschiedlich gebaut sind. Es gibt keine definierte Schwungkraft für einen solchen Schlag. Es ist nicht wie beim Billardspiel. Wenn man den Ball in die Tasche in der Ecke befördern will, weiß man ziemlich genau, wie kräftig man zustoßen muss. Aber Schädel sind anders. Manche sind hart. Der Schädel dieses Mannes war das nicht. Er sprang wie eine Eierschale, und die Wirbelsäule wurde ganz oben abgetrennt, so dass der Mann tot war, ehe er den Boden erreicht hatte.
»Scheiße«, hauchte Garber.
In ethischer Hinsicht bereitete ihm das keine Probleme. Überhaupt keine. Vierzig Jahre, in denen er mit harten Männern zu tun gehabt hatte, die irgendwie vom rechten Pfad abgekommen waren, hatten ihm eine ganze Menge ethische Definitionen geliefert. Was ihn beunruhigte, waren die Bussarde. Bewusstlose Männer ziehen keine Bussarde an. Tote Männer schon. Bussarde, die am Himmel kreisen, verbreiten Informationen. Sie sagen den anderen Wachen, dass einer ihrer Kameraden tot ist.
Also wandelte Garber seinen Plan leicht ab. Er nahm die M-16 des Toten und arbeitete sich weiter nach vorn, als er das eigentlich vorgehabt hatte. Er kam bis auf zwanzig Meter an die Stelle heran, wo die Bäume in größeren Abständen standen. Er sah prüfend nach beiden Seiten, bis er vielleicht zehn Meter vom Waldrand entfernt einen Felsvorsprung entdeckte. An diesem Punkt würde er die Verteidigungslinie des Gegners durchdringen. Er huschte hinter einen Baum und kauerte sich nieder. Zerlegte den Karabiner und vergewisserte sich, dass er in gutem Zustand war. Baute ihn wieder zusammen und wartete.
Harland Webster ließ das Videoband zum vierten Mal zurücklaufen und sah sich das Geschehen erneut an. Die rosa Nebelwolke, die zu Boden gehende Wache, die zweite Wache, wie sie weglief, der ruckartige Zoom der Kamera, bis das Bild die ganze Lichtung erfasste, die zweite Wache, wie sie lautlos zu Boden ging. Dann eine lange Pause. Dann Reachers verrückter Sprint. Reacher, der Leichen beiseite stieß, Seile durchschnitt und McGrath in Sicherheit schleppte.
»Wir haben uns in dem Mann getäuscht«, sagte Webster.
General Johnson nickte.
»Ich wünschte, Garber wäre noch hier«, sagte er. »Ich muss mich bei ihm entschuldigen.«
»Den Flugzeugen wird der Treibstoff knapp«, sagte der Adjutant in das Schweigen hinein.
Johnson nickte erneut.
»Schicken Sie eines zurück«, sagte er. »Wir brauchen jetzt nicht mehr beide dort oben. Die sollen sich gegenseitig ablösen.«
Der Adjutant rief in Peterson an, und binnen einer halben Minute wurden drei der sechs Bildschirme in dem Fahrzeug schwarz, als das äußere Flugzeug seine Kreisbahn verließ und in südlicher Richtung davonflog. Das innere Flugzeug weitete seinen Radius etwas aus und veränderte den Aufnahmewinkel so, dass jetzt das ganze Gelände erfasst wurde. Die Nahaufnahme der Lichtung schrumpfte auf die Größe eines Vierteldollars zusammen, und das große weiße Gerichtsgebäude tauchte in der rechten unteren Bildschirmecke auf. Drei identische Ansichten auf drei Bildschirmen, einer für jeden von ihnen. Sie beugten sich auf ihren Stühlen vor und starrten auf die Monitore. Das Funkgerät in Websters Tasche fing zu knistern an.
»Webster?«, konnte man Borkens Stimme hören. »Sind Sie da?«
»Ich bin hier«, erwiderte Webster.
»Was ist mit dem Flugzeug?«, wollte Borken wissen. »Nicht mehr interessiert oder was?«
Einen Augenblick lang fragte sich Webster, woher Borken das wusste. Dann erinnerte er sich an die Kondensstreifen. Sie waren wie ein Diagramm hoch oben am Himmel.
»Wer war es?«, fragte er. »Brogan oder Milosevic?«
»Was ist mit dem Flugzeug?«, wiederholte Borken seine Frage.
»Treibstoff geht zu Ende«, erklärte Webster knapp. »Es kommt wieder.«
Eine kurze Pause trat ein. Dann war wieder Borkens Stimme zu hören.
»Okay«, sagte er.
»Also, wer war es?«, fragte Webster erneut. »Brogan oder Milosevic?«
Aber aus dem Funkgerät kam kein Laut mehr. Er knipste es aus und merkte, wie Johnson ihn ansah. Johnsons Gesichtsausdruck sagte: Jetzt hat sich gezeigt, dass der Mann vom Militär in Ordnung war und der vom Büro ein Verräter. Webster zuckte die Schultern. Versuchte so etwas wie Bedauern in die Geste hineinzulegen. Versuchte zum Ausdruck zu bringen: Wir haben beide Fehler gemacht. Aber Johnsons Gesichtsausdruck sagte: Sie hätten das wissen müssen.
»Könnte ein Problem sein, oder?«, sagte der Adjutant. »Brogan und Milosevic? Welcher auch immer von den beiden in Ordnung ist – er hält Reacher immer noch für seinen Feind. Und der andere weiß, dass Reacher sein Feind ist.«
Webster wandte sich ab. Wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Fernsehschirmen zu.
Borken steckte das Funkgerät wieder in die Tasche seiner schwarzen Uniform. Trommelte mit den Fingern auf die Richterbank. Sah die Leute an, deren Blicke ihm zugewandt waren.
»Eine Kamera reicht«, sagte er.
»Aber sicher«, nickte Milosevic. »Eine ist ebenso gut wie zwei.«
»Wir können jetzt keine Störung brauchen«, erklärte Borken. »Und deshalb sollten wir Reacher erledigen, ehe wir etwas anderes unternehmen.«
Milosevic blickte nervös in die Runde.
»Sehen Sie mich nicht an«, sagte er. »Ich bleibe hier drinnen. Ich will bloß mein Geld.«
Borken sah ihn an. Dachte immer noch nach.
»Wissen Sie, wie man einen Tiger fängt?«, fragte er. »Oder einen Leoparden oder so etwas Ähnliches? Draußen im Dschungel?«
»Wie?«, fragte Milosevic.
»Man bindet eine Ziege an einen Pflock«, sagte Borken. »Und lauert ihm auf.«
»Wie?«, fragte Milosevic noch einmal.
»Reacher war bereit, McGrath zu befreien, stimmt’s?«, sagte Borken. »Also ist er vielleicht auch bereit, Ihren Kumpel Brogan zu befreien.«
General Garber hörte, dass sich etwas tat, und riskierte es, ein paar Meter weiter vorzurücken. Als er einen Punkt erreicht hatte, wo die Bäume weniger dicht standen, kauerte er sich nieder. Rutschte ein Stück nach links, um besser sehen zu können. Das Gerichtsgebäude lag unmittelbar vor ihm auf der kleinen Anhöhe. Die Südwand war ihm zugewandt, aber er konnte auch ein Stück der Vorderseite sehen, den Haupteingang. Er sah, wie ein Anzahl Männer herauskam. Sechs Männer. Zwei ganz vorn, sichernd, die Gewehre schussbereit. Die anderen vier trugen jemand an Armen und Beinen mit dem Gesicht nach unten. Sie hielten ihn an den Hand-und Fußgelenken. Es war ein Mann. Garber erkannte das an der Stimme. Er bäumte sich auf, schlug um sich und schrie. Es war Brogan.
Garber wurde kalt. Er wusste, was man mit Jackson gemacht hatte. McGrath hatte es ihm gesagt. Er hob sein Gewehr. Zielte auf einen der beiden Männer an der Spitze. Ließ die Waffe mit dem Mann wandern, als der sich von links nach rechts bewegte. Dann wanderte sein Blick über die anderen fünf. Er dachte an die Postenreihe hinter ihm, verzog das Gesicht und ließ das Gewehr sinken. Aussichtslos. Er hatte eine feste Regel: Das zu Ende bringen, was man angefangen hat. Er hatte diese Regel vierzig Jahre lang wie ein Evangelium gepredigt. Und die Aufgabe, die er angefangen hatte, hieß, Holly Johnson hier lebend herauszuholen. Er kroch geduckt in den Wald zurück.
Die Crew der Chinook war aus ihrer zerstörten Maschine geklettert und durch den Wald gestolpert. Sie hatten geglaubt, sich in südlicher Richtung zu bewegen, waren aber so desorientiert, dass sie in Wirklichkeit nach Norden gegangen waren. Sie hatten die Postenreihe passiert, ohne etwas davon zu ahnen, und waren auf einen Dreisternegeneral gestoßen, der am Fuße einer Kiefer saß. Der General hatte sie zu sich heruntergeholt und sie aufgefordert, sich zu verstecken. Die beiden Männer glaubten einen bösen Traum zu erleben und hofften, daraus bald zu erwachen. Sie sagten nichts, als das Geschrei hinter den halb zerfallenen Überresten des Bezirksbüros schließlich leiser wurde.
Reacher und McGrath hörten es Minuten später. Zuerst ganz schwach, tief im Wald zu ihrer Linken. Dann wurde es lauter. Sie schoben sich nebeneinander zu einer Lücke zwischen den Hütten, wo sie quer über die Bastion zur Mündung des Weges sehen konnten. Sie waren tief genug im Wald, um Deckung zu haben, weit genug vorne, um beobachten zu können.
Sie sahen, wie die beiden Männer an der Spitze der kleinen Gruppe ins helle Sonnenlicht hinaus traten. Dann vier weitere Männer, die sich im Gleichschritt bewegten, die Gewehre über der Schulter, nach außen gebeugt, die Arme ausgestreckt und damit etwas Schweres ausbalancierend, das sie trugen. Etwas, das um sich schlug und schrie.
»Herrgott«, flüsterte McGrath. »Das ist Brogan.«
Reacher starrte ein paar Augenblicke unbewegt hinüber. Blieb stumm. Dann nickte er.
»Ich hatte mich getäuscht«, sagte er. »Milosevic ist der Verräter.«
McGrath betätigte den Abzug der Glock, um sie zu entsichern.
»Warten Sie«, flüsterte Reacher.
Er trat ein Stück nach rechts und bedeutete McGrath, dass er ihm folgen solle. Sie blieben im Schutz der Bäume und bewegten sich parallel zu den sechs Männern und Brogan an der Lichtung entlang. Die Männer gingen langsam über das Geröll, und Brogans Schreie wurden lauter. Sie zogen an den Leichen und den Zeltpflöcken und den abgeschnittenen Seilen vorbei.
»Sie gehen zur Strafhütte«, flüsterte Reacher.
Dann verloren sie sie aus den Augen, als die Bäume den Blick auf den Weg zur nächsten Lichtung versperrten. Aber die Schreie konnten sie immer noch hören. Es klang so, als ob Brogan genau wüsste, was mit ihm passieren würde. McGrath erinnerte sich daran, wie er über Funk Borkens Teil des Gesprächs weitergegeben hatte. Reacher erinnerte sich daran, wie er Jacksons verstümmelte Leiche begraben hatte.
Sie riskierten es, sich ein wenig näher zur nächsten Lichtung zu bewegen. Sahen, wie die sechs Männer auf die fensterlose Hütte zugingen und an der Tür stehen blieben. Die beiden Männer an der Spitze drehten sich um und sicherten das Gelände mit ihren Gewehren. Der Mann, der Brogans rechtes Handgelenk gepackt hielt, fummelte mit der anderen Hand den Schlüssel aus der Tasche. Brogan schrie um Hilfe. Er schrie um Gnade. Der Mann sperrte die Tür auf. Öffnete sie weit. Erstarrte überrascht auf der Schwelle und stieß einen Schrei aus.
Joseph Ray kam heraus. Immer noch nackt, die Kleider zusammengeknüllt unter dem Arm. Verkrustetes Blut wie eine Maske über das ganze Gesicht verteilt. Er hastete, immer wieder stolpernd, barfuß über das Schiefergestein. Die sechs Männer sahen ihm nach.
»Wer zum Teufel ist das denn?«, flüsterte McGrath.
»Bloß irgend so ein Arschloch«, antwortete Reacher ebenfalls im Flüsterton.
Die Männer ließen Brogan auf den Boden fallen, und dann zog ihn einer am Kragen in die Höhe. Er blickte aus angstgeweiteten Augen in die Runde und schrie. Reacher sah sein weißes, von Angst und Schrecken gezeichnetes Gesicht, sah seinen offenstehenden Mund. Die sechs Männer stießen ihn in die Hütte, drängten sich nach ihm durch die Tür und knallten sie hinter sich zu. McGrath und Reacher schoben sich näher heran. Sie hörten Schreie und das Krachen eines Körpers, der gegen die Wand geschleudert wurde. Diese Geräusche dauerten ein paar Minuten an. Dann wurde es still. Die Tür öffnete sich. Die sechs Männer kamen der Reihe nach heraus, grinsten und wischten sich die Hände ab. Der Letzte machte noch einmal kehrt, rannte in die Hütte, um seinem Opfer einen letzten Tritt zu versetzen. Reacher hörte den Tritt landen und dann Brogan schreien. Dann sperrte der Mann die Tür ab und rannte hinter den anderen her. Ihre Schritte knirschten auf den Steinen, und dann waren sie verschwunden. Schweigen legte sich über die Lichtung.
Holly hinkte über den erhöhten Boden zur Tür. Presste das Ohr dagegen und lauschte. Alles still. Kein Laut zu hören. Sie humpelte zu ihrer Matratze zurück und holte dort die zweite Drillichhose, die man ihr gegeben hatte. Trennte die Säume mit den Zähnen auf. Riss den Stoff auseinander, bis sie das vordere Teil eines der Hosenbeine abgetrennt hatte. Damit hatte sie jetzt ein Stück Stoff, das vielleicht fünfundsiebzig Zentimeter lang und zwanzig Zentimeter breit war. Sie ging damit ins Bad und füllte das Waschbecken mit heißem Wasser. Tränkte den Stoffstreifen damit. Dann zog sie die Hose aus, drückte den nassen Stoffstreifen aus und band ihn sich, so fest sie konnte, um das Knie. Verknotete den Stoff und schlüpfte wieder in die Hose. Sie ging davon aus, dass das heiße, nasse Stück Stoff beim Trocknen etwas einschrumpfen würde. Das sollte ihr helfen, ihr Problem zu lösen. Das Kniegelenk abzubinden und unbeweglich zu machen war die einzige Möglichkeit, den Schmerz zu unterdrücken.
Dann tat sie das, was sie vorher eingeübt hatte. Sie zog den Gummipfropfen vom Unterteil ihrer Krücke. Schlug mit dem blanken Metall auf die Kacheln in der Dusche ein. Die Kacheln zersplitterten. Sie drehte die Krücke um und benutzte das Ende der gebogenen Ellbogenstütze, um die Fliesenfragmente von der Wand abzustemmen. Sie wählte zwei davon aus. Jedes war ungefähr dreieckig, unten schmal und spitz. Sie benutzte die Ellbogenstütze, um an der Spitze der Fliesenstücke den Mörtel abzukratzen. Die glasige weiße Spitze blieb dabei intakt wie eine Messerklinge.
Sie steckte ihre improvisierten Waffen in zwei Taschen. Zog den Duschvorhang vor, damit man den Schaden nicht sehen konnte, den sie angerichtet hatte. Steckte den Gummipfropfen wieder auf die Krücke. Humpelte zu ihrer Matratze zurück, setzte sich darauf und wartete.
Das Problem, wenn nur eine Kamera eingesetzt war, lag darin, dass sie auf einen ziemlich weiten Winkel eingestellt sein musste. Anders konnte man das ganze Gelände nicht erfassen. Einzelne Gegenstände waren deshalb auf dem Bildschirm recht klein. Die Gruppe von Männern mit ihrer Last war daher nur wie ein großes Insekt, das quer über die Bildschirmfläche kroch.
»War das Brogan?«, fragte Webster.
Der Adjutant ließ das Band zurücklaufen und sah es sich noch einmal an.
»Sie tragen ihn mit dem Gesicht nach unten«, sagte er. »Schwer festzustellen.«
Er hielt das Band an und vergrößerte das Bild digital. Bugsierte den an Hand- und Fußgelenken getragenen Mann mit Hilfe seines Joysticks in die Mitte des Bildschirms. Vergrößerte, bis die Konturen undeutlich wurden.
»Schwer zu sagen«, sagte er dann erneut. »Aber einer von ihnen ist es, so viel steht fest.«
»Ich denke, es war Brogan«, meinte Webster.
Johnson sah scharf hin. Legte Daumen und Zeigefinger an den Bildschirm, um die Größe des Mannes vom Kopf bis zu den Zehen abzuschätzen.
»Wie groß ist er?«, fragte er.
»Wie groß ist er?«, fragte Reacher plötzlich.
»Was?«, staunte McGrath.
Reacher stand hinter McGrath im Schutz der Bäume und starrte zu der Strafhütte hinüber. Sein Blick war auf die vordere Wand gerichtet. Die Wand war vielleicht dreieinhalb Meter lang und zweieinhalb Meter hoch. Auf der linken Seite war eine etwa sechzig Zentimeter breite Sperrholzplatte, dann die Tür, vielleicht fünfundsiebzig Zentimeter breit, mit den Angeln auf der rechten und dem Türgriff auf der linken Seite. Dann eine Sperrholzplatte, die vielleicht zwei Meter zwanzig breit war und bis ans Ende der Hütte reichte.
»Wie groß ist er?«, wiederholte Reacher seine Frage.
»Herrgott, ist das wichtig?«, fragte McGrath.
»Ich glaube schon«, nickte Reacher.
McGrath drehte sich um und starrte ihn an.
»Ich würde sagen, einen Meter zweiundsiebzig, vielleicht auch fünfundsiebzig«, sagte er. »Nicht besonders groß.«
Die Außenverkleidung bestand aus waagrecht auf das Gerüst genagelten Riegeln. Etwa auf halber Höhe war ein Spalt zu sehen. Für den Boden hatte man wahrscheinlich Zweizentimeterbretter auf Trägern verwendet. Deshalb war der Boden gut zehn Zentimeter über dem Unterteil der Außenverkleidung. Etwa vier Zentimeter unter der unteren Türkante.
»Ziemlich magerer Bursche, was?«, meinte Reacher.
McGrath starrte ihn immer noch verständnislos an.
»Höchstens Jackettgröße achtundvierzig, schätze ich«, sagte er.
Reacher nickte. Die Wände bestanden wahrscheinlich aus innen und außen mit Sperrholz verkleideten Zehnzentimeterriegeln. Gesamtdicke vierzehn Zentimeter, möglicherweise auch weniger, wenn die Innenverkleidung dünner war. Die Innenseite der Hinterwand musste deshalb circa zwölf Zentimeter von der Ecke entfernt sein und der Boden zwölf Zentimeter über der Erde.
»Rechtshänder oder Linkshänder?«, fragte Reacher.
»Was soll das?«, zischte McGrath.
»Geben Sie mir Antwort«, insistierte Reacher.
»Rechtshänder«, meinte McGrath. »Da bin ich mir ziemlich sicher.«
Von der äußeren Ecke der Hütte bis zur linken Türkante betrug die Entfernung nur sechzig Zentimeter. Sechzig Zentimeter weniger zwölf Zentimeter für die Wanddicke machte achtundvierzig Zentimeter. Vermutlich war in der Mitte dieser Fläche ein Zehnzentimeterriegel angebracht. Es sei denn, sie hatten mit Material gespart, was aber kein Problem bedeutete. Und die Wand war vermutlich mit Steinwolle ausgefüllt, die als Wärmeisolierung diente.
»Treten Sie zur Seite«, flüsterte Reacher.
»Warum?«, wollte McGrath wissen.
»Tun Sie einfach, was ich sage«, erwiderte Reacher.
McGrath machte Platz. Reacher fixierte einen Punkt, der fünfundzwanzig Zentimeter von der äußeren Hüttenkante entfernt und etwa eineinhalb Meter über dem Boden lag. Ließ sich ein wenig nach links abkippen und stützte die Schulter an einen Baum. Hob seine M-16 und zielte damit.
»Was zum Teufel soll das werden?«, zischte McGrath.
Reacher gab keine Antwort. Er wartete bloß seinen nächsten Herzschlag ab und feuerte. Der Schuss krachte, und die Kugel bohrte sich hundert Meter entfernt durch die Sperrholzplatte. Fünfundzwanzig Zentimeter von der Außenkante entfernt und einen Meter fünfzig über dem Boden.
»Was zum Teufel soll das?«, zischte McGrath noch einmal.
Reacher packte ihn bloß am Arm und zerrte ihn in den Schutz der Bäume. Zerrte ihn ein Stück nach Norden und wartete. Dann geschahen zwei Dinge. Die sechs Männer kamen wieder auf die Lichtung geschossen. Und die Tür der Strafhütte ging auf. Brogan stand in der Tür. Sein rechter Arm hing schlaff herunter. Seine rechte Schulter war zerschmettert, und das Blut schoss aus der Wunde. In der rechten Hand hielt er seine Dienstwaffe, eine .38er. Sein Finger lag am Abzug.
Reacher stellte den Wählhebel seiner M-16 um und gab drei Feuerstöße von je drei Schuss in den Boden, quer über die Lichtung, ab. Die sechs Männer duckten sich zur Seite, als ob sie plötzlich vor einer unsichtbaren Schranke oder vor einem jähen Abgrund stünden. Sie rannten in den Wald zurück. Brogan trat aus der Hütte. Stand in der Sonne da und versuchte seinen Revolver zu heben. Doch sein Arm versagte ihm den Dienst, hing hilflos herunter.
»Lockvogel«, sagte Reacher. »Die hatten gedacht, ich würde versuchen, ihn herauszuholen. Er hat mit dem Revolver in der Hand hinter der Tür gewartet. Ich wusste, dass er der Verräter ist. Aber einen Augenblick lang hatten sie mich verunsichert.«
McGrath nickte langsam. Starrte auf die Dienstwaffe, die Brogan in der Hand hielt. Erinnerte sich daran, dass man die seine konfisziert hatte. Er hob die Glock, stützte sein Handgelenk an einem Baum ab. Zielte.
»Vergessen Sie’s«, sagte Reacher.
McGrath schüttelte den Kopf, ohne den Blick von Brogan zu wenden.
»Ich werde es nicht vergessen«, sagte er leise. »Der Dreckskerl hat Holly verraten.«
»Ich hatte gemeint, dass Sie die Glock vergessen sollen«, sagte Reacher. »Das hier sind hundert Meter. Die Glock schafft das nicht annähernd. Sie könnten von Glück reden, wenn Sie von hier die verdammte Hütte damit treffen.«
McGrath ließ die Glock sinken und Reacher reichte ihm die M-16. Sah interessiert zu, wie McGrath zielte.
»Wo?«, fragte Reacher.
»Brust«, antwortete McGrath.
Reacher nickte.
»Brust ist gut«, sagte er.
McGrath stützte sich auf und feuerte. Er war gut, aber nicht wirklich gut. Die Waffe war immer noch umgeschaltet und gab drei Schuss ab. Der erste traf Brogan links oben an der Stirn, die beiden anderen gingen höher und fetzten Fragmente vom Türstock ab. Gut, aber nicht sehr gut. Aber gut genug, um den Zweck zu erfüllen. Brogan ging zu Boden wie eine Marionette, deren Fäden man abgeschnitten hat. Er sackte einfach zu Boden, unmittelbar vor der Tür. Reacher nahm McGrath die M-16 wieder weg und gab Dauerfeuer auf die Bäume am Rande der Lichtung, bis das Magazin leer geschossen war. Lud nach und reichte McGrath die Glock zurück. Bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, dass sie nach Osten durch den Wald wollten. Sie drehten sich zusammen um und wären beinahe mit Joseph Ray zusammengestoßen. Er war unbewaffnet und nur halb bekleidet. Das Blut war auf seinem Gesicht wie braune Farbe getrocknet. Er fummelte an seinen Hemdknöpfen herum. Sie steckten alle in den falschen Knopflöchern.
»Frauen und Kinder werden sterben«, sagte er.
»Sie haben alle eine Stunde, Joe«, erklärte ihm Reacher. »Sagen Sie es den anderen. Wer am Leben bleiben will, sollte in den Hügeln Schutz suchen.«
Aber der Mann schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Wir sollen auf dem Exerzierplatz antreten. Das sind unsere Befehle. Wir müssen dort auf Beau warten.«
»Beau wird nicht kommen«, sagte Reacher.
Ray schüttelte erneut den Kopf.
»Doch«, sagte er. »Sie werden Beau nicht schlagen, wer auch immer Sie sind. Das geht nicht. Wir müssen auf ihn warten. Er wird uns sagen, was wir tun sollen.«
»Verschwinden Sie, Joe«, sagte Reacher. »Um Himmels willen, schaffen Sie Ihre Kinder hier raus!«
»Beau sagt, dass sie bleiben müssen«, widersprach Ray. »Entweder um die Früchte des Sieges zu genießen oder um die Folgen der Niederlage zu erdulden.«
Reacher starrte ihn verständnislos an. Rays Augen leuchteten unnatürlich. Jetzt blitzten seine Zähne in einem kurzen, trotzigen Lächeln auf. Er zog den Kopf etwas ein und rannte weg.
»Frauen und Kinder werden sterben?«, wiederholte McGrath.
»Das ist Borkens Propaganda«, sagte Reacher. »Er hat sie alle davon überzeugt, dass erzwungener Selbstmord die Strafe dafür ist, hier besiegt zu werden.«
»Und die lassen sich das gefallen?«, fragte McGrath.
»Er hat sie völlig unter Kontrolle«, erklärte Reacher. »Es ist schlimmer, als Sie sich vorstellen können.«
»Ich bin nicht daran interessiert, sie zu besiegen«, sagte McGrath. »Im Augenblick will ich bloß Holly herausholen.«
»Das ist dasselbe«, sagte Reacher.
Sie gingen stumm weiter, arbeiteten sich zwischen den Bäumen in Richtung auf die Bastion durch.
»Woher haben Sie es gewusst?«, fragte McGrath. »Das mit Brogan?«
Reacher zuckte die Schultern.
»Ich habe es einfach gespürt«, sagte er. »Wahrscheinlich war es sein Gesicht. Die schlagen die Leute gern ins Gesicht. Das haben sie mit Ihnen gemacht. Aber Brogan zeigte keinerlei Spuren. Ich sah sein Gesicht, und da war kein Blut. Irgendwie kam mir das nicht richtig vor. Die Aufregung des Überfalls, die ganze Anspannung – sie hätten ihn mit Sicherheit ein wenig in die Mangel genommen. So wie sie das mit Ihnen gemacht haben. Aber er war ihr Mann, also haben sie ihm nichts getan.«
McGrath nickte. Griff sich mit der Hand an die Nase, betastete sie.
»Aber wenn Sie jetzt Unrecht gehabt hätten?«, sagte er.
»Dann hätte das auch nichts ausgemacht«, sagte Reacher. »Wenn ich mich getäuscht hätte, dann hätte er nicht hinter der Tür gestanden. Er wäre dann auf dem Boden gelegen, mit einer ganzen Anzahl gebrochener Rippen, weil dann der ganze Lärm echt gewesen wäre.«
McGrath nickte wieder.
»Und das laute Geschrei«, sagte Reacher. »Die haben ja die reinste Parade hingelegt, ganz langsam, und der Mann hat sich die Lunge aus dem Leib geschrien. Die wollten mich auf sich aufmerksam machen.«
»Darauf verstehen sie sich«, sagte McGrath. »Webster ist darüber beunruhigt. Er begreift nicht, weshalb Borken anscheinend so erpicht darauf ist, auf sich aufmerksam zu machen, und diese ganze Sache viel mehr aufzubauschen, als es eigentlich notwendig ist.«
Sie waren im Wald. Auf halbem Weg zwischen der kleinen Lichtung und der Bastion. Reacher blieb stehen. Als ob ihm jemand einen Schlag in die Magengrube versetzt hätte. Er griff sich mit beiden Händen an den Mund. Und dann stand er stumm und atemlos da, als ob irgendetwas die ganze Luft von dem Planeten weg gesaugt hätte.
»Herrgott, jetzt weiß ich, warum«, sagte er. »Das ist alles ein Köder.«
»Was?«, fragte McGrath.
»Ich habe plötzlich ein ungutes Gefühl«, sagte Reacher.
»Weswegen?«, fragte McGrath eindringlich.
»Borken«, sagte Reacher. »Irgendetwas stimmt da nicht zusammen. Seine Absichten. Den ersten Schlag führen. Aber wo ist Stevie? Wissen Sie was? Ich glaube, es gibt zwei erste Schläge, McGrath. Diese Geschichte hier und dann noch etwas anderes, irgendwo anders. Ein Überraschungsangriff. Wie Pearl Harbor, wie seine verdammten Kriegsbücher. Deshalb hat er alles so aufgeplustert. Holly, die Selbstmordgeschichte. Er möchte, dass sich die ganze Aufmerksamkeit auf hier konzentriert.«