21

Der weiße Econoline rollte eintönig brummend über den Highway. Er war jetzt schneller geworden, aber das lag daran, dass die Kurven hinter ihm lagen. Die letzte Kehre hatte er mit leichtem Schlittern hinter sich gebracht und rollte jetzt schnell und gleichmäßig dahin. Lauter als zuvor, wegen der höheren Geschwindigkeit und weil der Wind durch die hundert unregelmäßig über das Dach verteilten Löcher pfiff.

Reacher und Holly lagen dicht nebeneinander auf der drei Fuß breiten Matratze. Sie lagen beide auf dem Rücken und starrten zu den Löchern empor. Jedes Loch war ein heller Lichtpunkt. Nicht blau, einfach bloß ein Lichtpunkt, der so hell war, dass er überhaupt keine Farbe hatte. Einfach nur ein heller Punkt im Dunkeln. Wie eine mathematische Abstraktion. Totales Licht vor der totalen Dunkelheit der Blechfläche, die es abschottete. Licht, das Gegenteil von Dunkelheit. Dunkelheit, die Abwesenheit jeglichen Lichts. Positiv und negativ. Abstrakte Kontraste dort oben in dem Metalldach.

»Ich möchte den Himmel sehen«, sagte Holly.

In dem Lieferwagen war es warm. Nicht heiß wie an den ersten eineinhalb Tagen. Das Problem hatte der durch die Löcher eindringende Fahrtwind gelöst. Jetzt herrschte in dem Laderaum ein einigermaßen angenehmes Klima. Aber es war immerhin so warm, dass Reacher sein Hemd ausgezogen hatte. Er hatte es zusammengeknüllt und sich unter den Kopf gestopft.

»Ich möchte den ganzen Himmel sehen«, sagte Holly. »Nicht bloß kleine Stücke davon.«

Reacher gab keine Antwort darauf. Er zählte die Löcher.

»Wie spät ist es?«, fragte ihn Holly.

»Hundertunddreizehn«, sagte Reacher.

Holly drehte den Kopf zu ihm hinüber.

»Was?«, fragte sie.

»Hundertunddreizehn Löcher im Dach«, sagte er.

»Na großartig. Wie spät ist es?«

»Halb vier, Chicagoer Zeit«, sagte er.

Sie kuschelte sich enger an ihn. Verlegte ihr Gewicht auf die Seite. Ihr Kopf ruhte auf seiner rechten Schulter. Ihr Bein lag auf dem seinen. Sein Schenkel war zwischen die ihren eingezwängt.

»Mittwoch, stimmt’s?«, sagte sie.

»Mittwoch«, antwortete er.

Sie war ihm physisch näher als viele andere Frauen das zugelassen hätten. Sie fühlte sich geschmeidig und muskulös an. Fest, aber weich. Jung. Duftend. Er ließ sich treiben, genoss das Gefühl und geriet ein wenig außer Atem. Aber er machte sich über ihre Beweggründe nichts vor. Sie war ganz gelockert, aber sie tat das, um ihr schmerzendes Knie auszuruhen und um zu verhindern, dass sie von der Matratze auf den Boden des Laderaums herunter rollte.

»Einundfünfzig Stunden«, sagte sie. »Einundfünfzig Stunden, in denen ich den Himmel nicht gesehen habe.«

Hundertdreizehn war eine Primzahl. Man konnte sie nicht als Resultat der Multiplikation irgendwelcher anderen Zahlen bekommen. Hundertzwölf bekam man, wenn man sechsundfünfzig mit zwei multiplizierte, oder achtundzwanzig mit vier, oder vierzehn mit acht. Hundertvierzehn bekam man, wenn man siebenundfünfzig mit zwei multiplizierte, oder neunzehn mit sechs, oder achtunddreißig mit drei. Aber hundertdreizehn war eine Primzahl. Keine Faktoren. Man kam nur auf hundertdreizehn, indem man hundertdreizehn mit eins multiplizierte. Oder indem man wütend eine Schrotflinte auf das Dach eines Lieferwagens abfeuerte.

»Reacher, ich fange an, mir Sorgen zu machen«, sagte Holly.

Einundfünfzig Stunden. Einundfünfzig war keine Primzahl. Einundfünfzig bekam man, wenn man siebzehn mit drei multiplizierte. Drei mal zehn gibt dreißig, drei mal sieben gibt einundzwanzig, dreißig und einundzwanzig ergeben einundfünfzig. Keine Primzahl. Einundfünfzig hatte Faktoren. Er zog die schwere Kette mit dem linken Handgelenk hoch und hielt Holly umschlungen, beide Arme um sie gelegt.

»Es wird schon alles gut«, sagte er zu ihr. »Die werden Ihnen nichts zu Leide tun. Die wollen Sie gegen irgendetwas eintauschen und werden dafür sorgen, dass Sie gesund und fit bleiben.«

Er spürte, wie sie den Kopf an seiner Schulter schüttelte. Nur ein kleines Schütteln, aber ganz deutlich.

»Um mich mache ich mir keine Sorgen«, sagte sie. »Ich mache mir Sorgen um Sie. Wer zum Teufel wird Sie gegen etwas eintauschen?«

Er antwortete nicht. Es gab nichts, was er darauf sagen konnte. Sie kuschelte sich enger an ihn. Er konnte ihre Wimpern an seiner Brust spüren, als sie die Augen öffnete und schloss. Der Lieferwagen brauste weiter, schneller, als gut für ihn war. Er konnte spüren, wie der Fahrer ihn über seine natürliche Reisegeschwindigkeit hinaus beanspruchte.

»Und deshalb fange ich an, ein wenig unruhig zu werden«, sagte sie.

»Sie passen auf mich auf«, sagte er. »Und ich werde auf Sie aufpassen.«

»Das verlange ich nicht von Ihnen«, sagte sie.

»Das weiß ich schon.«

»Nun, ich kann nicht zulassen, dass Sie das tun«, sagte sie.

»Sie können mich nicht daran hindern«, erwiderte er. »Das alles betrifft jetzt auch mich. Diese Kerle haben daran Schuld. Die wollten mich abknallen. Ich habe da ein festes Prinzip, Holly: Leute, die sich mit mir anlegen, tun das auf eigenes Risiko. Ich bemühe mich, in dem Punkt sehr geduldig zu sein. Ich hatte einmal eine Lehrerin, irgendwo auf der Volksschule. Es war wohl auf den Philippinen, denke ich, weil sie immer einen großen weißen Hut trug. Also war es irgendwo, wo es heiß ist. Ich war immer doppelt so groß wie die anderen Kinder, und sie hat immer zu mir gesagt: ›Zähl bis zehn, ehe du böse wirst, Reacher.‹ Und diesmal habe ich ein gutes Stück über zehn hinaus gezählt. Ein gutes Stück. Und deshalb sollten Sie sich damit abfinden, ob es Ihnen nun passt oder nicht. Wir machen das gemeinsam.«

Sie verstummten beide. Der Lieferwagen rollte weiter.

»Reacher?«, sagte Holly.

»Was ist?«

»Halten Sie mich«, sagte sie.

»Ich halte Sie ja«, sagte er.

Er drückte sie sanft, mit beiden Armen, um es ihr zu beweisen. Sie schmiegte sich enger an ihn.

»Reacher?«, sagte sie dann.

»Ja?«

»Wollen Sie mich wieder küssen?«, fragte sie. »Dann fühle ich mich besser.«

Er drehte den Kopf herum und lächelte sie in der Dunkelheit an.

»Mir schadet es auch nicht«, sagte er.

 

Acht Stunden bei vielleicht fünfundsechzig oder siebzig Meilen die Stunde. Irgendwo zwischen fünfhundert und fünfhundertfünfzig Meilen. Das war die Strecke, die sie zurückgelegt hatten, schätzte Reacher. Und allmählich lieferte ihm das einen Hinweis darauf, wo sie sich befanden.

»Wir sind irgendwo, wo sie die Höchstgeschwindigkeit abgeschafft haben«, sagte er.

Holly regte sich und gähnte.

»Was?«

»Wir sind schnell gefahren«, sagte er. »Bis zu siebzig Meilen die Stunde, und das wahrscheinlich stundenlang. Loder ist ziemlich gründlich. Er würde Stevie nicht so schnell fahren lassen, wenn die Gefahr bestünde, dass sie deswegen angehalten werden. Also sind wir irgendwo, wo die Geschwindigkeitsbegrenzung angehoben oder sogar ganz abgeschafft worden ist. In welchen Staaten war das denn?«

Sie zuckte die Schultern.

»Genau weiß ich es nicht«, sagte sie. »Hauptsächlich die Staaten im Westen, denke ich.«

Reacher nickte und zog einen Kreisbogen auf der Landkarte, die vor seinem inneren Auge aufgeschlagen war.

»Wir sind nicht in östliche Richtung gefahren«, sagte er. »Das haben wir bereits festgestellt. Also nehme ich an, dass wir in Texas, New Mexico, Colorado, Wyoming oder Montana sind. Vielleicht sogar weiter, in Idaho, Utah, Nevada oder Arizona. Aber noch nicht in Kalifornien.«

Der Lieferwagen wurde etwas langsamer, und sie hörten, wie das Motorengeräusch angestrengter klang. Dann hörten sie es knirschen, als der Fahrer aus dem fünften in den vierten Gang schaltete.

»Berge«, sagte Holly.

Es war mehr als ein Hügel. Mehr als eine kurze Steigung. Es war eine stetige Bergstrecke. Eine Straße durch die Berge. Mit jeder Meile, die sie fuhren, legten sie an Höhe zu. Reacher spürte das Schwanken, wenn der Lieferwagen seine Fahrspur verließ, um langsamere Fahrzeuge zu überholen. Nicht viele, aber ein paar. Er blieb im vierten Gang, der Mann hatte den Fuß fest auf dem Gaspedal, dröhnte bergauf, und dann lockerte er den Fuß, schaltete in den fünften hinauf und dann wieder hinunter, brauste erneut aufwärts.

»Uns könnte das Benzin ausgehen«, sagte Holly.

»Der fährt Diesel, nicht mit Benzin«, sagte Reacher. »Wir haben diese Dinger beim Militär benutzt. Fünfunddreißig Gallonen im Tank. Mit Diesel schafft man auf dem Highway vielleicht fünfundzwanzig Meilen pro Gallone. Sie haben also an die neunhundert Meilen Reichweite.«

»Damit könnten wir die Staaten verlassen«, sagte sie.

 

Sie rollten weiter. Der Lieferwagen brauste stundenlang durch die Berge und verließ dann den Highway. Die Nacht hatte sich über sie gesenkt. Die hellen Löcher im Dach waren dunkler geworden. Dann waren sie ganz verschwunden. Sie waren dunkler geworden als das Dach selbst. Positiv und negativ. Sie verspürten den Ruck, als der Lieferwagen den Highway nach rechts verließ, und spürten, wie die Reifen sich im Asphalt festkrallten, als der Lieferwagen eine scharfe Rechtskurve beschrieb. Dann gab es eine verwirrende Folge von Abbiegemanövern, Anhalten und Wiederanfahren. Holprige Bergabkurven und enge Bergaufkehren mit mahlendem Getriebe in den unteren Gängen. Dann wieder eine Weile gemächliches Dahinrollen auf leicht gewundenen Gefällestrecken, schlechte Straßenoberflächen, gute Straßenoberflächen, Neigungen, Kies unter den Rädern, Schlaglöcher. Reacher konnte sich vorstellen, wie die Scheinwerferbalken nach links und rechts zuckten und auf und ab wippten.

Der Lieferwagen war jetzt ganz langsam geworden, beinahe zum Stehen gekommen. Bog um eine enge Kehre nach rechts. Polterte über eine hölzerne Brücke. Dann schwankte und rumpelte er über eine von zahlreichen Schlaglöchern verunstaltete Spur. Er bewegte sich langsam, schwankte hin und her. Es fühlte sich an, als würden sie in einem ausgetrockneten Flussbett fahren. Ein steiniger, schmaler Weg. Es fühlte sich an, als ob dies die allerletzte Etappe ihrer Reise wäre. Es fühlte sich an, als wären sie ihrem Zielort sehr nahe. Der Eindruck, dass der Fahrer es eilig hatte, war plötzlich verschwunden. Es fühlte sich an, als ob sie beinahe zu Hause wären.

Aber die letzte Etappe nahm lange Zeit in Anspruch. Ihre Geschwindigkeit war niedrig, und die Straße war schlecht. Steine und kleine Felsbrocken spritzten unter den Reifen weg, die sich seitlich über die lockere Fläche darunterquetschten. Vierzig Minuten lang mahlte der Lieferwagen so dahin. Fünfzig Minuten. Reacher fing an zu frieren. Er setzte sich auf, nahm sein Hemd und schüttelte es aus. Zog es an. Eine Stunde auf dieser Holperstrecke. Bei dieser Geschwindigkeit waren das vielleicht fünfzehn Meilen, vielleicht auch zwanzig.

Dann waren sie da. Der Lieferwagen überwand schwankend eine letzte Bodenunebenheit, rollte noch ein paar Meter auf gerader Fläche und hielt dann an. Das Motorengeräusch verstummte. An seine Stelle trat eine bedrückende Stille. Reacher konnte überhaupt nichts hören, nur eine gewaltige Leere und das Ticken des abkühlenden Auspuffs. Die zwei Männer vorn schienen stumm und erschöpft dazusitzen. Dann stiegen sie aus. Er hörte, wie ihre Türen aufgingen und wie die Federung ihrer Sitze knarrte. Er hörte ihre Füße auf Kiesboden. Ihre Türen knallten zu, ein gewaltiger metallischer Knall in der Stille, und gleich darauf noch einer. Er hörte sie mit mahlenden Schritten nach hinten kommen. Er hörte die Schlüssel, die in der Hand des Fahrers baumelten.

Der Schlüssel glitt ins Schloss. Das Schloss öffnete sich mit einem Klicken. Der Handgriff drehte sich. Die Tür schwang auf. Loder stemmte die Haltestange dagegen. Dann öffnete er die andere Tür. Sicherte auch die. Bedeutete ihnen, mit seiner Glock gestikulierend, dass sie aussteigen sollten. Reacher war Holly behilflich. Er stieg heraus. Die Kette an seinem Handgelenk klirrte zu Boden. Dann hob er auch Holly herunter. Sie standen nebeneinander, an den Rand des Laderaums des Lieferwagens gelehnt. Sahen sich um.

Holly hatte den Himmel sehen wollen. Und jetzt stand sie unter dem riesigsten Himmel, den Reacher je erblickt hatte. Er war von einem dunklen, tintigen Blau, fast schwarz, und er war riesengroß. Erstreckte sich in unendliche Höhen. Er war so groß wie ein Planet. Er war mit hundert Milliarden leuchtender Sterne betupft. Sie waren weit entfernt, aber unnatürlich klar. Sie reichten wie Staub tief in die kalten Urgründe des Universums. Es war ein gigantischer Nachthimmel, der sich in alle Ewigkeit erstreckte.

Sie befanden sich auf einer Waldlichtung. Reacher konnte den kräftigen Duft von Fichten riechen. Es war ein starker Geruch. Sauber und frisch. Rings um sie war eine schwarze Masse von Bäumen. Sie bedeckten die zackigen Hänge der Berge. Sie befanden sich auf einer Waldlichtung, umgeben von bewaldeten Berghängen. Es war eine große Lichtung, unendlich dunkel und lautlos still. Reacher konnte die verschwommenen schwarzen Umrisse von Gebäuden ein wenig rechts von ihnen erkennen. Lange, niedrige Hütten. Irgendwelche Holzbauten, die sich in die Dunkelheit duckten.

Da waren Leute am Rande der Lichtung. Sie standen dort zwischen den Bäumen. Reacher konnte ihre vagen Umrisse sehen. Vielleicht fünfzig oder sechzig Leute. Sie standen einfach da, ganz stumm. Alle trugen dunkle Kleidung. Alle hatten dunkle Gesichter. Ihre Gesichter waren mit Nachttarnfarbe beschmiert. Er konnte ihre Augen weiß vor den schwarzen Bäumen sehen. Sie hielten Waffen in der Hand. Er konnte Karabiner und Maschinenpistolen erkennen. Sie hingen ganz leger über den Schultern dieser stummen Leute, die zu ihnen herüberstarrten. Hunde waren bei ihnen. Einige große Hunde an dicken Lederkoppeln.

Zwischen den Leuten hielten sich Kinder auf. Reacher konnte sie deutlich erkennen. Kinder, die in Gruppen beieinander standen, stumm, starr blickende große schläfrige Augen. Sie drängten sich hinter den Erwachsenen, reglos, unbewegt, halb abgewandt, voll Angst und Verwirrung. Schläfrige Kinder, die man mitten in der Nacht aufgeweckt hatte, damit sie etwas mitansehen sollten.

Loder drehte sich langsam im Kreis herum und winkte die stumm zu ihnen herüberstarrenden Leute heran. Er bewegte seinen Arm in einer weiten, alles umschließenden Geste wie ein Ringmeister im Zirkus.

»Wir haben sie!«, rief er in die Stille hinein. »Die FBI-Schlampe ist hier!«

Seine Stimme hallte dröhnend von den fernen Bergen wider.

»Wo zum Teufel sind wir?«, fragte ihn Holly.

Loder drehte sich zu ihr um und grinste sie an.

»Bei uns, Schlampe«, sagte er leise. »An einem Ort, wo deine Kumpel vom FBI nicht hin können, um dich zu holen.«

»Warum nicht?«, fragte ihn Holly. »Wo zum Teufel sind wir?«

»Das zu verstehen könnte dir vielleicht schwer fallen«, sagte Loder.

»Warum?«, wollte Holly wissen. »Wir sind doch schließlich irgendwo, oder? Irgendwo in den Staaten?«

Loder schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er.

Holly sah ihn ausdruckslos an.

»Kanada?«, fragte sie.

Wieder schüttelte der Mann den Kopf.

»Nein, nicht Kanada, Schlampe«, sagte er.

Holly sah sich um, musterte die Bäume und die Berge. Blickte zu dem gewaltigen Nachthimmel auf. Fröstelte, als ihr plötzlich kühl wurde.

»Nun, Mexiko ist das nicht«, sagte sie.

Der Mann hob beide Arme in einer vielsagenden Geste.

»Das hier ist ein nagelneues Land«, erwiderte er.