22

In dem Außenbüro in Chicago herrschte Mittwochabend Begräbnisstimmung, und in gewisser Weise war es auch ein Begräbnis, weil nämlich jegliche realistische Hoffnung, Holly aufzufinden, inzwischen gestorben war. McGrath wusste, dass seine beste Chance eine frühe Chance gewesen war. Und die frühe Chance war dahin. Wenn Holly noch lebte, war sie jetzt eine Gefangene irgendwo auf dem nordamerikanischen Kontinent, und er würde nicht einmal herausbekommen, wo das war, bis ihre Kidnapper sich dazu entschlossen, anzurufen. Bis jetzt – und seit der Entführung waren beinahe sechzig Stunden verstrichen – hatten sie nicht angerufen.

Er saß am Kopfende der langen Tafel in dem Konferenzzimmer im zweiten Stock. Rauchte. In dem Raum herrschte völlige Stille. Milosevic saß auf der Längsseite der Tafel, den Rücken den Fenstern zugewandt. Die Nachmittagssonne war allmählich in den Abend gesunken und schließlich in die Dunkelheit gefallen. Die Temperatur in dem Raum war mit ihr höher gestiegen und dann wieder gesunken und entsprach jetzt der eines lauschigen Sommerabends. Aber die zwei Männer in dem Saal waren deprimiert und froren. Sie blickten kaum auf, als Brogan hereinkam. Er hielt ein Bündel Computerausdrucke in der Hand. Er lächelte nicht gerade, aber sein Gesichtsausdruck kam dem einigermaßen nahe.

»Haben Sie etwas?«, fragte ihn McGrath.

Brogan nickte selbstsicher und setzte sich. Sortierte die Ausdrucke in vier einzelne Stapel, nahm sie dann der Reihe nach in die Hand und zeigte sie den beiden anderen.

»Quantico«, sagte er. »Die haben etwas. Und die Datenbank in Washington. Die haben drei Fakten. Und ich hatte eine Idee.«

Er breitete seine Papiere vor sich aus und blickte auf.

»Hören Sie sich das an«, sagte er. »Schriftgranit, ineinander verschachtelte Kristalle, Kieselgur, Gneis, Schiefer, Schieferton, Quarzit, Quarzkristalle, Rotbettsandstein, triassischer roter Sand, akzidisches Vulkangestein, rosa Felsspat, grünes Chlorid, Eisenstein, Kies, Sand und Schlick. Wissen Sie, was das alles für Zeug ist?«

McGrath und Milosevic zuckten die Schultern und schüttelten die Köpfe.

»Geologie«, sagte Brogan. »Die Leute in Quantico haben sich den Pickup angesehen. Geologen von der Materialanalyse-Abteilung. Die haben sich den Scheiß angeschaut, der in den Radkästen hing. Sie haben herausgetüftelt, was das für Zeug ist, und damit herausgetüftelt, wo dieser Pickup gewesen war. Winzige Gesteins- und Sedimentteile sind am Blech kleben geblieben. So etwas wie ein geologischer Fingerabdruck.«

»Na schön, und wo war er?«, fragte McGrath.

»Begonnen hat er seine Laufbahn in Kalifornien«, sagte Brogan. »Ein Orangenzüchter namens Dutch Borken hat den Pickup vor zehn Jahren in Mojave gekauft. Das hat der Hersteller für uns herausgebracht. Dann, sagen die Wissenschaftler, ist er ein paar Jahre in Montana gewesen. Anschließend haben sie ihn hierher gebracht, auf der Nordroute, durch North Dakota, Minnesota und Wisconsin.«

»Sind sie sich da sicher?«, wollte McGrath wissen.

»Das ist wie ein Fahrtenbuch«, sagte Brogan. »Bloß dass es mit solchem Dreck in die Radkästen geschrieben ist und nicht mit einem Kugelschreiber auf Papier.«

»Und wer ist dieser Dutch Borken?«, fragte McGrath. »Hat er mit der Sache zu tun?«

Brogan schüttelte den Kopf.

»Nein«, sagte er. »Dutch Borken ist tot.«

»Wann?«, erkundigte sich McGrath.

»Vor zwei Jahren«, erklärte Brogan. »Er hat sich Geld geborgt, seine Farm ist zum Teufel gegangen, die Bank hat ihm den Kredit gekündigt, und da hat er sich seine Flinte in den Mund gesteckt und seine Schädeldecke über ganz Kalifornien verteilt.«

»Und?«, fragte McGrath.

»Sein Sohn hat den Pick-up gestohlen«, sagte Brogan. »Formal hat er ja der Bank gehört, nicht wahr? Der Sohn ist damit abgehauen, keiner hat ihn je wieder gesehen. Die Bank hat den Diebstahl gemeldet, und die dortige Polizei hat danach gesucht, ihn aber nicht gefunden. Er ist nicht zugelassen. Die Zulassungsstelle weiß nichts darüber. Die Cops haben dann aufgegeben, denn wer schert sich schon um einen klapprigen alten Pick-up? Aber ich vermute, dass dieser Borkenjunge ihn gestohlen hat und damit nach Montana gegangen ist. Der Pickup war ganz eindeutig zwei Jahre lang in Montana, darauf würden die Wissenschaftler jeden Eid leisten.«

»Haben wir etwas über diesen Borken junior?«, fragte ihn McGrath.

Brogan nickte. Griff nach dem nächsten Stapel Ausdrucke.

»Sogar eine ganze Menge«, erwiderte er. »Überall in unserer Datenbank, so wie Ameisen bei einem Picknick. Er heißt Beau Borken. Fünfunddreißig Jahre alt, einen Meter achtzig groß und hundertachtzig Kilo schwer. Eine ganz schöne Ladung, was? Rechtsradikaler mit paranoiden Neigungen. Zur Zeit Führer einer Miliz. Fanatiker. Verbindungen mit anderen Milizen überall. Hauptverdächtiger bei einem bewaffneten Überfall im Norden von Kalifornien. Die haben einen Panzerwagen mit zwanzig Millionen in Inhaberpapieren überfallen. Der Fahrer wurde dabei getötet. Man vermutet, dass Milizen dahinter stecken, weil die bösen Jungs Teile von Armeeuniformen trugen. Man hat Borkens Einheit verdächtigt, konnte ihnen aber nichts nachweisen. Warum das nicht möglich war, geht aus den Akten nicht eindeutig hervor. Und außerdem – das ist auch günstig für uns – war Beau Borken einer der Leute, die Peter Wayne Bell als Alibi benutzt hat, um sich aus dieser Vergewaltigungsgeschichte rauszureden. Und auf die Weise steht er nachweislich mit jemandem in Verbindung, der am Tatort gesichtet wurde.

Milosevic blickte hoch.

»Und er hält sich in Montana auf?«, fragte er.

Brogan nickte.

»Wir können seinen Aufenthaltsort sogar ziemlich genau definieren«, sagte er. »Die Wissenschaftler in Quantico sind da auf ein paar ganz bestimmte Täler in der nordwestlichen Ecke von Montana heiß.«

»So eindeutig kann man das bestimmen?«, wunderte sich Milosevic.

Brogan nickte erneut.

»Ich habe sie angerufen«, sagte er. »Und man hat mir gesagt, dieses Sediment in den Radkästen gäbe es nur an ganz bestimmten Orten. Es hat wohl etwas damit zu tun, dass altes Felsgestein vor etwa einer Million Jahren von Gletschern abgeschabt wurde und deshalb näher an der Oberfläche liegt, als es das eigentlich sollte, vermengt mit regulärem Felsgestein, das auch ziemlich alt ist, aber neuer als dieses alte Zeug, wenn Sie wissen, was ich meine. ›Eine ganz bestimmte Mischung?‹ habe ich die gefragt. ›Wie können Sie da so sicher sein?‹ Sie sagten, sie würden es ganz einfach erkennen, so wie ich meine Mutter in zwanzig Metern Entfernung auf einem Gehsteig erkennen würde. Es stamme aus zwei Nord-Süd-Gletschertälern in der Nordwestecke von Montana, erklärten sie, wo die großen alten Gletscher von Kanada heruntergekommen sind. Und dort gäbe es eine bestimmte Art von zermalmtem Sandstein, ganz anders als das sonstige Gestein, und das würde der Forstdienst dort für die Forststraßen verwenden.«

»Okay«, sagte McGrath. »Dann waren diese Typen also zwei Jahre in Montana. Aber heißt das auch, dass sie wieder dorthin zurückgekehrt sind?«

Brogan griff nach dem dritten Stapel von den vier, die er vor sich auf den Tisch gelegt hatte. Er faltete eine Landkarte auseinander. Und lächelte jetzt, lächelte zum ersten Mal seit Montag.

»Darauf können Sie Ihren Arsch verwetten«, sagte er. »Sehen Sie sich die Karte an. Die direkte Route zwischen Chicago und der Nordwestecke von Montana führt durch North Dakota, stimmt’s? Irgend so ein Farmer dort oben ist heute morgen auf seinem Land herumgegangen. Und was glauben Sie wohl, was er in einem Graben gefunden hat?«

»Was?«, fragte McGrath.

»Einen Toten«, sagte Brogan. »In einem Graben, meilenweit von jeder größeren Ansiedlung entfernt. Also hat der Farmer natürlich die Bullen angerufen, und die Bullen haben der Leiche die Fingerabdrücke abgenommen, und der Computer hat einen Namen geliefert.«

»Welchen Namen?«, wollte McGrath wissen.

»Peter Wayne Bell«, sagte Brogan. »Der Typ, der mit Holly weggefahren ist.«

»Er ist tot?«, sagte McGrath. »Wieso?«

»Das weiß ich nicht«, erklärte Brogan. »Vielleicht haben sie sich gestritten. Dieser Typ, dieser Bell, hat ja schließlich sein Gehirn in der Unterhose getragen. Das wissen wir doch, oder? Vielleicht hat er sich an Holly rangemacht, vielleicht hat Holly ihn alle gemacht. Legen Sie doch mal ein Lineal auf die Landkarte und sehen Sie sich das an. Die waren zurück nach Montana unterwegs. Das steht mit Sicherheit fest. Es muss einfach so sein.«

»Mit was denn?«, sagte McGrath. »Nicht in einem weißen Lieferwagen.«

»Doch, in einem weißen Lieferwagen«, sagte Brogan.

»Dieser Econoline war der einzige Lieferwagen, der verschwunden ist«, sagte McGrath.

Brogan schüttelte den Kopf. Er griff nach dem vierten Stapel Ausdrucke.

»Jetzt kommt meine neue Idee«, sagte er. »Ich habe nachgeprüft, ob Rubin einen Lieferwagen gemietet hat.«

»Wer?«, fragte McGrath.

»Rubin ist der tote Zahnarzt«, erklärte Brogan. »Ich habe überprüft, ob er einen Lieferwagen gemietet hat.«

McGrath sah ihn an.

»Weshalb sollte dieser verdammte Zahnarzt einen Lieferwagen mieten?«, wunderte er sich.

»Hat er auch nicht«, sagte Brogan. »Ich dachte mir, diese Typen hätten vielleicht den Lieferwagen gemietet, mit der Kreditkarte des Zahnarzts, nachdem sie ihn in ihre Gewalt gebracht hatten. Das wäre doch einleuchtend. Warum riskieren, ein Fahrzeug zu stehlen, wenn man eines mit einer gestohlenen Brieftasche voller Kreditkarten und Führerscheinen und solchem Zeug mieten kann? Also habe ich ein wenig herumtelefoniert. Und siehe da, Chicago-You-Drive, eine Firma an der South Side, hat am Montagmorgen um neun Uhr einen Econoline an einen Dr. Rubin vermietet. Ich fragte sie, ob das Foto auf dem Führerschein zu dem Mann gepasst hat, der den Wagen gemietet hat. Aber die sagten, dass sie sich das nie ansehen. Solange die Maschine die Kreditkarte annimmt, ist ihnen das egal. Ich fragte sie, welche Farbe hatte der Econoline? Die sagten, alle unsere Lieferwagen sind weiß. Ich fragte nach der Beschriftung. Die sagten, na klar, Chicago-You-Drive, in grünen Buchstaben in Kopfhöhe.«

McGrath nickte.

»Ich werde jetzt Harland Webster anrufen«, sagte er. »Ich möchte, dass man mich nach Montana schickt.«

 

»Gehen Sie zuerst nach North Dakota«, sagte Webster.

»Warum?«, wollte McGrath wissen.

Die Leitung blieb einen Augenblick lang stumm.

»Ein Schritt nach dem anderen«, sagte Webster dann. »Wir müssen uns diese Peter-Wayne-Bell-Sache ansehen. Also machen Sie zuerst Station in North Dakota, okay?«

»Sind Sie da ganz sicher, Chief?«, fragte McGrath.

»Geduldige Kleinarbeit«, erklärte Webster. »Nur so kommen wir weiter. Allen Hinweisen nachgehen, klar? Bis jetzt hat das immer funktioniert. Ihr Mann, dieser Brogan, hat gute Arbeit geleistet. Das gefällt mir.«

»Dann wollen wir doch Nägeln mit Köpfen machen, Chief«, wandte McGrath ein. »Gleich nach Montana, okay?«

»Hat keinen Sinn in der Gegend rumzurennen, solange wir nichts wissen«, wandte Webster ein. »Wie zum Beispiel, und wer und wo und warum. Das müssen wir unbedingt wissen, Mack.«

»Wir wissen, wer und wo«, meinte McGrath. »Dieser Beau Borken. In Montana. Das ist doch wohl klar, oder?«

Wieder Schweigen in der Leitung.

»Kann sein«, meinte Webster dann. »Aber was ist mit dem Warum?«

McGrath klemmte sich das Telefon mit der Schulter ans Ohr und zündete sich seine nächste Zigarette an.

»Keine Ahnung«, antwortete er widerstrebend.

»Wir haben uns die Fotos angesehen«, sagte Webster. »Ich habe sie in die Abteilung für Verhaltenspsychologie geschickt. Die Tiefenheinis haben sie sich angeschaut.«

»Und?«, wollte McGrath wissen.

»Ich weiß nicht«, sagte Webster. »Die sind dort drunten alle verdammt schlau, aber wieviel kriegt man schon heraus, wenn man sich ein verdammtes Foto ansieht?«

»Überhaupt irgendwelche Schlussfolgerungen?«, fragte McGrath.

»Ein paar«, meinte Webster. »Die waren der Ansicht, dass drei von den Typen zusammengehören und der große für sich alleine ist. Die drei sahen ganz ähnlich aus. Haben Sie das bemerkt? Dieselbe Herkunft, dasselbe Aussehen, vielleicht dieselben Gene. Die könnten alle drei verwandt sein. Dieser Bell stammte doch aus Kalifornien. Mojave, stimmt’s? Beau Borken auch. Die haben das Gefühl, dass sie alle drei aus derselben Gegend kommen. Alles Westküstler. Aber der Große ist anders. Andere Kleidung, andere Haltung, anderer Körperbau. Die Anthropologen dort drunten in Quantico sind der Meinung, er könnte Ausländer sein, zumindest teilweise, oder vielleicht zweite Generation. Blondes Haar und blaue Augen, aber da ist irgendetwas an seinem Gesicht. Sie sagen, er sei vielleicht Europäer. Und er ist groß. Nicht Muskeln aus dem Fitnessclub, sondern richtig groß und kräftig, natürlich, meine ich.«

»Und?«, fragte McGrath. »Was folgern sie daraus?«

»Vielleicht ist er Europäer«, sagte Webster. »Ein großer, harter Bursche, möglicherweise aus Europa; sie denken, er könnte eine Art Terrorist sein. Vielleicht ein Söldner. Sie versuchen, in Übersee etwas in Erfahrung zu bringen.«

»Terrorist?«, fragte McGrath. »Ein Söldner? Aber warum?«

»Das ist es ja gerade«, meinte Webster. »Genau das müssen wir herausbekommen. Wenn dieser Typ wirklich ein Terrorist ist, was führt er dann im Schilde? Wer hat wen rekrutiert? Wer hat hier das Sagen? Hat Borkens Miliz ihn engagiert als Hilfe, oder ist es umgekehrt? Geht das Ganze von ihm aus? Hat er Borkens Miliz angeheuert, um hier in den Staaten das nötige Lokalkolorit zu bekommen?«

»Was zum Teufel läuft hier nur?«, fragte McGrath.

»Ich fliege nach O’Hare«, sagte Webster. »Und übernehme das jetzt von hier aus, Mack. Die Sache ist so verdammt groß, da muss ich das einfach tun, oder? Der Alte erwartet das.«

 

Am Abend, sechs Stunden nach dem Debakel mit den Mexikanern in dem Lieferwagen in Arizona, fuhr Brogan nach O’Hare. McGrath saß neben ihm vorn, Milosevic hatte hinten Platz genommen. Niemand redete. Brogan parkte den Dienstwagen auf dem Militärabstellplatz hinter dem Drahtzaun. Sie saßen im Wagen und warteten auf den FBI-Lear-Jet aus Andrews. Die Maschine landete nach zwanzig Minuten und rollte schnell auf sie zu. Im Schein der Flughafenbeleuchtung kam sie mit brausenden Düsenaggregaten zum Stillstand. Die Tür ging auf, und die Klapptreppe fiel herunter. Harland Webster tauchte in der Türöffnung auf und sah sich um. Er entdeckte sie und winkte sie zu sich heran. Eine scharfe, eindringliche Geste. Sie wurde zweimal wiederholt.

Sie kletterten in das kleine Flugzeug. Die Treppe wurde wieder eingeklappt, und die Tür schloss sich saugend hinter ihnen. Webster führte sie nach vorn zu einer Sitzgruppe. Je zwei Sessel mit einem schmalen Tisch dazwischen. Sie setzten sich, McGrath und Brogan Webster gegenüber, neben dem Milosevic Platz genommen hatte. Alle schnallten sich an, und der Lear-Jet rollte wieder los. Das Flugzeug polterte zur Startbahn und wartete. Es bebte und vibrierte und beschleunigte dann den langen Betonstreifen hinunter, ehe es sich mit einem Satz in die Luft erhob. Nachdem es in nordwestlicher Richtung abgebogen war, wurde das Motorengeräusch leiser.

»Okay, überlegen Sie einmal Folgendes«, sagte Webster. »Die Tochter des Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs ist von einer Terroristengruppe entführt worden, die Sache geht vom Ausland aus. Sie werden Forderungen an ihn stellen. Forderungen von gewisser militärischer Dimension.«

McGrath schüttelte den Kopf.

»Das ist Unsinn«, sagte er. »Wie könnte so etwas funktionieren? Die würden ihn einfach ersetzen. Wir leiden ja nicht gerade Mangel an alten Soldaten, die Lust haben, sich im Pentagon auf ihre fetten Ärsche zu setzen.«

Brogan nickte vorsichtig.

»Da bin ich ganz Ihrer Meinung, Chief«, sagte er. »Die Theorie funktioniert nicht.«

Webster nickte.

»Genau«, sagte er. »Und was bleibt uns dann?«

Niemand gab darauf Antwort. Niemand wollte es aussprechen.

 

Der Lear-Jet jagte hinter dem Schein der untergehenden Sonne her nach Westen und landete in Fargo in North Dakota. Ein Agent des Büros Minneapolis erwartete sie mit einem Wagen. Er war von Brogan oder Milosevic nicht beeindruckt und zu stolz, um sich anmerken zu lassen, wie sehr ihn der Agentin-Charge aus Chicago beeindruckte. Tatsächlich war er ziemlich nervös, Harland Websters Bekanntschaft zu machen. Nervös und entschlossen, ihm zu zeigen, dass er seine Arbeit ernst nahm.

»Wir haben ihr Versteck gefunden, Sir«, sagte der Mann. »Die haben es letzte Nacht benutzt und sind dann weitergezogen. Das ist ziemlich eindeutig. Etwa eine Meile von der Stelle entfernt, wo die Leiche gefunden wurde.«

Er fuhr sie nach Nordwesten, zwei Stunden angespanntes Schweigen in zunehmender Dunkelheit, in denen der Wagen wie ein Insekt zwischen riesigen Feldern mit Gerste und Weizen und Bohnen und Hafer dahinrollte. Dann bog er nach rechts ab, und seine Scheinwerferbündel ließen endloses Grasland und dunkelgrauen Himmel erkennen. Die Sonne war im Westen bereits hinter dem Horizont versunken. Der Mann steuerte den Wagen zielsicher über mehrere Feldwege und hielt schließlich an einem Ranchzaun an. Der Zaun verschwand irgendwo in der dunklen Ferne, aber die Scheinwerferbalken erfassten das gelbe Absperrband der Polizei, das zwischen zwei Bäumen und einem Streifenwagen gespannt war, und fielen auf den Wagen des Leichenbeschauers, der in zwanzig Meter Entfernung stand.

»Hier hat man die Leiche gefunden«, sagte der Mann.

Er hatte eine Taschenlampe, aber es gab nicht viel zu sehen. Bloß einen Graben zwischen dem Asphalt und dem Zaun, von Gras überwuchert, das auf eine Länge von vielleicht zehn Metern niedergetrampelt war. Die Leiche war nicht mehr da, aber der Leichenbeschauer hatte auf sie gewartet und lieferte ihnen jetzt Einzelheiten.

»Ziemlich unheimlich«, sagte der Doktor. »Der Kerl ist erstickt worden. Soviel steht fest. Man hat ihn erstickt, ihm das Gesicht in etwas Weiches gedrückt. Überall im Gesicht und in den Augen Petechien. Stecknadelkopfgroße Blutungen, die man bei Asphyxie bekommt.«

McGrath zuckte die Schultern.

»Was ist daran ungewöhnlich?«, fragte er. »Ich hätte den Kotzbrocken selbst erstickt, wenn mir das möglich gewesen wäre.«

»Vorher und nachher«, sagte der Doktor. »Extreme Gewalt vorher. Für mich sieht es so aus, als hätte man den Kerl gegen eine Wand geschmettert, vielleicht gegen die Seitenwand eines Lieferwagens. Der Schädel war hinten aufgeplatzt, und drei seiner Rippen sind gebrochen. Dann hat ihm jemand einen Tritt in den Bauch versetzt. Seine Eingeweide sehen scheußlich aus. Ein völliges Durcheinander. Extreme Gewalt, ungeheure Kräfte. Wer auch immer das getan hat – ich möchte jedenfalls nicht, dass der auf mich sauer ist, das steht für mich fest.«

»Und was ist mit nachher?«, wollte McGrath wissen.

»Die Leiche ist bewegt worden«, sagte der Arzt. »Das Hypostasiemuster ist völlig durcheinander. So als hätte jemand auf den Kerl eingeschlagen, ihn dann erwürgt, ihn etwa eine Stunde liegen gelassen, es sich dann anders überlegt, die Leiche weggeschafft und in den Graben geworfen.«

Webster, McGrath und Brogan nickten alle drei. Milosevic starrte in den Graben. Dann sammelten sie sich am Grabenrand, stierten eine Weile in die endlose, düstere Landschaft, wandten sich gleichzeitig um und gingen auf ihren Wagen zu.

»Danke, Doc«, sagte Webster ein wenig geistesabwesend. »Gute Arbeit.«

Der Doktor nickte. Die Wagentüren knallten zu. Der örtliche Agent ließ den Motor an und fuhr weiter nach Westen in die Richtung, in der die Sonne untergegangen war.

»Der Große hat das Sagen«, meinte Webster. »Das ist jetzt ziemlich klar, oder? Er hat die drei Typen engagiert, um etwas für ihn zu erledigen. Peter Wayne Bell hat nicht pariert. Er hat angefangen, sich an Holly ranzumachen. Eine hilflose, wehrlose Frau, jung und hübsch, eine zu große Versuchung für eine Bestie, wie er eine war, stimmt’s?«

»Stimmt«, nickte Brogan. »Aber der Große ist ein Profi. Ein Söldner oder ein Terrorist oder so etwas. An der Gefangenen herumzufingern gehörte nicht zu seinem Plan. Also ist er sauer geworden und hat Bell alle gemacht. Um die Truppen zu disziplinieren.«

Webster nickte.

»So muss es gewesen sein«, sagte er. »Nur der Große konnte das tun. Zum Teil, weil er der Chef ist, und deshalb hat er das Sagen, und zum Teil auch, weil er körperlich kräftig genug ist, um derartigen Schaden anrichten zu können.«

»Er hat sie geschützt?«, fragte McGrath.

»Seine Investition geschützt«, erwiderte Webster mit säuerlicher Miene.

»Dann ist sie vielleicht noch okay«, meinte McGrath.

Darauf gab keiner Antwort. Der Wagen bog nach einer Meile scharf nach links ab und holperte über einen Feldweg. Die Scheinwerferbalken erfassten eine kleine Ansammlung von Bretterbuden.

»Hier haben sie Halt gemacht«, sagte der örtliche Agent. »Eine alte Pferdefarm.«

»Bewohnt?«, wollte McGrath wissen.

»Bis gestern«, entgegnete der örtliche Agent. »Heute ist kein Mensch mehr zu sehen.«

Er hielt vor der Scheune an. Die fünf Männer stiegen aus. Die Scheunentür stand offen. Der örtliche Agent wartete beim Wagen, und Webster, McGrath, Brogan und Milosevic traten ein. Suchten die Scheune mit ihren Taschenlampen ab. Es war dunkel und muffig. Steinboden, von grünem Moos überwuchert. Pferdeboxen auf beiden Seiten. Sie gingen hinein. Den Mittelgang hinunter bis zum Ende. Die Box auf der rechten Seite hatte einen Schuss aus einer Schrotflinte abbekommen. Die hintere Wand hatte sich dabei praktisch aufgelöst. Bretter waren herausgefallen. Überall Holzsplitter.

In der letzten Box auf der linken Seite lag eine Matratze. Sie lag schräg auf den bemoosten Steinplatten. Durch einen eisernen Ring an der hinteren Wand war eine Kette geschlungen. Man hatte den Ring dort vor hundert Jahren angebracht, um damit ein Pferd an einem Seil festhalten zu können. Aber letzte Nacht hatte der Ring dazu gedient, eine Frau festzuhalten, die eine Kette an ihrem Handgelenk getragen hatte. Webster beugte sich vor und richtete sich dann mit der verchromten Handschelle in der Hand auf, die noch an der Kette hing. Brogan kniete nieder und hob ein paar lange schwarze Haare von der Matratze auf. Dann durchsuchte er gemeinsam mit Milosevic nacheinander sämtliche andere Boxen. McGrath sah den beiden zu. Dann ging er nach draußen. Er wandte sich nach Westen und starrte auf die Stelle, wo die Sonne hinter dem Horizont versunken war. So stand er da und starrte in die unendliche Dunkelheit, gerade als könnte sein Blick, wenn er nur lang und hartnäckig genug dorthin starrte, fünfhundert Meilen weiter im Westen Holly erfassen.