23

Niemand konnte Holly sehen, weil sie ganz für sich allein in dem Gefängnisraum eingeschlossen war, den man speziell für sie gebaut hatte. Vier Frauen in stumpfgrünen Drillichkombinationen, die Gesichter mit Tarnfarbe verschmiert, Automatikwaffen über der Schulter und Munitionstaschen am Gürtel, hatten sie aus der Waldlichtung weggebracht. Sie hatten sie von Reacher weggezogen und sie in der Dunkelheit quer über die Lichtung gezerrt, in die Bäume hinein, quer durch eine Schar zischender, spottender und sie beschimpfender Leute. Dann eine schmerzerfüllte Meile über einen steinigen Weg wieder aus dem Wald heraus und hinüber zu dem großen, weißen Gebäude. Sie hatten kein Wort mit ihr geredet. Sie nur in das Haus gedrängt und dort die Treppe ins Obergeschoss hinaufbefördert. Sie hatten die massive neue Tür aufgezogen und sie auf eine Stufe gestoßen. Die Stufe war mehr als einen Fuß hoch, weil der Boden in dem Zimmer höher als der draußen im Flur war. Sie kroch hinauf und ins Zimmer und hörte, wie die Tür hinter ihr zugeknallt wurde und der Schlüssel sich laut im Schloss drehte.

Es gab keine Fenster. Eine Glühbirne an der Decke hinter einem Drahtgitter erfüllte den Raum mit grellem gelben Licht. Alle vier Wände sowie der Boden und die Decke waren mit frischen neuen Fichtenbrettern verkleidet, unbearbeitet und intensiv riechend. Am anderen Ende des Raums stand ein Bett – ein einfaches Eisengestell mit einer dünnen, zusammengedrückten Matratze. Wie ein Militärbett oder eine Gefängnispritsche. Auf dem Bett lagen zwei Drillichhosen und zwei Hemden. Stumpfgrün, so wie die Kleidung, die die vier stummen Frauen getragen hatten. Sie hinkte zum Bett hinüber und betastete die Kleidungsstücke. Alt und abgetragen, aber sauber. Gebügelt. Die Bügelfalten der Hosen waren rasiermesserscharf.

Sie drehte sich um und inspizierte den Raum gründlich. Er war nicht klein. Vielleicht fünf Meter im Quadrat. Aber sie spürte, dass er kleiner war, als er hätte sein sollen. Die Proportionen waren irgendwie seltsam. Der erhöhte Boden war ihr aufgefallen. Er war mehr als dreißig Zentimeter höher als normal. Vermutlich war das bei den Wänden und der Decke genauso. Sie humpelte zur Wand und klopfte an die Bretterverkleidung. Ein dumpfes Geräusch. Dahinter musste ein Hohlraum sein. Jemand hatte diese einfache Verschalung aus Brettern in einen größeren Raum hineingebaut. Und sie hatten gut gebaut. Die neuen Bretter saßen dicht aneinander und waren gerade. Nur in den winzigen Fugen dazwischen war Feuchtigkeit zu erkennen. Sie starrte die Fugen an und schnüffelte. Dann fröstelte sie. Der ganze Raum roch nach Angst.

Eine Ecke war abgeteilt. Eine schräge Trennwand mit einer Tür. Sie hinkte zu der Tür und zog sie auf. Eine Badenische. Ein Klo, ein Waschbecken. Ein Abfallkübel mit einem neuen Plastikbeutel. Und eine Dusche über einer Badewanne. Billige weiße Keramikobjekte, aber nagelneu. Sorgfältig installiert. Ordentliche Fliesen. Seife und Shampoo auf einem Wandbrett. Sie lehnte sich an den Türstock und starrte die Dusche an. Starrte sie lange Zeit an. Dann schlüpfte sie aus ihrem schmutzigen Armani-Kostüm, knüllte es zusammen und warf es in den Abfalleimer. Sie drehte die Dusche auf, trat in den Wasserstrom und schrubbte sich am ganzen Körper gründlich ab. Fast eine Stunde blieb sie unter der Dusche stehen.

Dann hinkte sie zum Bett zurück und nahm ein Hemd und eine Hose. Sie passten beinahe perfekt. Angezogen legte sie sich aufs Bett, starrte zu den Fichtenbrettern an der Decke hinauf und lauschte der Stille. Zum ersten Mal seit mehr als sechzig Stunden war sie allein.

 

Reacher war nicht allein. Er befand sich immer noch auf der Waldlichtung und stand, sechs Meter von dem weißen Econoline entfernt, an einen Baum gekettet und von sechs stummen Männern mit Maschinenpistolen bewacht. Hunde trotteten frei durch die Lichtung. Reacher lehnte sich an die raue Baumrinde, wartete, beobachtete seine Bewacher. Er fror. Er spürte, wie das Fichtenharz an seinem dünnen Hemd festklebte. Die Wachen waren vorsichtig. Sie standen zwei Meter von ihm entfernt in einer Reihe, die Waffen auf ihn gerichtet; ihre Augen funkelten weiß aus den geschwärzten Gesichtern. Sie trugen olivfarbenes Drillichzeug. Auf den Schultern hatten sie irgendwelche halbkreisförmigen Rangabzeichen. Es war zu dunkel, als dass Reacher Genaueres hätte erkennen können.

Die sechs Männer waren alle um die vierzig Jahre alt, schlank, bärtig. Sichtlich mit ihren Waffen vertraut. Wachsam. Stumm. An nächtliche Einsätze gewöhnt. Reacher konnte das sehen. Sie sahen aus wie die Überlebenden eines kleinen Infanteriezuges. So als wären sie vor zwanzig Jahren als junge Rekruten auf Nachtstreife in den Wald gekommen und hätten ihn nie wieder verlassen.

Als hinter ihnen Schritte zu hören waren, nahmen sie Haltung an. In der stillen Nacht wirkten die Schritte auf groteske Weise laut. Stiefel stampften auf den Boden, und Gewehrkolben klatschten gegen Handflächen. Reacher spähte in die Lichtung und sah, dass ein siebter Mann sich näherte. Jünger, vielleicht fünfunddreißig. Ein großer Mann, glatt rasiert, ohne Tarnfarbe im Gesicht, scharf gebügeltes Drillichzeug, auf Hochglanz polierte Stiefel. Dieselben halbkreisförmigen Rangabzeichen, nur größer, an den Schultern. Ein Offizier.

Die sechs Soldaten salutierten, und der Neuankömmling trat dicht vor Reacher. Er zog ein Päckchen Zigaretten aus der Tasche und entnahm ihm eine Zigarette. Zündete sie an und ließ das Feuerzeug brennen, um Reachers Gesicht zu beleuchten. Starrte mit ausdrucksloser Miene über die flackernde Flamme. Reacher starrte zurück. Der Mann trug einen kleinen Kopf auf breiten Schultern, ein schmales, hartes Gesicht, ausgehungert, mit verfrühten Falten und Schrunden. Im schroffen Schatten der Flamme sah es so aus, als ob er keine Lippen hätte. Bloß einen Schlitz dort, wo sein Mund sein sollte. Kalte Augen brannten unter der dünnen Haut, die sich straff über seine Stirn spannte. Militärischer Millimeterhaarschnitt, vielleicht eine Woche alt, gerade im Begriff auszuwachsen. Er starrte Reacher an und ließ die Flamme verlöschen. Strich sich mit der Hand über den Kopf. Reacher hörte in der stillen Nachtluft das laute Kratzen der Stoppeln an seiner Handfläche.

»Ich bin Dell Fowler«, sagte der Mann. »Ich bin hier der Stabschef.«

Eine ruhige Stimme. Westküste. Reacher sah ihn an und nickte langsam.

»Wollen Sie mir sagen, von welchem Stab Sie hier der Chef sind?«

»Hat Loder das nicht erklärt?«, fragte Fowler.

»Loder hat gar nichts erklärt«, meinte Reacher. »Er war voll und ganz damit beschäftigt, uns hierher zu bringen.«

Fowler nickte und lächelte ein eisiges Lächeln.

»Loder ist ein Idiot«, sagte er. »Er hat fünf größere Fehler gemacht. Sie sind einer davon. Er steckt ziemlich tief in der Scheiße. Und Sie auch.«

Er winkte einem der Bewacher zu. Der Mann trat vor und reichte ihm einen Schlüssel, den er aus der Tasche zog. Dann stand der Wachmann mit schussbereiter Waffe da, und Fowler schloss Reachers Kette auf. Sie rutschte klappernd an dem Baumstamm hinunter auf den Boden. Metall auf Holz, ein lautes Geräusch im nächtlichen Wald. Ein Hund trottete heran und schnüffelte. Leute bewegten sich zwischen den Bäumen. Reacher stieß sich von dem Baumstamm ab und massierte seinen Unterarm, um den Blutkreislauf wieder herzustellen. Alle sechs Wachen traten einen Schritt vor. Waffen hoben sich. Reacher sah auf die Läufe der Maschinenpistolen, und Fowler packte seinen Arm und drehte ihn herum. Schloss Reachers Hände hinter seinem Rücken mit Handschellen zusammen. Nickte. Zwei Wachen verschmolzen mit der Dunkelheit zwischen den Bäumen. Ein dritter stieß Reacher den Lauf seiner Maschinenpistole in den Rücken. Ein vierter bezog dahinter Position. Zwei gingen voran. Fowler trat neben Reacher und packte seinen Ellbogen. Führte ihn zu einer kleinen Holzhütte auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung. Sie stand etwas abseits von den Bäumen, und das Mondlicht war dort heller. Reacher konnte jetzt die Schrift auf Fowlers Schulterklappe lesen. Sie lautete: Montana Militia.

»Das hier ist Montana?«, sagte er. »Loder hat es als nagelneues Land bezeichnet.«

Fowler zuckte im Gehen die Schultern.

»Das war ein wenig voreilig«, sagte er. »Im Augenblick ist es noch Montana.«

Jetzt hatten sie die Hütte erreicht. Die beiden Männer vorn öffneten die Tür. Gelbes Licht strömte in die Dunkelheit hinaus. Der Wachmann mit der Waffe hinter Reacher benutzte diese, um ihn hineinzustoßen. Loder stand an der gegenüberliegenden Wand. Seine Hände waren hinter seinem Rücken mit Handschellen gefesselt. Er wurde von einem weiteren schlanken, bärtigen Mann mit einer Maschinenpistole bewacht. Der Mann war ein wenig jünger als die anderen, und sein Bart war etwas gepflegter. Quer über seine Stirn verlief eine bläuliche Narbe.

Fowler ging um die Uniformierten herum und setzte sich hinter einen schlichten Schreibtisch. Wies auf einen Stuhl. Reacher ließ sich darauf fallen, immer noch in Handschellen, sechs Soldaten hinter sich. Fowler sah zu, wie er Platz nahm, und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf Loder. Reacher folgte seinem Blick. Als er Loder das erste Mal am Montag zu Gesicht bekommen hatte, waren ihm ein gewisses Maß an gelassener Kompetenz, hart blickende Augen und Fassung aufgefallen. All das war jetzt dahin. Der Mann zitterte förmlich vor Angst. Seine Handschellen klapperten hinter ihm. Reacher musterte ihn und dachte: Der Mann hat panische Angst vor seinen Anführern.

»Also, fünf Fehler«, sagte Fowler.

Seine Stimme war immer noch ruhig. Und selbstbewusst. Entspannt. Die ruhige, selbstbewusste Stimme eines Menschen, der sich seiner Macht völlig sicher ist. Reacher hörte, wie die Stimme verstummte, und lauschte dem Knarren von Stiefeln auf den Bodenbrettern hinter ihm.

»Ich habe mein Bestes getan«, sagte Loder. »Sie ist schließlich hier, oder?«

Seine Stimme klang flehend und jämmerlich. Die Stimme eines Mannes, der ganz genau weiß, dass er in der Scheiße steckt, ohne wirklich genau zu begreifen, warum.

»Sie ist doch hier, oder«, sagte er erneut.

»Durch ein Wunder«, erwiderte Fowler. »Sie haben anderswo eine Menge Unruhe erzeugt. Einige Leute hatten alle Hände voll zu tun, um das zu vertuschen, was Sie mit Ihrer Unfähigkeit angerichtet haben.«

»Was habe ich denn falsch gemacht?«, fragte Loder.

Er stieß sich von der Wand ab, die Hände hinter sich in Handschellen, und trat vor Reacher. Sah ihn verzweifelt an, als würde er von ihm so etwas wie ein Führungszeugnis erwarten.

»Fünf Fehler«, sagte Fowler erneut. »Erstens, Sie haben den Pickup verbrannt, und zweitens, Sie haben die Limousine verbrannt. Viel zu auffällig. Warum haben Sie nicht einfach eine Anzeige in die Zeitung gesetzt?«

Loder gab keine Antwort. Sein Mund arbeitete, aber es kam kein Ton heraus.

»Drittens, Sie haben diesen Mann hier mit hineingezogen«, sagte Fowler.

Loder sah wieder Reacher an und schüttelte dann heftig den Kopf.

»Das ist doch ein Niemand«, sagte er. »Um den kümmert sich doch keiner.«

»Trotzdem hätten Sie warten sollen«, sagte Fowler. »Und viertens, Sie haben Peter verloren. Was genau ist eigentlich mit ihm passiert?«

Loder zuckte die Schultern.

»Das weiß ich nicht«, sagte er.

»Er hat Angst bekommen«, erklärte Fowler. »Sie haben so viele Fehler gemacht, dass er es mit der Angst bekam und davongelaufen ist. Das ist passiert. Haben Sie eine andere Erklärung?«

Loder starrte ihn bloß ausdruckslos an.

»Und fünftens, Sie haben den verdammten Zahnarzt umgebracht«, sagte Fowler. »Das wird man nicht übersehen. Das Ganze sollte doch eine militärische Operation sein, oder nicht? Politisch. Sie haben da einen zusätzlichen Faktor ins Spiel gebracht.«

»Welchen Zahnarzt?«, fragte Reacher.

Fowler sah ihn an und lächelte ein lippenloses Lächeln, nachsichtig, geradeso als ob Reacher eine Person im Zuhörersaal wäre, die er dazu benutzen konnte, um Loder noch ein wenig zu demütigen.

»Die Männer haben das Auto von einem Zahnarzt gestohlen«, sagte er. »Und der hat sie dabei erwischt. Sie hätten warten sollen, bis er weg war.«

»Er ist dazwischengeraten«, meinte Loder. »Wir konnten ihn doch schließlich nicht mitbringen, oder?«

»Mich haben Sie mitgebracht«, sagte Reacher zu ihm.

Loder starrte ihn an, als wäre er ein Idiot.

»Der Kerl war Jude«, sagte er. »Das hier ist kein Ort für Juden.«

Reacher sah sich in dem Raum um. Sah die Schulterklappen an. Montana Militia, Montana Militia, Montana Militia. Er nickte langsam. Ein nagelneues Land.

»Wo haben Sie Holly hingebracht?«, fragte er Fowler.

Fowler ignorierte ihn. Er war immer noch mit Loder befasst.

»Sie werden morgen vor Gericht kommen«, erklärte er ihm. »Sondertribunal. Unter Vorsitz des Kommandanten. Die Anklage lautet auf Gefährdung der Mission. Ich vertrete die Anklage.«

»Wo ist Holly?«, wiederholte Reacher seine Frage.

Fowler zuckte die Schultern. Ein kühler Blick.

»In der Nähe«, sagte er. »Machen Sie sich um sie keine Sorgen.«

Dann hob er den Kopf etwas an, sah über Reacher hinweg und sprach zu den Wachen.

»Legt Loder auf den Boden«, sagte er.

Loder leistete keinerlei Widerstand. Er ließ sich einfach von dem jüngeren Mann mit der Narbe festhalten. Der ihm am nächsten stehende Wachmann drehte seinen Karabiner um und hieb Loder den Kolben in den Bauch. Reacher hörte, wie die Luft aus ihm herausgepresst wurde. Der jüngere ließ ihn fallen und stieg dann über ihn hinweg. Verließ die Hütte, allein, Auftrag erledigt. Die Tür knallte laut hinter ihm zu. Dann wandte Fowler sich wieder Reacher zu.

»Jetzt wollen wir über Sie reden«, sagte er.

Seine Stimme war immer noch ganz leise. Leise und selbstsicher. Aber es war auch nicht schwer, selbstsicher zu sein, wenn man mitten im Niemandsland mit sechs bewaffneten Untergebenen einen mit Handschellen gefesselten Mann auf einem Stuhl gegenübersaß. Einem mit Handschellen gefesselten Mann, der gerade Zeuge nackter Brutalität und Machtausübung geworden war. Reacher sah ihn mit einem Schulterzucken an.

»Was ist mit mir?«, sagte er. »Meinen Namen kennen Sie. Ich habe ihn Loder gesagt. Das hat er Ihnen sicherlich gemeldet. Wahrscheinlich hat er das richtig mitbekommen. Viel mehr gibt es zu dem Thema nicht zu sagen.«

Stille. Fowler dachte darüber nach. Nickte.

»Das ist eine Entscheidung für den Kommandanten«, sagte er.

 

Was sie schließlich überzeugte, war die Dusche. Darauf baute sie ihre Schlussfolgerungen auf. Ein paar gute Nachrichten und ein paar schlechte. Ein nagelneues Bad, billig, aber sorgfältig ausgestattet, so wie es eine mit weltlichen Gütern nicht übermäßig gesegnete tüchtige Hausfrau in einem Wohnwagenpark vielleicht auswählen würde. Das Bad machte Holly einiges klar. Es bedeutete, dass sie eine Geisel war, dass man vorhatte, sie lange Zeit festzuhalten, dies aber immerhin mit einem gewissen Maß an Respekt tun würde, weil sie für irgendeinen geplanten Handel wertvoll war. Es sollte keine Zweifel hinsichtlich ihrer Sicherheit oder ihres alltäglichen Wohlbefindens geben. Das waren Faktoren, die aus der Verhandlung herausgehalten werden sollten. Faktoren, die als selbstverständlich gelten sollten. Sie war eine Gefangene mit einem gewissen Status. Wegen ihres Wertes. Weil sie die war, die sie war. Aber nicht, weil sie die war, die sie war, sondern weil ihr Vater der war, der er war. Wegen seiner Verbindungen. Man erwartete von ihr, dass sie in diesem bedrückenden, mit Angst angefüllten Raum sitzen und die Tochter von jemandem sein sollte. Dasitzen und warten, während Menschen ihren Wert abwogen, so oder so. Während Menschen auf ihre Notlage reagierten und sich durch die Tatsache, dass sie eine Dusche zum alleinigen Gebrauch hatte, ein wenig erleichtert fühlen würden.

Sie erhob sich langsam vom Bett. Zum Teufel damit, dachte sie. Sie würde nicht hier sitzen und zulassen, dass man über sie verhandelte. Die Wut stieg in ihr auf. Sie stieg in ihr auf, und Holly verwandelte sie in stählerne Entschlossenheit. Sie hinkte zur Tür und versuchte zum zwanzigsten Mal die Klinke niederzudrücken. Dann hörte sie Schritte auf der Treppe. Sie kamen klappernd über den Korridor näher. Hielten an ihrer Tür an. Ein Schlüssel drehte sich im Schloss. Die Klinke in ihrer Hand bewegte sich. Sie trat einen Schritt zurück, und die Tür ging auf.

Reacher wurde in den Raum gestoßen. Hinter ihm ein paar verschwommene Gestalten in Tarnkleidung, die ihn durch die Tür stießen und sie hinter ihm zuknallten. Sie hörte, wie wieder abgesperrt wurde und die Schritte sich entfernten. Reacher sah sich um.

»Sieht so aus, als ob wir teilen müssten«, sagte er. »Die haben nur einen Gast erwartet«, fügte er hinzu.

Sie gab darauf keine Antwort, sondern sah nur zu, wie seine Augen den Raum untersuchten. Sie wanderten über die Wände, den Boden, die Decke. Er neigte sich etwas zur Seite und sah ins Bad. Nickte dann. Drehte sich zu ihr herum und wartete auf ihren Kommentar. Sie ließ sich Zeit, überlegte, was sie sagen und wie sie das tun sollte.

»Da ist nur ein Bett«, meinte sie schließlich.

Sie gab sich Mühe, den Worten mehr Bedeutung zu verleihen, in sie so viel wie in eine lange Rede hineinzulegen. Sie wollte, dass sie klangen wie: Okay, im Lieferwagen waren wir einander nahe. Okay, wir haben uns geküsst. Zweimal. Das erste Mal ist es einfach passiert. Das zweite Mal habe ich Sie dazu aufgefordert, weil ich Zuspruch gesucht habe und Schutz. Aber jetzt sind wir ein oder zwei Stunden getrennt gewesen. Lange genug, dass ich mir wegen dem, was wir getan haben, ein wenig albern vorkomme. Alles das war sie bemüht in jene fünf Worte hineinzulegen; dabei beobachtete sie seine Augen, lauerte auf seine Reaktion.

»Es gibt da jemand anders, oder?«, fragte er.

Sie begriff, dass er das als Witz meinte, als eine lockere Bemerkung, um ihr zu zeigen, dass er ihre Meinung teilte, dass er verstanden hatte, dass er all dem die Peinlichkeit nehmen wollte, ohne dabei zu dick aufzutragen. Aber sie lächelte ihn nicht an, sondern ertappte sich dabei, wie sie nickte.

»Ja, es gibt jemanden«, sagte sie. »Was soll ich sonst sagen? Wenn nicht, würde ich vielleicht teilen wollen.«

Sie dachte: Er wirkt enttäuscht.

»Tatsächlich würde ich das wahrscheinlich«, fügte sie hinzu. »Aber es gibt jemanden, und das tut mir Leid. Es wäre keine gute Idee.«

Man konnte einiges in seinem Gesicht lesen, und sie fand, dass sie mehr sagen musste.

»Es tut mir Leid«, wiederholte sie sich. »Es ist nicht so, dass ich nicht gern möchte.«

Sie beobachtete ihn. Er reagierte bloß mit einem Schulterzucken. Offensichtlich dachte er: Davon geht die Welt nicht unter. Und dann dachte er: Es kommt einem nur so vor. Sie wurde rot. Empfand ein geradezu absurdes Gefühl der Befriedigung. Aber jetzt war es Zeit, das Thema zu wechseln.

»Was geht hier vor?«, fragte sie. »Hat man Ihnen etwas gesagt?«

»Wer ist der Glückliche?«, fragte Reacher.

»Einfach irgendjemand«, erwiderte sie. »Was geht hier vor?«

Sein Blick war umwölkt. Er sah sie scharf an.

»Ein glücklicher Jemand«, sagte er.

»Er weiß es nicht einmal«, sagte sie.

»Dass Sie verschwunden sind?«, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Dass ich das so empfinde.«

Er starrte sie an. Sagte nichts. Schweigen legte sich über den Raum. Dann hörten sie wieder Schritte. Eilige Schritte, draußen vor dem Gebäude, jetzt klappernd im Inneren. Die Treppe heraufkommend. Sie hielten vor der Tür an. Der Schlüssel schob sich ins Schloss. Die Tür öffnete sich. Sechs Wachen stampften in den Raum. Sechs Maschinenpistolen. Holly trat einen schmerzhaften Schritt zurück, doch man ignorierte sie völlig.

»Der Kommandant hat jetzt Zeit für Sie, Reacher«, sagte der Mann an der Spitze.

Er bedeutete ihm, sich umzudrehen. Legte ihm hinter dem Rücken Handschellen an. Zog sie straff. Stieß ihn mit dem Lauf seiner Waffe zur Tür und in den Korridor hinaus. Die Tür knallte zu und wurde wieder abgesperrt.

 

Fowler zog sich die Kopfhörer herunter und hielt das Tonbandgerät an.

»Etwas Besonderes?«, fragte ihn der Kommandant.

»Nein«, sagte Fowler. »Sie hat gesagt, dass es nur ein Bett gäbe, und er wirkte sauer, so als ob er ihr an die Wäsche gewollt hätte. Und da hat sie gesagt, sie hätte einen anderen Boyfriend.«

»Das wusste ich nicht«, sagte der Kommandant. »Hat sie gesagt, wer das ist?«

Fowler schüttelte den Kopf.

»Aber es funktioniert?«, fragte der Kommandant.

»Wie gewünscht«, sagte Fowler.

 

Reacher wurde die Treppe hinunter und dann hinaus in die Nacht gestoßen. Den Weg zurück, den er gekommen war, eine Meile über einen steinigen Pfad. Der Mann an der Spitze packte ihn am Ellbogen und zerrte ihn mit. Sie hatten es sichtlich eilig, rannten beinahe. Die Läufe ihrer Maschinenpistolen benutzten sie wie spitze Stöcke, wie Viehtreiber, und legten die Strecke in einer Viertelstunde zurück. Sie hasteten mit knirschenden Schritten über die Lichtung zu der kleinen Holzhütte, stießen Reacher unsanft hinein.

Loder lag immer noch auf dem Boden. Aber an dem schlichten Schreibtisch saß jetzt jemand anders. Der Kommandant. Das war für Reacher eindeutig. Er war eine außergewöhnliche Gestalt. Vielleicht einen Meter achtzig groß und wahrscheinlich hundertachtzig Kilo schwer. Ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, dichtes Haar, so blond, dass es beinahe weiß aussah, an den Seiten kurz gestutzt und oben lang nach hinten gebürstet, so wie deutsche Schuljungen es tragen. Ein glattes rosa Gesicht, straff, rote Flecken von der Größe eines Fünfcentstücks hoch oben an seinen Wangen. Winzige farblose Augen zwischen den Backen und den weißen Augenbrauen, in Schlitze gezwängt. Feuchte rote Lippen über einem Kinn, das kräftig genug war, um in all dem Schwabbelspeck seine Form zu halten.

Er trug eine schwarze Uniform von gewaltigen Ausmaßen. Ein makellos sauberes schwarzes Hemd von militärischem Schnitt, ohne jegliche Rangabzeichen mit Ausnahme der Schulterklappen, die auch alle anderen trugen. Ein breiter Ledergürtel, der wie ein Spiegel glänzte. Scharf gebügelte schwarze Reithosen, oben weit ausgestellt und in hohe schwarze Stiefel gestopft, die ebenso spiegelten wie der Gürtel.

»Kommen Sie rein und setzen Sie sich«, sagte er mit ruhiger Stimme.

Reacher wurde zu dem Stuhl hingestoßen, auf dem er schon einmal gesessen hatte. Er setzte sich mit hinten zusammengequetschten Händen. Die Wachen umstanden ihn in Habachthaltung und wagten nicht zu atmen, starrten bloß mit glasigen Blicken ins Leere.

»Ich bin Beau Borken«, sagte der Mann. »Ich bin hier der Kommandant.«

Die Stimme war hoch. Reacher starrte den Mann an und spürte die Aura, die von ihm ausging, wie ein Leuchten. Eine Aura totaler Autorität.

»Ich muss eine Entscheidung treffen«, sagte Borken. »Und Sie brauche ich, damit Sie mir dabei helfen.«

Reacher bemerkte, dass er den Blick von dem Mann abgewandt hatte. So als ob seine Aura ihn überwältigen würde. Er zwang sich dazu, den Kopf langsam zu drehen und das breite, weiße Gesicht zu mustern.

»Was für eine Entscheidung?«, fragte er.

»Ob Sie leben sollen«, sagte Borken. »Oder ob Sie sterben sollen.«

 

Holly entfernte die Seitenplatte von der Badewanne. Sie hatte schon oft erlebt, dass Installateure unter der Badewanne, durch die Seitenplatte den Blicken entzogen, irgendwelche Abfälle zurückgelassen hatten. Rohrabschnitte, Holzstücke, ja sogar Werkzeuge. Verbrauchte Tapeziererklingen oder gar irgendwelche Schraubenschlüssel. Jedenfalls Dinge, die sich als nützlich erweisen konnten. In so manchem Apartment, das sie bewohnt hatte, hatte sie solche Sachen gefunden. Aber da war nichts. Sie legte sich auf den Boden und tastete den Raum unter und hinter der Wanne ab, fand aber überhaupt nichts.

Und der Boden unter den Rohrleitungen war völlig massiv. Die Rohre führten durch eigens für sie gebohrte Löcher. Wirklich fachmännische Arbeit. Möglicherweise hätte sie neben dem großen Rohr, das aus der Toilette nach unten führte, einen Hebel einzwängen können. Mithilfe einer Brechstange wäre es ihr vielleicht möglich gewesen, ein Brett zu lösen. Aber in dem Raum gab es keine Brechstange. Und auch nichts, was aushilfsweise als solche hätte benutzt werden können. Der Handtuchhalter bestand aus Plastik und würde sich verbiegen und zerbrechen. Und sonst gab es nichts. Sie saß auf dem Boden und spürte, wie die Verzweiflung über ihr zusammenschlug. Dann hörte sie Schritte vor ihrer Tür.

Diesmal waren die Schritte leise. Sie waren gedämpft, klapperten nicht laut. Jemand, der sich leise und vorsichtig näherte. Jemand, der hier offensichtlich nichts verloren hatte. Sie stand langsam auf. Verließ das Bad und zog die Tür hinter sich zu, um die ihrer Verkleidung beraubte Badewanne zu verbergen. Hinkte zum Bett zurück, während das Schloss klickte und die Tür sich öffnete.

Ein Mann kam ins Zimmer. Er war noch ziemlich jung und trug einen Tarnanzug; sein Gesicht war schwarz verschmiert. Eine bläulich rote Narbe verlief quer über seine Stirn. Er trug eine Maschinenpistole am Schulterriemen, drehte sich um und schloss die Tür lautlos. Drehte sich wieder um und hielt den Finger an die Lippen.

Sie starrte ihn an. Spürte, wie die Wut in ihr aufstieg. Diesmal war sie nicht angekettet. Diesmal würde der Kerl sterben. Sie lächelte verkniffen über die Logik des Ganzen. Das Badezimmer würde sie retten. Sie war eine Gefangene hohen Ranges. Jemand, dem man Respekt entgegenbrachte. Ein Mann war hereingekommen, um sie zu misshandeln, und sie hatte ihn getötet – dagegen konnten sie nichts einzuwenden haben, oder?

Aber der Mann mit der Narbe hielt bloß den Finger an die Lippen gedrückt und deutete mit einer Kopfbewegung auf das Bad. Er ging mit leisen Schritten auf die Tür zu und öffnete sie. Bedeutete ihr, dass sie ihm folgen solle. Sie hinkte hinter ihm her. Er sah die auf dem Boden liegende Abdeckplatte und schüttelte den Kopf. Griff nach der Armatur und drehte die Dusche an. Ließ das Wasser laut in die leere Wanne prasseln.

»Sie haben Mikrophone«, sagte der Mann. »Sie belauschen alles.«

»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte sie.

Er kauerte sich auf den Boden und befestigte die Abdeckplatte wieder an der Wanne.

»Keine Chance«, sagte er. »Es gibt hier keinen Weg nach draußen.«

»Den muss es aber geben.«

Der Mann schüttelte den Kopf.

»Sie haben einen Probelauf gemacht«, sagte er. »Der Kommandant hat einen von den Leuten, die das hier gebaut haben, in diesen Raum reingesteckt. Er hat ihm gesagt, wenn er nicht rauskäme, würde er ihm die Arme abschneiden. Und deshalb nehme ich an, dass er sich wirklich alle Mühe gegeben hat.«

»Und was ist passiert?«, fragte sie.

Der Mann zuckte die Schultern.

»Der Kommandant hat ihm die Arme abgeschnitten«, sagte er.

»Wer zum Teufel sind Sie?«, wiederholte sie ihre Frage.

»FBI«, erklärte der Mann. »Anti-Terroristen-Dezernat. Verdeckt tätig. Ich schätze, ich werde Sie hier rausholen müssen.«

»Und wie?«, fragte sie.

»Morgen«, erklärte er. »Ich kann einen Jeep besorgen. Wir werden es einfach versuchen müssen. Verstärkung kann ich keine anfordern, weil sie ständig nach meinem Sender scannen. Wir besorgen uns einfach den Jeep, fahren nach Süden und hoffen, dass alles gut geht.«

»Und was ist mit Reacher?«, fragte sie. »Wo haben sie ihn hingebracht?«

»Den sollten Sie vergessen«, meinte der Mann. »Der ist bis morgen früh tot.«

Holly schüttelte den Kopf.

»Ich gehe hier nicht ohne ihn weg«, sagte sie.

 

»Loder hat mich geärgert«, sagte Beau Borken.

Reacher zuckte die Schultern und sah nach unten. Loder hatte sich mühsam ein Stück aufgerichtet und saß jetzt, ein wenig windschief halb an die Wand gepresst, da.

»Hat er Sie geärgert?«, fragte Borken.

Reacher gab keine Antwort.

»Würden Sie ihm gern einen Tritt versetzen?«, fragte Borken.

Reacher blieb stumm. Er konnte klar erkennen, wo dieses Spiel hinführen sollte. Wenn er ja sagte, würde man von ihm erwarten, dass er dem Mann ernsthaft weh tat. Dagegen hatte er zwar im Prinzip nichts einzuwenden, würde es aber vorziehen, in eigener Initiative zu handeln. Wenn er nein sagte, würde Borken ihn einen Feigling nennen, würde sagen, er habe keinen Sinn für natürliche Gerechtigkeit und keinen Selbstrespekt. Ein durchsichtiges Spiel, das er nicht gewinnen konnte. Also blieb er stumm; eine Taktik, die er schon tausend Mal benutzt hatte: Im Zweifel war es immer besser, den Mund zu halten.

»Ins Gesicht?«, fragte Borken. »Oder vielleicht in die Eier?«

Loder starrte Reacher an. Da war etwas in seinem Gesichtsausdruck. Reacher erkannte, was es war, und seine Augen weiteten sich überrascht. Loder flehte ihn an, ihm einen Tritt zu versetzen, damit Borken das nicht tun würde.

»Loder, legen Sie sich wieder hin«, sagte Borken.

Loder stieß sich mühsam mit der Hüfte von der Wand ab und ließ sich mit den Schultern auf den Boden fallen. Er krümmte und wand sich, bis er flach auf dem Rücken lag. Borken nickte dem ihm am nächsten stehenden Wachmann zu.

»Ins Gesicht«, sagte er.

Der Wachmann trat auf ihn zu und schob Loders Kopf mit der Stiefelsohle zur Seite, so dass sein Gesicht in den Raum blickte. Dann trat er einen Schritt zurück und trat zu. Ein heftiger Tritt mit einem schweren Stiefel. Loders Kopf flog nach hinten und krachte gegen die Wand. Blut quoll ihm aus der Nase. Borken sah eine Weile zu, wie er blutete, nur schwach interessiert. Dann wandte er sich wieder an Reacher.

»Loder ist einer meiner ältesten Freunde«, sagte er.

Reacher entgegnete nichts.

»Das wirft zwei Fragen auf, nicht wahr?«, sagte Borken. »Frage eins: Warum bestehe ich auf so strikter Disziplin, selbst gegenüber meinen alten Freunden? Und Frage zwei: Wenn ich meine Freunde so behandle, wie zum Teufel gehe ich dann mit Feinden um?«

Reacher sagte nichts. Im Zweifel den Mund halten.

»Meine Feinde packe ich ein gutes Stück härter an«, sagte Borken. »So hart, dass Sie sich das gar nicht vorstellen sollten. Das sollten Sie wirklich nicht, glauben Sie mir. Und warum bin ich so streng? Weil wir nur noch zwei Tage von einem einmaligen Augenblick in der Geschichte entfernt sind. Dinge werden geschehen, die die Welt verändern. Pläne werden ausgeführt, und die entsprechenden Operationen sind im Gang. Deshalb muss ich meine natürliche Vorsicht noch ein gutes Stück erhöhen. Mein alter Freund Loder ist einer historischen Macht zum Opfer gefallen. Und Sie, fürchte ich, sind das ebenfalls.«

Reacher sagte nichts. Er senkte den Blick und sah Loder an. Er war bewusstlos. Sein Atem ging keuchend, und das Blut lief ihm aus der Nase.

»Sind Sie als Geisel für mich etwas wert?«, fragte Borken.

Reacher dachte darüber nach. Gab keine Antwort. Borken musterte sein Gesicht und lächelte. Seine roten Lippen öffneten sich über kleinen weißen Zähnen.

»Ich denke nicht«, sagte er dann. »Was soll ich also mit jemandem machen, der als Geisel für mich wertlos ist? In einem Augenblick großer historischer Spannung?«

Reacher blieb stumm. Beobachtete bloß. Verlagerte sein Gewicht ganz vorsichtig nach vorn, machte sich bereit.

»Sie denken wohl, Sie sollen jetzt auch mit Fußtritten traktiert werden?«, fragte Borken.

Reacher spannte die Beinmuskeln an und war bereit, aufzuspringen.

»Ganz ruhig«, sagte Borken. »Wenn die Zeit kommt, kriegen Sie eine Kugel durch den Kopf. Von hinten. Ich bin nicht dumm, wissen Sie. Ich habe Augen im Kopf und ein Gehirn. Wie groß sind Sie? Ungefähr eins neunzig? Etwa hundert Kilo? Ganz offensichtlich fit und stark. Und man braucht Sie ja bloß anzusehen, angespannte Schenkelmuskeln, bereit, aufzuspringen. Ganz offensichtlich irgendwie ausgebildet. Aber Sie sind kein Boxer. Weil Ihre Nase nämlich nie gebrochen wurde. Ein Schwergewicht wie Sie, mit einer ungebrochenen Nase, müsste ein phänomenales Talent sein, und da hätten wir ganz sicherlich Ihr Bild in den Zeitungen gesehen. Also sind Sie einfach ein Raufbold, wahrscheinlich beim Militär gewesen, stimmt’s? Also werde ich mit Ihnen vorsichtig sein. Keine Fußtritte, bloß eine Kugel.«

Die Wachen griffen das Stichwort auf. Sechs Maschinenpistolen senkten sich, richteten sich auf ihn, und sechs Finger legten sich um sechs Abzüge.

»Haben Sie ein Strafregister?«, fragte Borken.

Reacher zuckte die Schultern und redete jetzt zum erstenmal.

»Nein«, sagte er.

»Anständiger Bürger?«, fragte Borken.

Reacher zuckte erneut die Schultern.

»Schätze schon«, erwiderte er.

Borken nickte.

»Ich werde also darüber nachdenken«, sagte er. »Ob Leben oder Tod. Ich sage Ihnen Bescheid, gleich morgen früh. Okay?«

Er hob seinen mächtigen Arm und schnippte mit den Fingern. Fünf von den sechs Wachen bewegten sich. Zwei gingen zur Tür und öffneten sie. Ein dritter ging zwischen den beiden hinaus. Die beiden anderen warteten. Borken stand für einen Mann seines Umfangs überraschend gelenkig auf und kam hinter dem Schreibtisch hervor. Die Bodenbretter ächzten unter seinem Gewicht. Die vier wartenden Wachen bauten sich hinter ihm auf, und dann ging er, ohne sich noch einmal umzusehen, in die Nacht hinaus.

Er ging quer über die Lichtung und betrat dort eine andere Hütte. Fowler wartete mit den Kopfhörern in der Hand auf ihn.

»Ich glaube, dass jemand hineingegangen ist«, sagte er.

»Sie glauben?«, fragte Borken.

»Die Dusche lief«, sagte Fowler. »Jemand ist hineingegangen, der über die Mikrophone Bescheid weiß. Sie brauchte doch nicht noch einmal zu duschen, oder? Jemand ist hineingegangen und hat die Dusche eingeschaltet, damit man nicht hören konnte, was geredet wurde.«

»Wer?«, fragte Borken.

Fowler schüttelte den Kopf.

»Ich weiß nicht, wer es war«, sagte er. »Aber ich kann versuchen, das herauszufinden.«

Borken nickte.

»Ja, das können Sie«, sagte er. »Sie können versuchen, das herauszufinden.«

 

In den Unterkunftshütten waren Männer und Frauen im Halbdunkel damit beschäftigt, ihre Karabiner zu reinigen. Das mit Loder hatte sich schnell herumgesprochen. Alle wussten von dem Tribunal. Alle wussten, wie es wahrscheinlich ausgehen würde. Beliebige sechs von ihnen konnten für das Erschießungskommando ausgewählt werden. Falls es ein Erschießungskommando geben würde. Die meisten hielten das für höchst wahrscheinlich. Bei einem Offizier wie Loder konnte es sein, dass der Kommandant sich mit einem Erschießungskommando begnügte. Wahrscheinlich würde es zu nichts Schlimmerem kommen. Also reinigten sie alle ihre Karabiner und stellten sie dann gesichert und geladen neben ihre Betten.

Diejenigen von ihnen, die über eine genügend große Zahl von Minuspunkten verfügten, um am nächsten Tag zu dem Erschießungskommando eingeteilt zu werden, bemühten sich, etwas Schlaf zu finden. Wenn Borken sich nicht mit einem Erschießungskommando begnügte, stand ihnen möglicherweise eine Menge Arbeit bevor. Unappetitliche, unangenehme Arbeit. Und selbst wenn Loder mit dem Leben davonkam, war da immer noch dieser andere Mann. Der große, der mit der FBI-Schlampe angekommen war. Die Chance, dass er den morgigen Tag über die Frühstückszeit hinaus überlebte, war gering. Sie konnten sich nicht daran erinnern, wann das letzte Mal ein Fremder länger als bis nach dem Frühstück am Leben geblieben war.

 

Holly Johnson hatte ein festes Prinzip. Ein Prinzip, das ihr in Fleisch und Blut übergegangen war, so wie ein Familienmotto. Die lange Ausbildung, die sie in Quantico durchgemacht hatte, hatte dieses Prinzip noch verstärkt. Es war wie ein Destillat aus Tausenden von Jahren Militärgeschichte und Hunderten von Jahren Erfahrung im Vollzug der Gesetze. Und dieses Prinzip lautete: Hoffe auf das Beste, aber stelle deine Pläne auf das Schlimmste ab.

Sie hatte keinen Grund, nicht daran zu glauben, dass sie in einem Jeep nach Süden unterwegs sein würde, sobald ihr neuer Verbündeter das einrichten konnte. Er war vom FBI ausgebildet, ebenso wie sie. Sie wusste, dass sie, wenn die Vorzeichen anders lauten würden, ihn herausholen würde, ohne jede Frage. Also wusste sie, dass sie einfach in aller Ruhe abwarten konnte. Aber genau das tat sie nicht. Sie hoffte auf das Beste, rechnete aber mit dem Schlimmsten.

Das Bad hatte sie aufgegeben. Dort gab es keinen Ausweg. Jetzt sah sie sich den Raum selbst an, Zentimeter für Zentimeter. Die neuen Fichtenbretter waren fugenlos auf das Gebälk darunter genagelt, alle sechs Flächen. Einfach unglaublich. Zolldicke Fichtenbretter, die älteste Technik, die man sich vorstellen konnte, seit zehntausend Jahren im Einsatz, und es gab keine Möglichkeit, zu entkommen. Für eine auf sich allein gestellte Frau ohne jegliches Werkzeug hätten diese Bretterwände ebensogut die Stahlschotten eines Schlachtschiffes sein können.

Also konzentrierte sie sich darauf, Werkzeug zu finden. Es war, als würde sie sich persönlich im Eilzugtempo durch den ganzen Entwicklungsprozess Darwins bewegen. Affen kletterten von den Bäumen herunter und fertigten sich Werkzeuge an. Sie konzentrierte sich auf das Bett. Die Matratze war nutzlos. Ein dünnes, zusammengequetschtes Ding ohne Drahtfedern. Der Rahmen des Betts war da vielversprechender. Er war aus Eisenrohren und Flanschen zusammengeschraubt. Wenn sie es schaffte, ihn zu zerlegen, konnte sie einen der kleinen, rechtwinkligen Flansche in das längste Rohr stecken und würde dann über eine zwei Meter lange Brechstange verfügen. Aber die Schrauben waren alle überlackiert. Sie hatte kräftige Hände, schaffte es aber nicht, eine der Schrauben zu lockern. Sie schürfte sich dabei bloß die Finger auf, die schweißnass immer wieder abrutschten.

 

Loder war weggeschleppt worden und Reacher fand sich alleine mit der letzten verbliebenen Wache eingeschlossen. Der Mann saß hinter dem Schreibtisch und hatte seine Waffe so auf die Tischplatte gelegt, dass die Mündung direkt auf Reacher zeigte, der auf seinem Stuhl saß. Seine Hände steckten immer noch hinter seinem Rücken in Handschellen. Er musste Entscheidungen treffen. Die erste war, dass er unter keinen Umständen die ganze Nacht so sitzen bleiben wollte. Er sah den Wächter ruhig an, richtete sich langsam auf und schob seine Hände unten durch. Presste seine Brust auf seine Schenkel und zog die Hände unter den Füßen durch. Dann setzte er sich auf, lehnte sich zurück und zwang sich zu einem Lächeln, die Hände jetzt, immer noch in den Handschellen, auf seinem Schoß liegend.

»Lange Arme«, sagte er. »Nützlich.«

Der Wächter nickte langsam. Er hatte kleine, durchdringende Augen, die tief in einem schmalen Gesicht saßen. Sie funkelten über seinem buschigen Bart und unter der Tarnbemalung, aber das Funkeln wirkte einigermaßen unschuldig.

»Wie heißen Sie?«, fragte ihn Reacher.

Der Mann zögerte. Rutschte auf seinem Stuhl herum. Reacher konnte erkennen, dass ihn jetzt eine Anwandlung natürlicher Höflichkeit zu einer Antwort drängte. Aber andererseits gab es da auch naheliegende taktische Erwägungen. Reacher lächelte immer noch gezwungen.

»Ich heiße Reacher«, sagte er. »Sie kennen also meinen Namen. Haben Sie auch einen? Wir sind die ganze Nacht hier, also können wir das doch auch ein wenig zivilisierter angehen, oder?«

Wieder nickte der Mann, ganz langsam. Dann zuckte er die Schultern.

»Ray«, sagte er.

»Ray?« wiederholte Reacher. »Ist das Ihr Vorname oder Ihr Familienname?«

»Das Letztere«, sagte der Mann. »Joseph Ray.«

Reacher nickte.

»Okay, Mr. Ray«, sagte er. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

»Sagen Sie Joe zu mir«, erklärte Joseph Ray.

Wieder zwang sich Reacher zu einem Lächeln. Das Eis war gebrochen. So, als ob man ein Verhör führte. Reacher hatte das tausend Mal getan. Aber nie von dieser Seite des Schreibtisches aus. Nie wenn er derjenige war, der die Handschellen trug.

»Joe, Sie werden mir ein wenig behilflich sein müssen«, sagte er. »Ich brauche einige Hintergrundinformationen. Ich weiß nicht, wo ich bin oder warum oder wer ihr alle seid. Können Sie mir ein bisschen helfen?«

So wie Ray ihn ansah, wusste der ganz offenbar nicht, wo er anfangen sollte. Dann sah er sich in dem Raum um, als würde er sich fragen, ob es ihm überhaupt erlaubt war, anzufangen.

»Wo genau sind wir?«, fragte ihn Reacher. »Das dürfen Sie mir doch sagen, oder?«

»Montana«, erklärte Ray.

Reacher nickte.

»Okay«, sagte er. »Wo in Montana?«

»In der Nähe einer Ortschaft, die sich Yorke nennt«, erklärte Ray. »Eine alte Bergwerksansiedlung, praktisch verlassen.«

Reacher nickte wieder.

»Okay«, sagte er. »Und was machen Sie und Ihre Kameraden hier?«

»Wir bauen eine Bastion«, sagte Ray. »Einen Ort, der nur uns gehört.«

»Wofür?«, wollte Reacher wissen.

Ray zuckte die Schultern. Sehr gesprächig war der Mann nicht. Zuerst sagte er gar nichts. Dann beugte er sich vor und fing an, etwas herunterzuleiern, was Reacher wie auswendig gelernt vorkam, etwas, was dieser Mann regelrecht eingeübt hatte. Oder jedenfalls etwas, was man ihm oft vorgetragen hatte.

»Wir sind hierher gekommen, um der Tyrannei Amerikas zu entkommen«, sagte er. »Wir müssen unsere eigenen Grenzen ziehen und zeigen, dass es hier drinnen anders sein wird.«

»Inwiefern anders?«, fragte ihn Reacher.

»Wir müssen Amerika zurückgewinnen, Stück für Stück«, erwiderte Ray. »Wir müssen eine Gemeinschaft aufbauen, wo der weiße Mann frei und unbelästigt und in Frieden leben kann, mit den angemessenen Freiheiten und den angemessenen Gesetzen.«

»Und Sie glauben, das können Sie?«, fragte Reacher.

»Es ist schließlich schon einmal geschehen«, sagte Ray. »Das war 1776. Die Leute haben damals gesagt, genug ist genug. Sie haben gesagt, wir wollen ein besseres Land haben. Und jetzt sagen wir das wieder. Wir sagen, dass wir unser Land zurückwollen. Und wir werden es zurückbekommen. Weil wir jetzt gemeinsam handeln. Hier hat es einmal ein Dutzend Milizen gegeben. Alle wollten dasselbe. Aber alle haben für sich alleine gehandelt. Beau hat sich vorgenommen, die Leute zusammenzubringen. Jetzt sind wir vereint und werden uns unser Land zurückholen. Und hier fangen wir an. Wir fangen jetzt an.«

Reacher nickte. Er blickte nach rechts auf den Fußboden, zu dem dunklen Fleck, wo Loders Nase geblutet hatte.

»So?« sagte er. »Und was ist mit Abstimmen und mit Demokratie? Und all dem Zeug? Sollte man nicht die Leute durch Abstimmen aus ihren Ämtern verjagen und neue Leute einsetzen können?«

Ray lächelte bedrückt und schüttelte den Kopf.

»Wir haben jetzt seit zweihundertzwanzig Jahren immer wieder abgestimmt«, sagte er. »Und die ganze Zeit wird es immer schlimmer. Die Regierung interessiert sich nicht dafür, wie wir abstimmen. Sie haben uns alle Macht weggenommen. Sie haben unser Land weggegeben. Wissen Sie, wo die Regierung dieses Landes wirklich sitzt?«

Reacher hob die Schultern.

»In Washington, oder?«, sagte er.

»Falsch.« Ray schüttelte den Kopf. »In New York. Das UNO-Gebäude. Haben Sie sich je gefragt, weshalb das UNO-Gebäude so nahe bei der Wall Street steht? Weil das die Regierung ist. Die Vereinten Nationen und die Banken. Die haben in der Welt das Sagen. Amerika ist bloß ein kleines Stück davon. Der Präsident ist bloß eine Stimme in einem verdammten Komitee. Deshalb taugen Abstimmungen nichts. Denken Sie vielleicht, die Vereinten Nationen und die Weltbanken scheren sich einen Teufel darum, wie wir abstimmen?«

»Und Sie sind überzeugt, dass es so ist?«, fragte Reacher.

Ray nickte heftig.

»Klar bin ich überzeugt«, sagte er. »Ich habe gesehen, wie es läuft. Warum glauben Sie wohl, schicken wir Milliarden Dollar an die Russen, wo es doch hier in Amerika genug Armut gibt? Glauben Sie, dass das die freie Entscheidung einer amerikanischen Regierung ist? Wir schicken das Geld, weil die Weltregierung sagt, dass wir das tun sollen. Wissen Sie, dass wir hier Lager haben? Hunderte von Lagern im ganzen Land? Die meisten davon sind für Truppen der Vereinten Nationen bestimmt. Ausländische Truppen, die bloß darauf warten, einzumarschieren, wenn wir irgendwelche Schwierigkeiten machen. Aber dreiundvierzig davon sind Konzentrationslager. Und dort werden sie uns hinstecken, wenn wir anfangen, unsere Stimme zu erheben.«

»Sind Sie da sicher?«, fragte Reacher erneut.

»Na klar bin ich mir sicher«, antwortete Ray. »Beau hat die entsprechenden Dokumente. Wir haben Beweise. Da sind Dinge im Gange, die Sie niemals glauben würden. Wissen Sie, dass es ein geheimes Bundesgesetz gibt, das verordnet, dass sämtliche Babys, die in der Klinik geboren werden, einen Mikrochip unter der Haut eingepflanzt bekommen? Wenn die sie der Mutter wegnehmen, dann wiegen sie sie nicht etwa und waschen sie, nein, sie setzen ihnen einen Mikrochip ein. In Kürze wird es so weit sein, dass die ganze Bevölkerung von geheimen Satelliten angepeilt werden kann. Glauben Sie, dass das Space Shuttle für wissenschaftliche Experimente eingesetzt wird? Glauben Sie vielleicht, die Weltregierung würde für solche Sachen Geld bewilligen? Das bilden Sie sich doch bloß ein! Das Space Shuttle dient dazu, Überwachungssatelliten abzusetzen.«

»Sie machen sich jetzt über mich lustig, oder?«, sagte Reacher.

Ray schüttelte den Kopf.

»Nein, ganz bestimmt nicht«, fuhr er fort. »Beau hat schriftliche Beweise für alles. Und dann gibt es da noch ein geheimes Gesetz; jemand in Detroit hat es Beau geschickt. Jedes Auto, das seit 1985 in Amerika gebaut wurde, hat einen geheimen Funksender eingebaut, damit die Satelliten feststellen können, wo es hinfährt. Wenn Sie ein Auto kaufen, dann wissen die Radarschirme im UN-Gebäude, wo Sie sind, und zwar jede Minute, Tag und Nacht. Im Augenblick werden ausländische Streitkräfte hier in Amerika ausgebildet, die sich auf die offizielle Übernahme vorbereiten. Wissen Sie, weshalb wir so viel Geld nach Israel schicken? Nicht etwa weil es uns wichtig ist, was aus den Israelis wird. Warum sollte es das auch? Wir schicken ihnen das Geld, weil die UNO dort die geheime Weltarmee ausbildet. Das ist eine Art Versuchsstation. Warum glauben Sie denn, dass die UNO die Israelis nie daran hindert, in anderen Ländern einzufallen? Weil die UNO ihnen das aufgetragen hat. Sie bildet sie für die Übernahme der ganzen Welt aus. Im Augenblick gibt es dreitausend Hubschrauber auf Stützpunkten überall in den USA, die bloß darauf warten, dass sie von ihnen eingesetzt werden. Hubschrauber mit schwarzem Anstrich, ohne jede Markierung.«

»Sind Sie da sicher?«, fragte Reacher erneut. Sein Tonfall lag irgendwo zwischen Besorgnis und Skepsis. »Ich habe all das noch nie gehört.«

»Das beweist es doch, oder?«, sagte Ray.

»Warum?«, fragte Reacher.

»Liegt doch wohl auf der Hand«, meinte Ray. »Denken Sie vielleicht, die Weltregierung würde zulassen, dass die Medien ihre Nase in diese Sachen stecken? Die Weltregierung kontrolliert doch die Medien, oder? Sie haben sie in der Tasche. Also ist es doch logisch, dass alles das, was nicht in den Medien erscheint, in Wirklichkeit so abläuft, nicht wahr? Die liefern einem bloß all das ungefährliche Zeug, und die Geheimnisse halten sie vor uns versteckt. Das ist alles wahr, glauben Sie mir. Ich hab Ihnen doch gesagt, Beau hat die Dokumente. Wussten Sie, dass jede einzelne Verkehrstafel an den Highways auf der Rückseite eine geheime Markierung trägt? Fahren Sie doch hinaus und sehen Sie es sich selbst an. Ein geheimes Zeichen, um die Welttruppen im Land herumzudirigieren. Die bereiten sich darauf vor, unser Land zu übernehmen. Und deshalb brauchen wir einen Ort, der nur uns gehört.«

»Sie denken, die werden Sie angreifen?«, fragte Reacher.

»Keine Frage«, sagte Ray. »Die werden auf uns losgehen.«

»Und Sie denken, Sie können sich verteidigen?«, fragte Reacher. »Ein paar Leute in einer kleinen Ortschaft in Montana?«

Joe Ray schüttelte den Kopf.

»Nicht ein paar Leute«, sagte er. »Es gibt Hunderte von uns.«

»Hundert Leute?«, sagte Reacher. »Gegen die Weltregierung?«

Ray schüttelte erneut den Kopf.

»Wir können uns verteidigen«, sagte er. »Beau ist ein tüchtiger Führer. Dieses Gelände ist gut. Wir befinden uns hier in einem Tal. Sechzig Meilen in Nord-Süd-Richtung, sechzig Meilen in Ost-West-Richtung. Und die kanadische Grenze liegt an seinem Nordrand.«

Er bewegte seine Hand ruckartig in Kopfhöhe von links nach rechts wie bei einem Karateschlag, um damit die geografische Lage zu demonstrieren. Reacher nickte. Er war mit der kanadischen Grenze vertraut. Ray benutzte seine andere Hand, die er von oben nach unten bewegte, um den linken Rand seiner unsichtbaren Landkarte zu kennzeichnen.

»Rapid River«, sagte er. »Das ist unsere Westgrenze. Ein großer Fluss, ganz wild. Man kann ihn nicht überqueren.«

Er bewegte die Hand, die die kanadische Grenze darstellte, zur Seite und beschrieb einen kleinen Kreis in der Luft, als würde er eine Glasscheibe säubern.

»Nationalpark«, sagte er. »Haben Sie ihn gesehen? Fünfzig Meilen in Ost-West-Richtung. Alles dichter Wald, ohne jegliche Straßen. Als Ostgrenze gibt es nichts Besseres als diesen Wald.«

»Und was liegt im Süden?«, fragte Reacher.

Ein weiterer Karateschlag auf Brusthöhe, quer.

»Eine Schlucht«, sagte er. »Eine natürliche Panzersperre. Glauben Sie mir, ich verstehe etwas von Panzern. Es gibt da bloß eine Straße und ein Bahngleis. Das Bahngleis führt auf einer Holzbrücke über die Schlucht.«

Reacher nickte. Er erinnerte sich daran, wie der weiße Lieferwagen über eine Art Holzbrücke gepoltert war.

»Die Brücke wird in die Luft gejagt«, sagte Ray. »Dann gibt es keinen Zugang mehr.«

»Und was ist mit der Straße?«, erkundigte sich Reacher.

»Das Gleiche«, sagte Ray. »Wir jagen die Brücke samt der Straße in die Luft und sind in Sicherheit. Die Sprengladungen sind bereits angebracht.«

Reacher nickte langsam. Er dachte an einen Angriff aus der Luft, an Artillerie, an Lenkwaffen, die Infiltration durch Spezialeinheiten, Luftlandetruppen, Fallschirmspringer. Er dachte daran, wie SEALs der Marine eine Brücke über den Fluss schlugen oder vielleicht Marines eine Brücke über die Schlucht. Er dachte an Einheiten der NATO, die aus Kanada nach Süden in Marsch gesetzt wurden.

»Was ist mit Holly?«, fragte er. »Was haben Sie mit ihr vor?«

Ray lächelte. Sein Bart schob sich auseinander, und seine Zähne blitzten so hell wie seine Augen.

»Beaus Geheimwaffe«, sagte er. »Überlegen Sie doch! Die Weltregierung wird ihren alten Herrn dazu einsetzen, um den Angriff zu führen. Deshalb hat man ihn schließlich ernannt. Denken Sie etwa, dass der Präsident diese Typen ernennt? Das glauben Sie doch wohl selbst nicht. Der alte Johnson arbeitet für die Weltregierung und wartet bloß auf das geheime Kommando zum Losschlagen. Aber wenn er hierher kommt, was meinen Sie wohl, was er dann vorfindet?«

»Was?«, fragte Reacher.

»Er kommt aus dem Süden, stimmt’s?«, sagte Ray. »Das erste Gebäude, das er sieht, ist dieser alte Gerichtsbau an der Süd-West-Ecke der Ortschaft. Sie waren gerade dort. Und die Frau befindet sich im ersten Stock, ja? Haben Sie gesehen, was man dort gebaut hat? Einen speziellen Raum, doppelte Wände mit vierzig Zentimeter Luft dazwischen. Der Raum ist mit Dynamit und Sprengkapseln aus dem alten Bergwerkslager voll gestopft. Die erste Granate, und die Kleine des alten Johnson ist im Himmel.«

Reacher nickte wieder, ganz langsam. Ray sah ihn an.

»Wir verlangen doch nicht viel«, sagte er. »Sechzig Meilen mal sechzig Meilen, was ist das schon? Dreitausendsechshundert Quadratmeilen Gelände.«

»Aber warum gerade jetzt?«, fragte Reacher. »Weshalb all die Eile?«

»Welches Datum haben wir?«, konterte Ray.

Reacher zuckte die Schultern.

»Juli, aber den Tag weiß ich nicht«, sagte er.

»Zweiter Juli«, erklärte Ray. »Noch zwei Tage.«

»Bis wann?«, fragte Reacher.

»Bis zum Unabhängigkeitstag«, sagte Ray. »Dem vierten Juli.«

»Und?«, fragte Reacher.

»Dann erklären wir unsere Unabhängigkeit«, sagte Ray. »Übermorgen. Die Geburt einer völlig neuen Nation. Und dann werden sie kommen, stimmt’s? Freiheit für die kleinen Leute? Das passt nicht in die Pläne von denen.«