30
Harland Webster kam am Donnerstag um fünfzehn Uhr Ostküstenzeit wieder aus Colorado im Hoover Building an. Er begab sich sofort in sein Büro und sah sich die in seiner Abwesenheit eingegangenen Mitteilungen an. Dann drückte er den Summer für seine Sekretärin.
»Wagen«, sagte er.
Er fuhr mit seinem persönlichen Fahrstuhl in die Garage hinunter, wo sein Fahrer auf ihn wartete. Sie gingen gemeinsam zu der Limousine und stiegen ein.
»Weißes Haus«, sagte Webster.
»Sie treffen sich mit dem Präsidenten, Sir?«, fragte der Fahrer überrascht.
Webster sah mit finsterer Miene auf den Hinterkopf des Mannes. Er traf sich nicht mit dem Präsidenten. Er traf den Präsidenten nicht sehr oft. Und er brauchte niemanden, der ihn daran erinnerte, ganz bestimmt nicht einen dämlichen Fahrer, der schon überrascht wirkte, dass eine solche Möglichkeit überhaupt bestand.
»Generalbundesanwältin«, sagte er. »Sie hält sich gerade im Weißen Haus auf.«
Sein Fahrer nickte stumm. Verwünschte sich selbst dafür, dass er den Mund nicht hatte halten können. Fuhr langsam und unauffällig weiter. Die Entfernung zwischen dem Hoover Building und dem Weißen Haus betrug genau sechzehnhundert Meter. Nicht ganz eine Meile. Nicht einmal weit genug, dass die kleine Ziffer im Tachometer auf dem Armaturenbrett der Limousine weitersprang. Zu Fuß zu gehen wäre schneller gegangen. Und billiger gewesen. Den kalten Achtzylinder anzulassen und ihn mitsamt seiner Panzerung sechzehnhundert Meter weit zu bewegen verschlang eine ganze Menge Benzin. Aber der Direktor konnte nirgends zu Fuß hingehen. Nach allgemein verbreiteter Theorie würde er ermordet werden. Tatsächlich gab es wahrscheinlich etwa acht Leute in der ganzen Stadt, die ihn überhaupt erkennen könnten. Nur so ein weiterer Washingtoner Bürokratentyp im grauen Anzug mit unauffälliger Krawatte. Anonym. Auch ein Grund, weshalb der alte Webster nie sonderlich gut gelaunt ist, dachte sein Fahrer.
Webster kannte die Generalbundesanwältin recht gut. Sie war seine Vorgesetzte, aber dass er sie so gut kannte, war nicht etwa auf ihre persönlichen Besprechungen zurückzuführen. Das kam vielmehr von den gründlichen Untersuchungen, die das Büro vor ihrer Bestätigung im Amt durchgeführt hatte. Webster wusste wahrscheinlich mehr über sie als irgendjemand sonst auf der ganzen Welt. Ihre Eltern und Freunde und Freundinnen und ihre ehemaligen Kollegen kannten sie jeweils aus ihrer eigenen, ganz speziellen Perspektive. Webster hatte all diese Perspektiven zusammengeführt und verfügte über das ganze Bild. Ihre FBI-Akte nahm etwa gleich viel Raum auf einer Diskette ein wie ein ganzer Roman. In dieser Datei gab es nichts, was sie ihm unsympathisch machte. Zu Anfang ihrer Karriere war sie eine ziemlich radikale Rechtsanwältin gewesen, hatte sich eine ordentliche Praxis aufgebaut, ein Richteramt erhascht und sich nie bei den Vollzugsbehörden unbeliebt gemacht. Eine ideale Besetzung, deren Bestätigung durch den Kongress überhaupt keine Probleme bereitet hatte. Und seitdem hatte sie sich als gute Vorgesetzte und hervorragende Verbündete erwiesen. Ihr Name war Ruth Rosen, und das einzige Problem, das Webster mit ihr hatte, war, dass sie zwölf Jahre jünger war als er, sehr gut aussah und wesentlich prominenter war, als er das von sich behaupten konnte.
Sie waren um sechzehn Uhr verabredet. Er fand Rosen allein in einem kleinen Raum, zwei Stockwerke und acht Secret-Service-Agenten vom Oval Office entfernt. Sie begrüßte ihn mit einem gezwungenen Lächeln und sah ihn dann erwartungsvoll an.
»Holly?«, fragte sie.
Er nickte. Und lieferte ihr die ganze Geschichte von Anfang bis Ende. Sie hörte aufmerksam zu, wurde blass und presste die Lippen zusammen.
»Und wir sind völlig sicher, dass sie dort ist?«, fragte sie.
Er nickte wieder.
»So sicher man nur sein kann«, sagte er.
»Okay«, nickte sie. »Warten Sie hier, ja?«
Sie verließ den kleinen Raum. Webster wartete. Zehn Minuten, dann zwanzig, schließlich eine halbe Stunde. Er ging auf und ab. Sah zum Fenster hinaus. Dann öffnete er die Tür und schaute in den Korridor. Ein Mann vom Secret Service stand dort und sah ihn an. Trat einen Schritt vor. Webster schüttelte den Kopf, beantwortete damit die Frage, die der Mann gar nicht gestellt hatte, und schloss die Tür wieder. Setzte sich wieder hin und wartete.
Ruth Rosen war eine Stunde weg. Dann kam sie zurück und schloss die Tür. Und dann stand sie da, einen Meter von der Tür entfernt, bleich, schwer atmend, sichtlich vom Schock gezeichnet. Sie sagte nichts. Ließ ihn nur erkennen, dass es offenbar ein großes Problem gab.
»Was?«, fragte er.
»Ich bin aus dieser Sache raus«, sagte sie.
»Was?«, fragte er ein zweitesmal.
»Die haben mich da rausgenommen«, sagte sie. »Meine Reaktionen waren falsch. Dexter übernimmt das von jetzt an.«
»Dexter?«, wiederholte er.
Dexter war der Stabschef des Präsidenten. Ein typischer politischer Manipulator der alten Schule. Knochenhart und halb so sentimental, aber er war der Hauptgrund, dass der Präsident dort im Oval Office saß und die Mehrzahl der Wählerstimmen bekommen hatte.
»Es tut mir wirklich sehr Leid, Harland«, sagte Ruth Rosen. »Er ist in einer Minute hier.«
Webster nickte mürrisch, und sie ging hinaus und ließ ihn wieder warten.
Die Beziehung zwischen dem restlichen FBI und dem Field Office in Butte, Montana, entspricht etwa der Beziehung zwischen Moskau und Sibirien, um es einmal bildhaft auszudrücken. Einer der Standardwitze des FBI lautet: ›Du brauchst nur Mist zu bauen, und die setzen dich morgen in Butte ein.‹ Eine Art internes Exil. So wie das KGB angeblich Leute, die Mist gebaut hatten, nach Sibirien schickte, um dort Parkzettel zu schreiben.
Aber an jenem Donnerstag, dem dritten Juli, kam McGrath, Milosevic und Brogan das Field Office in Butte wie der Mittelpunkt des Universums vor. Man konnte das Gefühl haben, als wäre es der erstrebenswerteste Posten in der ganzen Welt. Keiner der drei war je zuvor dort gewesen. Nicht dienstlich und nicht im Urlaub. Keiner von ihnen hätte je in Erwägung gezogen, dorthin zu reisen. Aber im Augenblick spähten sie aus den Fenstern des Air-Force-Hubschraubers wie Kinder, die nach Disneyland unterwegs sind. Sie blickten auf die Landschaft, die unter ihnen vorbeizog, und ihr Blick wanderte immer wieder nach Nordwesten, wo, wie sie wussten, sich hinter fernen Nebelschleiern Yorke County verbarg.
Der Resident Agent in Butte war ein tüchtiger Veteran des FBI, der nach einem persönlichen Anruf von Harland Webster unmittelbar aus dem Hoover Building immer noch ein wenig verwirrt war. Seine Anweisung lautete, die drei Agenten aus Chicago zu seinem Büro zu fahren, sie unterwegs auf den neuesten Kenntnisstand zu bringen, zwei Jeeps für sie zu mieten und sich anschließend aus allem, was sie taten, herauszuhalten. Also wartete er auf dem Silver Bow County Airport, als der schwarze Helikopter der Air Force herangeklappert kam. Er packte die Agenten in seinen Dienstwagen und brauste mit ihnen in nördlicher Richtung davon.
»Die Entfernungen hier draußen sind ziemlich groß«, sagte er zu McGrath. »Das sollten Sie nie vergessen. Wir sind immer noch zweihundertvierzig Meilen von Yorke entfernt. Auf unseren Straßen sind das vier Stunden, das ist das absolute Minimum. An Ihrer Stelle würde ich mir ein paar mobile Einheiten besorgen und ein gutes Stück näher rangehen. Wenn Sie Ihren Stützpunkt hier unten aufschlagen, wird Ihnen das nicht sehr viel helfen, nicht, wenn es dort droben echten Zoff gibt.«
McGrath nickte.
»Haben Sie wieder von Jackson gehört?«, erkundigte er sich.
»Nicht seit Montag«, meinte der Resident Agent. »Seit der Dynamitgeschichte.«
»Wenn er das nächste Mal anruft, spricht er mit mir, okay?«, sagte McGrath.
Der Mann aus Butte nickte. Suchte mit einer Hand in der Tasche herum, während er fuhr. Zog ein kleines Funkgerät heraus. McGrath nahm es ihm ab, und steckte es selbst in die Tasche.
»Aber gern«, meinte der Mann aus Butte. »Ich habe Urlaub. Anweisung von Webster. Aber nicht dass Sie glauben, Jackson ruft oft an. Er ist sehr vorsichtig.«
Das Field Office bestand aus einem einzigen Raum im Obergeschoss eines zweistöckigen Verwaltungsgebäudes. Ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein Computer, eine große Karte von Montana an der Wand, eine Menge Ablageregale und ein klingelndes Telefon. McGrath nahm den Hörer ab und meldete sich. Dann hörte er zu und ließ einen Grunzlaut hören. Legte auf und wartete, dass der Resident Agent den Hinweis verstand.
»Okay, ich bin schon weg«, sagte der schließlich. »Die Firma Silver Bow Jeep wird Ihnen zwei Fahrzeuge liefern. Wollen Sie sonst noch etwas?«
»Allein sein«, erklärte Brogan.
Der Mann nickte und sah sich in seinem Büro um. Dann schloss sich die Tür hinter ihm.
»Die Air Force hat zwei Spionageflugzeuge eingesetzt«, sagte McGrath. »Satellitengerät kommt per Achse. Der General und sein Adjutant erscheinen ebenfalls. So wie es aussieht, werden sie für die Dauer des Einsatzes unsere Gäste sein. Dagegen kann man wohl nichts machen, oder?«
Milosevic studierte die Landkarte an der Wand.
»Das sollte man auch gar nicht tun«, sagte er. »Wir werden auf ein paar Gefälligkeiten angewiesen sein. Habt ihr beide schon jemals eine schlimmere Gegend erlebt?«
McGrath und Brogan traten neben ihn vor die Landkarte. Milosevic’ Zeigefinger lag auf Yorke. Ringsum war bloß braunes und grünes Terrain zu sehen.
»Viertausend Quadratmeilen«, sagte Milosevic. »Eine Straße und ein Bahngleis.«
»Die haben sich den Platz gut gewählt.« Brogan nickte.
»Ich habe mit dem Präsidenten gesprochen«, sagte Dexter.
Er lehnte sich zurück und wartete. Webster starrte ihn an. Was zum Teufel hätte er wohl sonst tun sollen? Die Blumen im Rosengarten stutzen? Dexter starrte zurück. Er war klein, dunkel, ein wenig verkrümmt, so wie man eben aussieht, wenn man jede wache Minute eines jeden Tages damit verbringt, sich über alle denkbaren Eventualitäten den Kopf zu zerbrechen.
»Und?«, sagte Webster.
»In diesem Land gibt es sechsundsechzig Millionen Waffenbesitzer«, erklärte Dexter.
»Und?«, sagte Webster erneut.
»Unsere Analysten sind der Ansicht, dass die alle gewisse Sympathien miteinander teilen«, antwortete Dexter.
»Was für Analysten?«, fragte Webster. »Was für Sympathien?«
»Es hat da eine Befragung gegeben«, erwiderte Dexter. »Haben wir Ihnen kein Exemplar davon geschickt? Einer von fünf Erwachsenen wäre bereit, gegen die Regierung zu den Waffen zu greifen, wenn es unbedingt nötig wäre.«
»Und?«, fragte Webster, jetzt zum drittenmal.
»Dann gab’s da noch eine Befragung«, sagte Dexter. »Eine einfache Frage, die intuitiv beantwortet werden musste, aus dem Bauch heraus, sozusagen. Wer hat recht, die Regierung oder die Milizen?«
»Und?«
»Zwölf Millionen Amerikaner haben für die Milizen Partei ergriffen«, erklärte Dexter.
Webster starrte ihn an. Wartete auf die Botschaft, die jetzt kommen musste.
»Also«, sagte Webster. »Irgendwo zwischen zwölf und sechsundsechzig Millionen Stimmberechtigte.«
»Was ist mit ihnen?«, fragte Webster.
»Und wo sind sie?«, fragte Dexter zurück. »In Washington oder New York werden Sie nicht viele davon finden, und auch nicht in Boston oder L.A. Die Befragung liegt ein wenig schief. An manchen Orten sind sie eine winzige Minderheit. Spinner eben. Aber an anderen Orten stellen sie die Mehrheit dar. Und wiederum an anderen Orten sind sie absolut normal, Harland.«
»Und?«, fragte der erneut.
»In manchen Gegenden kontrollieren sie ganze Countys«, sagte Dexter. »Sogar ganze Staaten.«
Webster starrte ihn an.
»Herrgott noch mal, Dexter, hier geht es nicht um Politik«, sagte er. »Hier geht es um Holly.«
Dexter reagierte nicht gleich und sah sich in dem kleinen Raum im Weißen Haus um. Er war in gebrochenem Weiß getüncht. Alle paar Jahre war er in derselben Farbe neu getüncht worden, während Präsidenten gekommen und gegangen waren. Dexter lächelte kennerhaft.
»Bedauerlicherweise ist alles Politik«, sagte er. »Es geht um Emotionen. Denken Sie doch mal über unschuldige kleine emotionale Wörter nach – Wörter wie Patriot, Widerstand, Untergrund, Kampf, Unterdrückung, Individuum, Misstrauen, Rebell, Revolte, Revolution, Rechte. Diese Wörter haben alle etwas Majestätisches an sich, finden Sie nicht? Im amerikanischen Kontext?«
Webster schüttelte stur den Kopf.
»Am Entführen von Frauen ist nichts Majestätisches«, sagte er. »Und genauso wenig an illegalen Waffen, illegalen Kampftruppen oder gestohlenem Dynamit. Daran ist nichts Majestätisches. Und das hat nichts mit Politik zu tun.«
Dexter schüttelte wieder den Kopf. Dieselbe kaum wahrnehmbare Bewegung.
»Die Dinge haben es an sich, zu Politik zu werden«, sagte er. »Denken Sie an Ruby Ridge. Denken Sie an Waco, Harland. Das war auch nicht Politik, stimmt’s? Aber es ist verdammt schnell Politik geworden. Wir haben uns dort bei vielleicht sechsundsechzig Millionen Wählern Schaden zugefügt. Und wir haben es wirklich dämlich angestellt. Was diese Leute wollen, das sind ja gerade große Reaktionen. Sie wissen, dass harte Gegenmaßnahmen die Leute ärgern und mehr Leute in ihre Reihen treiben. Und wir haben ihnen große Reaktionen geliefert. Wir haben Öl in ihr Feuer gegossen. Wir haben den Eindruck erweckt, als würde die Regierung mit ihrer ganzen Macht geradezu darauf brennen, kleine Leute fertig zu machen.«
In dem Raum trat Stille ein.
»Die Befragungen besagen, dass wir es besser machen müssen«, sagte Dexter. »Und wir geben uns alle Mühe, uns bessere Methoden einfallen zu lassen. Wirklich große Mühe. Wie würde es wohl aussehen, wenn das Weiße Haus diese Bemühungen einstellen würde, bloß weil hier zufällig Holly im Spiel ist? Und ausgerechnet jetzt? Am Wochenende des vierten Juli? Verstehen Sie denn überhaupt nichts? Denken Sie darüber nach, Harland. Denken Sie über die Reaktion nach. Denken Sie nach über Wörter wie rachsüchtig, eigensüchtig, Rache, persönlich, solche Wörter. Denken Sie, was solche Wörter in den Befragungen bewirken würden.«
Webster starrte ihn an. Die in gebrochenem Weiß getünchten Wände drohten ihn zu ersticken.
»Hier geht es um Holly, Herrgott noch mal«, sagte er. »Nicht um Befragungen. Und was ist mit dem General? Hat der Präsident ihm das alles auch gesagt?«
Dexter schüttelte den Kopf.
»Ich habe es ihm gesagt«, erklärte er. »Persönlich. Ein Dutzendmal. Er hat jede Stunde angerufen, jede volle Stunde.«
Webster dachte: Jetzt nimmt der Präsident nicht einmal mehr Johnsons Anrufe persönlich entgegen. Dexter hat ihn wirklich in der Tasche.
»Und?«, fragte er.
Dexter zuckte die Schultern. »Ich glaube, das Prinzip versteht er«, sagte er. »Aber sein Urteilsvermögen ist natürlich im Augenblick etwas beeinträchtigt. Er ist nicht gerade das, was man glücklich nennen könnte.«
Webster antwortete nicht. Er fing an gründlich nachzudenken. Als Bürokrat war er erfahren genug, um zu wissen, dass es einen Punkt gab, wo die andere Seite alle Trümpfe in der Hand hatte und wo man besser einen Weg suchte, mit ihr gemeinsame Sache zu machen. In einer solchen Situation zwang man sich am besten, so zu denken wie sie.
»Aber sie dort rauszuhauen könnte Ihnen gut tun«, sagte er. »Sehr gut sogar. Es würde hart, entschlossen, loyal aussehen. Zielstrebig. Das könnte vorteilhaft sein. In den Befragungen.«
Dexter nickte.
»Da bin ich mit Ihnen völlig einer Meinung«, erwiderte er. »Aber es ist riskant, nicht wahr? Sehr riskant sogar. Ein schneller Sieg ist gut, aber wenn wir Mist bauen, ist das eine Katastrophe. Ein äußerst riskantes Spiel, bei dem eine große Zahl von Wählern auf dem Spiel steht. Und im Augenblick zweifle ich daran, dass Sie uns den schnellen Sieg liefern können. Im Augenblick wissen Sie selbst nicht recht, was Sie tun sollen. Und deshalb würde ich im Augenblick eher darauf setzen, dass Sie Mist bauen.«
Webster starrte ihn an.
»Hey, nicht übel nehmen, Harland«, sagte Dexter. »Man bezahlt mich dafür, dass ich so denke, okay?«
»Was zum Teufel soll das bedeuten?«, fragte ihn Webster. »Ich muss das Geiselbefreiungsteam jetzt sofort an Ort und Stelle bringen.«
»Nein«, sagte Dexter.
»Nein?« wiederholte Webster ungläubig.
Dexter schüttelte den Kopf.
»Erlaubnis verweigert«, sagte er. »Für den Augenblick.«
Webster starrte ihn bloß an.
»Ich brauche einen Plan«, sagte er.
In dem Raum blieb es still. Dann fing Dexter zu reden an. Er sprach zu einem Punkt an der in gebrochenem Weiß getünchten Wand, etwa einen Meter links von Websters Stuhl.
»Sie behalten persönlich die Befehlsgewalt im Hinblick auf diese Situation«, sagte er. »Das Feiertagswochenende beginnt morgen. Sprechen Sie mich am Montag an. Wenn es dann noch ein Problem gibt.«
»Es gibt jetzt ein Problem«, sagte Webster. »Und ich spreche jetzt mit Ihnen.«
Dexter schüttelte wieder den Kopf.
»Nein, das tun Sie nicht«, sagte er. »Wir sind heute nicht zusammengekommen, und ich habe heute nicht mit dem Präsidenten gesprochen. Wir wussten heute nichts davon. Sagen Sie uns das alles am Montag, Harland, wenn es dann noch ein Problem gibt.«
Webster saß da und wusste nicht, was er denken sollte. Nicht dass es ihm an Intelligenz gefehlt hätte, aber in diesem Augenblick konnte er sich keinen Reim darauf machen, ob man ihm gerade die Chance seines Lebens oder eine Selbstmordpille geboten hatte.
Johnson und sein Adjutant trafen eine Stunde später in Butte ein. Sie kamen auf demselben Weg, per Air-Force-Hubschrauber von Peterson zum Silver Bow County Airport. Milosevic nahm ihren Anruf aus der Luft entgegen, als sie sich im Anflug befanden, und fuhr ihnen mit einem zwei Jahre alten Grand Cherokee entgegen, den ihnen der örtliche Händler zur Verfügung gestellt hatte. Auf der kurzen Fahrt zurück in die Stadt wurde kein Wort gesprochen. Milosevic fuhr bloß, und die beiden Militärs beugten sich über Landkarten aus einem großen Lederfutteral, das der Adjutant bei sich hatte. Sie reichten sie hin und her und nickten immer wieder, als ob es keines weiteren Kommentars bedürfe.
Der Raum im Obergeschoss des Verwaltungsgebäudes war plötzlich überfüllt. Fünf Männer und zwei Stühle. Das einzige Fenster im Raum blickte nach Südosten über die Straße. Die falsche Richtung. Die fünf Männer sahen instinktiv auf die leere Wand gegenüber dem Fenster. Dahinter, zweihundertvierzig Meilen entfernt, war Holly.
»Wir müssen unseren Stützpunkt nach dort oben verlegen«, sagte General Johnson.
Sein Adjutant nickte.
»Hier bleiben hat keinen Sinn«, meinte er.
McGrath hatte eine Entscheidung getroffen. Er hatte sich fest vorgenommen, keine Zuständigkeitsauseinandersetzungen zu führen. Seine Agentin war Johnsons Tochter. Er konnte dem alten Knaben nachfühlen, wie ihm zumute war, und würde keine Zeit und Energie darauf vergeuden, jetzt zu beweisen, wer das Sagen hatte. Und er war auf die Hilfe dieses alten Knaben angewiesen.
»Wir müssen unsere Ressourcen miteinander teilen«, sagte er. »Wenigstens für den Augenblick.«
Der General reagierte nicht gleich, nickte dann aber langsam. Er war mit den Gepflogenheiten in Washington hinreichend vertraut, um diese sechs Worte einigermaßen richtig deuten zu können.
»Mir stehen nicht sehr viele Ressourcen zur Verfügung«, sagte er dann. »Wir haben einen Feiertag. Zurzeit sind ziemlich genau fünfundsiebzig Prozent der bewaffneten Streitkräfte der USA im Urlaub.«
Stille. Jetzt war McGrath dran, die Antwort zu deuten und seinerseits zu nicken.
»Keine Vollmacht, den Urlaub zu streichen?«, fragte er.
Der General schüttelte den Kopf.
»Ich habe gerade mit Dexter gesprochen«, erwiderte er. »Und Dexter hat gerade mit dem Präsidenten gesprochen. Die ganze Angelegenheit liegt bis Montag auf Eis.«
Jetzt herrschte Stille in dem überfüllten Zimmer. Die Tochter dieses Mannes steckte in der Patsche, und der Mann, der im Weißen Haus die Fäden zog, spielte politische Spielchen.
»Webster ist es genauso ergangen«, sagte McGrath. »Er darf noch nicht einmal das Geiselbefreiungsteam hierherbringen. Für den Augenblick sind wir ganz auf uns gestellt, wir drei.«
Der General nickte McGrath zu. Das war eine sehr persönliche Geste von Mensch zu Mensch, und sie besagte: Wir sind offen zueinander gewesen, und wir wissen beide, dass der Befehl von oben eine ziemliche Demütigung für uns bedeutet.
»Aber es kann nicht schaden, vorbereitet zu sein«, sagte der General. »Wie der oft zitierte Mann auf der Straße weiß, fühlt man sich beim Militär mit Geheimmanövern recht wohl. Und deshalb nehme ich jetzt ein paar persönliche Gefälligkeiten in Anspruch, von denen Dexter nichts zu wissen braucht.«
Die angespannte Stille in dem Raum lockerte sich etwas. McGrath sah ihn fragend an.
»Ein mobiler Kommandoposten ist bereits unterwegs«, sagte der General.
Er nahm von seinem Adjutanten eine große Karte entgegen, die dieser in der Hand hielt, und breitete sie auf dem Schreibtisch aus.
»Wir werden uns genau hier treffen«, sagte er.
Sein Finger lag auf einer Stelle im Nordwesten von Montana, ein kurzes Stück vor Yorke. Es handelte sich um eine weite Kurve auf der Straße, die in das County hineinführte, etwa sechs Meilen vor der Brücke über die Schlucht.
»Die Satelliten-LKWs sind dorthin unterwegs«, sagte er. »Ich stelle mir vor, wir beziehen dort Posten, richten die Kommandostation ein und riegeln die Straße hinter uns ab.«
McGrath stand unbewegt da und blickte auf die Karte. Er wusste, wenn er jetzt zustimmte, übergab er damit die Kontrolle über das ganze Geschehen an das Militär. Nein zu sagen hieß, Zuständigkeitsspielchen auf Kosten seiner Agentin und zugleich der Tochter dieses Mannes treiben. Dann sah er, dass der Finger des Generals einen Zentimeter südlich von einer wesentlich besseren Position lag. Ein Stück weiter im Norden verengte sich die Straße erheblich. Sie verlief dort gerade und bot klaren Ausblick nach Norden und Süden. Eine viel bessere Position für eine Straßensperre. Eine bessere Position für einen Kommandoposten. Es wunderte ihn, dass der General das nicht entdeckt hatte. Dann überkam ihn eine Aufwallung von Dankbarkeit. Der General hatte die Stelle entdeckt. Aber er überließ es McGrath, ihn darauf hinzuweisen. Er ließ Platz für Geben und Nehmen. Er wollte keine totale Kontrolle.
»Ich würde diese Stelle vorziehen«, sagte McGrath.
Er tippte mit einem Bleistift auf den Punkt im Norden. Der General tat so, als würde er die Karte studieren. Sein Adjutant gab sich beeindruckt.
»Gut gesehen«, nickte der General. »Wir ändern den Treffpunkt.«
McGrath lächelte. Er wusste verdammt genau, dass die LKWs bereits genau zu jenem Punkt unterwegs waren. Wahrscheinlich waren sie bereits dort. Der General grinste. Der rituelle Tanz war beendet.
»Was können uns die Spionageflugzeuge zeigen?«, fragte Brogan.
»Alles«, erklärte der Adjutant des Generals. »Warten Sie, bis Sie die Bilder sehen. Die Kameras, die diese Vögel an Bord haben, sind unglaublich.«
»Das gefällt mir nicht«, meinte McGrath. »Das wird sie nervös machen.«
Der Adjutant schüttelte den Kopf.
»Sie werden nicht einmal wissen, dass sie unterwegs sind«, sagte er. »Wir haben zwei davon eingesetzt, die in geraden Linien auf Rasterkurs von Osten nach Westen und von Westen nach Osten fliegen. Sie befinden sich in siebenunddreißigtausend Fuß Höhe. Niemand auf dem Boden wird sie wahrnehmen.«
»Das sind sieben Meilen«, sagte Brogan. »Wie können sie aus dieser Höhe etwas sehen?«
»Gute Kameras«, erklärte der Adjutant. »Sieben Meilen ist gar nichts. Die zeigen Ihnen aus sieben Meilen Höhe ein Zigarettenpäckchen auf dem Bürgersteig. Das Ganze läuft völlig automatisch. Die Jungs dort oben drücken auf einen Knopf, und die Kamera verfolgt, was sie eben verfolgen soll. Sie bleibt ständig auf den Punkt auf dem Boden gerichtet, den man ihr vorgegeben hat, und übermittelt über Satellit qualitativ hochwertige Videos. Dann machen sie kehrt und kommen zurück, und die Kamera dreht sich herum und wiederholt die Prozedur.«
»Nicht zu entdecken?«, fragte McGrath.
»Sie sehen wie Zivilmaschinen aus«, sagte der Adjutant. »Am Himmel erkennt man bloß einen winzigen Kondensstreifen und denkt, das wäre eine TWA-Maschine, die irgendwohin unterwegs ist. Niemand kommt auf die Idee, dass das die Air Force sein könnte, die nachsieht, ob Sie sich am Morgen die Schuhe poliert haben.«
»Aus sieben Meilen können die die Haare auf Ihrem Kopf zählen«, sagte Johnson. »Wofür, glauben Sie denn, geben wir das viele Geld aus dem Verteidigungsetat aus? Für Flugzeuge, um das Getreide gegen Ungeziefer zu besprühen?«
McGrath nickte. Er kam sich nackt vor. Für den Augenblick hatte er außer zwei gemieteten Jeeps, die draußen am Bürgersteig warteten, nichts anzubieten.
»Wir bekommen ein Profil über diesen Borken«, sagte er. »Die Psychoheinis in Quantico arbeiten gerade daran.«
»Und wir haben Jack Reachers alten Vorgesetzten ausfindig gemacht«, sagte Johnson. »Er sitzt jetzt an einem Schreibtisch im Pentagon. Er wird zu uns kommen und uns Bescheid sagen.«
McGrath nickte.
»Bereit sein ist alles«, sagte er.
Das Telefon klingelte. Johnsons Adjutant nahm den Hörer ab. Er stand am nächsten dran.
»Wann verschwinden wir hier?«, fragte Brogan.
McGrath registrierte, dass er die Frage unmittelbar an Johnson gerichtet hatte.
»Jetzt gleich, denke ich«, sagte Johnson. »Die Air Force fliegt uns hinauf. Das spart uns sechs Stunden auf der Straße, nicht wahr?«
Der Adjutant legte den Hörer auf. Er sah so aus, als ob ihm jemand einen Tritt in den Bauch verpasst hätte.
»Die Raketeneinheit«, sagte er. »Wir haben den Funkkontakt zu ihr verloren, nördlich von Yorke.«