27
Vier Männer zerrten Loders Leiche weg und die Menge begann sich aufzulösen. Reacher stand noch mit seinen sechs Wachen und Fowler auf der Treppe des Gerichtsgebäudes. Fowler hatte jetzt endlich seine Handschellen aufgeschlossen. Reacher rollte die Schultern und streckte sich. Er hatte die ganze Nacht und den Morgen die Handschellen getragen und war steif, seine Glieder schmerzten. Seine Handgelenke zeigten rote Schwielen, wo das harte Metall sich eingedrückt hatte.
»Zigarette?«, fragte Fowler.
Er hielt ihm sein Päckchen hin. Eine freundliche Geste. Reacher schüttelte den Kopf.
»Ich möchte mit Holly sprechen«, sagte er.
Fowler wollte schon ablehnen, überlegte aber dann und nickte.
»Okay«, sagte er. »Gute Idee. Gehen Sie mit ihr ein wenig herum, damit sie Bewegung bekommt. Reden Sie mit ihr. Erkundigen Sie sich bei ihr, wie wir sie behandeln. Das ist etwas, was man Sie ganz sicher später fragen wird. Für die wird das sehr wichtig sein, und wir wollen nicht, dass Sie irgendwelche falsche Vorstellungen vermitteln.«
Reacher wartete am Fuß der Treppe. Die Sonne war bleich und wässrig geworden. Im Norden sammelten sich Nebelschwaden. Aber ein Teil des Himmels war immer noch blau und klar. Nach fünf Minuten wurde Holly von Fowler heruntergebracht. Sie ging langsam, in einer Art Stakkato-Rhythmus, wenn ihr gesundes Bein sich mit dem Klacken ihrer Krücke abwechselte. Sie ging durch die Tür und blieb oben auf der Treppe stehen.
»Frage an Sie, Reacher!«, rief Fowler ihm zu. »Wie weit können Sie in einer halben Stunde mit hundertzwanzig Pfund auf dem Rücken laufen?«
Reacher zuckte die Schultern.
»Nicht weit genug, schätze ich«, sagte er.
Fowler nickte.
»Richtig«, erklärte er. »Nicht weit genug. Wenn sie in einer halben Stunde nicht hier steht, kommen wir Sie suchen. Wir geben Ihnen dann einen Radius von zwei Meilen.«
Reacher dachte darüber nach und nickte. In einer halben Stunde würde er mit hundertzwanzig Pfund auf dem Rücken vielleicht ein wenig weiter als zwei Meilen kommen. Zwei Meilen war vermutlich eine pessimistische Einschätzung. Aber dann vergegenwärtigte er sich die Karte an Borkens Wand. Dachte daran, wie unwegsam das Terrain war. Wohin zum Teufel sollte er sich wenden? Er sah ostentativ auf seine Armbanduhr. Fowler ging weg, verschwand hinter dem halb zerfallenen Bürogebäude. Die Wachen hängten sich die Waffen über die Schulter und lockerten ihre Haltung. Holly strich sich das Haar zurück. Wandte das Gesicht der blassen Sonne zu.
»Können Sie eine Weile gehen?«, fragte Reacher sie.
»Langsam«, erklärte sie.
Sie setzte sich auf der verlassenen Straße in nördlicher Richtung in Bewegung und Reacher schlenderte neben ihr her. Sie warteten, bis sie außer Sichtweite waren. Sahen einander an. Dann drehten sie sich beide um und fielen sich in die Arme. Hollys Krücke klapperte auf den Boden, und er hob sie an den Hüften hoch. Sie schlang die Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals.
»Ich werde dort drinnen verrückt«, seufzte sie.
»Ich habe schlechte Nachrichten«, sagte er.
»Was gibt’s?«
»Die hatten in Chicago jemanden, der ihnen geholfen hat. Fowler hat das bei der Verhandlung gesagt. Er hat gesagt, Loder sei nur fünf Tage weg gewesen.«
»Und?«, fragte sie.
»Sie hatten also keine Zeit für Beobachtungstätigkeit«, erklärte er. »Die hatten Sie nicht beobachtet. Jemand hat ihnen gesagt, wo Sie um welche Zeit sein würden. Die Kerle hatten Unterstützung, Holly.«
Ihr Gesicht verlor jegliche Farbe. Wurde vom Schock überzogen.
»Fünf Tage?«, fragte sie. »Sind Sie sicher?«
Reacher nickte. Holly sagte nichts, überlegte, dachte gründlich nach.
»Also, wer hat Bescheid gewusst?«, fragte er sie. »Wer hat gewusst, wo Sie am Montag um zwölf sein würden? Eine Zimmerkollegin? Ein Freund, eine Freundin?«
Ihre Augen huschten nach links und rechts. Man konnte erkennen, dass sie fieberhaft nachdachte.
»Niemand«, sagte sie.
»Sind Sie je beschattet worden?«, fragte er.
Sie hob hilflos die Schultern. Reacher konnte erkennen, dass sie liebend gern gesagt hätte, ja, ich bin beschattet worden. Weil er wusste, dass der Gedanke, nein sagen zu müssen, für sie schrecklich war.
»Also, was ist?«, fragte er noch einmal.
»Nein«, sagte sie leise. »Von einem Schwachkopf wie einem von denen? Das können Sie vergessen. Die hätte ich entdeckt. Und sie hätten außerdem den ganzen Tag vor dem FBI-Gebäude herumlungern müssen und warten. Wir hätten sie sofort geschnappt.«
»Und?«, fragte er.
»Meine Mittagspause war völlig flexibel«, fuhr sie fort. »Das pendelte manchmal bis zu zwei Stunden in die eine oder in die andere Richtung. War nie regelmäßig.«
»Und?«, fragte er erneut.
Sie starrte ihn an.
»Also hatten sie Hilfe von innen«, sagte sie. »Jemand im FBI. Das muss es gewesen sein. Überlegen Sie doch – eine andere Möglichkeit gibt es gar nicht. Jemand im Büro hat mich weggehen sehen und das weitergegeben.«
Er sagte nichts. Sah nur ihr bedrücktes Gesicht.
»Ein Maulwurf in Chicago«, sagte sie. Das war eine Feststellung, keine Frage. »Im Büro. Es gibt keine andere Möglichkeit. Scheiße, ich kann’s einfach nicht glauben.«
Dann lächelte sie. Ein kurzes, bitteres Lächeln.
»Und hier haben wir auch einen Maulwurf«, sagte sie. »Spaßig, nicht wahr? Er hat sich mir zu erkennen gegeben. Ein junger Mann mit einer riesigen Narbe auf der Stirn. Er ist verdeckt für das Büro tätig. Er sagt, wir hätten in einer ganzen Menge dieser Gruppen Leute. Gut getarnt und verdeckt, falls es zu einem Notfall kommen sollte. Er hat das Büro informiert, als sie das Dynamit in die Wände gepackt haben.«
Er starrte sie an.
»Sie wissen von dem Dynamit?«, fragte er.
Sie verzog das Gesicht und nickte.
»Kein Wunder, dass Sie dort drinnen verrückt werden«, murmelte er.
Dann starrte er sie in neuer Panik an.
»Wem macht dieser verdeckte Typ Meldung?«, fragte er scharf.
»Unserem Büro in Butte«, sagte Holly. »Das ist nur ein Satellitenbüro. Ein Resident Agent. Er steht mit ihm über Funk in Verbindung. Er hat draußen im Wald einen Sender versteckt. Aber im Augenblick benutzt er ihn nicht. Er sagt, sie scannen die Frequenzen.«
Reacher überlief es eisig.
»Wie lang wird es dann dauern, bis der Maulwurf in Chicago ihn auffliegen lässt?«, fragte er.
Holly wurde noch bleicher.
»Nicht mehr lange, denke ich«, sagte sie. »Sobald jemand auf den Gedanken kommt, dass wir uns in dieser Richtung informiert haben. Chicago wird die Computer anlaufen lassen und sich nach Berichten aus Montana umsehen. Und das Zeug dieses Jackson wird ganz oben auf dem verdammten Haufen liegen. Herrgott, Reacher, Sie müssen ihm vorher Bescheid sagen! Sie müssen ihn warnen. Sein Name ist, ich sagte es schon, Jackson.«
Sie machten kehrt. Hasteten durch die Geisterstadt.
»Er sagt, er kann mich hier rausholen«, sagte Holly. »Heute nacht, mit einem Jeep.«
Reacher nickte finster.
»Gehen Sie mit ihm«, sagte er.
»Nicht ohne Sie«, widersprach sie.
»Die schicken mich ohnehin weg«, erklärte er. »Ich soll als Abgesandter für die tätig werden. Man erwartet von mir, dass ich unseren Leuten sagen soll, dass es hoffnungslos wäre.«
»Und – werden Sie gehen?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Nicht, wenn ich es verhindern kann«, erwiderte er. »Nicht ohne Sie.«
»Sie sollten gehen«, drängte sie. »Machen Sie sich um mich keine Sorgen.«
Er schüttelte erneut den Kopf.
»Ich mache mir aber Sorgen um Sie«, sagte er.
»Gehen Sie einfach. Vergessen Sie mich und verschwinden Sie hier.«
Er zuckte die Schultern. Sagte nichts.
»Verschwinden Sie hier, wenn Sie die Gelegenheit dazu bekommen, Reacher«, sagte sie. »Wirklich, ich meine das ernst.«
Sie sah so aus, als ob sie es ernst meinte. Jetzt funkelte sie ihn an.
»Nur wenn Sie vorher gegangen sind«, erklärte er schließlich. »Ich bleibe hier, bis Sie weg sind. Ich werde Sie ganz entschieden nicht allein bei diesen Verrückten lassen.«
»Aber Sie können nicht hier bleiben«, sagte sie. »Wenn ich weg bin, drehen die durch. Das wird alles verändern.«
Er sah sie an. Hörte Borken sagen: ›Holly ist für uns mehr als bloß die Tochter ihres Vaters.‹
»Warum das, Holly?«, fragte er. »Warum wird das alles ändern? Wer zum Teufel sind Sie?«
Sie gab darauf keine Antwort. Wich seinem Blick aus. Jetzt tauchte Fowler auf der Straße auf, er ging nach Norden, rauchte. Ging auf sie zu. Blieb vor ihnen stehen. Zog sein Zigarettenpäckchen heraus.
»Zigarette?«, fragte er.
Holly blickte zu Boden. Reacher schüttelte den Kopf.
»Hat sie es Ihnen gesagt?«, fragte Fowler. »Wie behaglich es in ihrem kleinen Heim ist?«
Die Wachen hatten Haltung angenommen. Sie bildeten eine Art Ehrenwache auf der Treppe des Gerichtsgebäudes. Fowler führte Holly zu ihnen. Eine Wache brachte sie hinein. An der Tür sah sie sich nach Reacher um. Er nickte ihr zu. Bis später, sollte diese Geste sagen. Und dann war sie verschwunden.
»Und jetzt machen wir die große Führung«, sagte Fowler. »Sie bleiben dicht bei mir. Anweisung von Beau. Aber Sie können fragen, was Sie wollen, okay?«
Reacher sah ihn mit undurchdringlicher Miene an und nickte. Warf einen Blick auf die sechs Wachen hinter ihm. Dann ging er die Treppe hinunter und blieb stehen. Schaute zu der Fahnenstange hinüber. Sie stand genau in der Mitte von dem, was von einem schönen quadratischen Stück Rasen vor dem Gebäude übriggeblieben war. Er ging auf die Fahnenstange zu, trat in Loders Blut und sah sich um.
Die Ortschaft Yorke war einigermaßen tot. Sie sah so aus, als wäre sie schon vor einer ganzen Weile gestorben. Und sie sah auch so aus, als wäre sie nie etwas Besonderes gewesen. Die Straße kam aus dem Norden herein und führte nach Süden: Zu beiden Seiten davon hatte es je zwei Seitenstraßen gegeben, mit je zwei Straßenblocks im Osten und im Westen. Das Gerichtsgebäude nahm den ganzen südöstlichen Straßenblock ein, und ihm gegenüber stand ein Gebäude, das früher einmal eine Art Bezirksbüro gewesen sein mochte. Das Westende der Straße war höher, das Terrain stieg leicht an. Die Grundmauer des Bezirksbüros lag etwa auf gleicher Höhe wie das obere Stockwerk des Gerichtsgebäudes. Die beiden Bauten waren einander früher einmal vom Stil her ähnlich gewesen, aber dann hatte das Bezirksbüro vor vielleicht dreißig Jahren angefangen, zu verkommen. Die Tünche war abgeblättert, und man konnte darunter das graue Holz erkennen. In keinem der Fenster war mehr Glas. Die kleine Bodenerhebung, auf der es stand, war mit Gestrüpp überwuchert. Früher einmal hatte in der Mitte ein Zierbaum gestanden. Der war vor langer Zeit abgestorben und jetzt bloß noch ein Baumstumpf, vielleicht zwei Meter hoch, wie ein Pfahl, an dem man Exekutionen vornimmt.
Nördlich davon gab es ein paar verrottete, mit Brettern vernagelte Geschäfte. Früher einmal hatte es dort hohe, prunkvolle, aber unechte Fassaden gegeben, die den schlicht rechteckigen Gebäuden mehr Ansehen verleihen sollten. Der Zerfall der Jahre hatte dazu geführt, dass die Fassaden jetzt das gleiche stumpfe Braun zeigten wie die klobigen Holzgerüste dahinter. Die Tafeln über den Türen waren so verblasst, dass man die Aufschrift nicht mehr lesen konnte. Auf den Bürgersteigen gab es keine Leute. Kein Fahrzeuglärm, keine Aktivität, gar nichts. Eine Geisterstadt eben. Es wirkte wie eine verlassene Cowboystadt aus dem Wilden Westen.
»Das war einmal eine Bergwerksansiedlung«, sagte Fowler. »Hauptsächlich Blei, aber auch etwas Kupfer und eine Zeit lang ein paar gute Silberadern. Hier ist einmal eine Menge Geld verdient worden, das steht fest.«
»Und was ist dann passiert?«, wollte Reacher wissen.
Fowler zuckte die Schultern.
»Was passiert schon mit Bergwerksstädten?«, meinte er. »Sie werden aufgegeben, das passiert. Vor fünfzig Jahren haben die Leute in diesem alten Bezirksbüro so viele Claims registriert, als gäbe es kein Morgen, und haben sich dann in diesem alten Gerichtsgebäude darüber gestritten, und ein Stück die Straße hinauf und hinunter gab es Saloons und Banken und Läden. Und dann fingen sie an, statt Metall bloß noch Steine zu finden, und zogen weiter. Das hier ist zurückgeblieben.«
Fowler betrachtete das trostlose Bild, und Reacher folgte seinem Blick. Dann ließ er seine Augen ein paar Grad höher wandern zu den gewaltigen Bergen, die am Horizont emporragten. Sie waren mächtig und gleichgültig und trugen immer noch Schnee, obwohl schon der dritte Juli war. Nebel hing in den Pässen und trieb zwischen den dichten Koniferen ins Tal. Fowler ging weiter, und Reacher folgte ihm einen Weg hinauf, der hinter der Ruine des Bezirksbüros steil in die Höhe führte. Die Wachen folgten dahinter in Einerreihe. Reacher wurde bewusst, dass das der Weg war, auf dem er in der Nacht zuvor zweimal gegangen war, einmal hin und einmal her. Nach hundert Metern befanden sie sich zwischen den Bäumen. Der Weg schlängelte sich durch den Wald nach oben. In dem vom Grün der Bäume gefilterten Licht kamen sie leichter voran. Nachdem sie vielleicht eine Meile gegangen waren, hatten sie auf gerader Linie etwa eine halbe Meile zurückgelegt und kamen in der Lichtung heraus, auf die in der vergangenen Nacht der weiße Lieferwagen gefahren war. Es gab einen kleinen Wachtrupp, bewaffnet und in makellos sauberen Uniformen, die mitten auf der Lichtung in Habachthaltung dastanden. Aber von dem weißen Lieferwagen war keine Spur zu sehen. Man hatte ihn weggebracht.
»Wir nennen das hier die Bastion«, erklärte Fowler. »Das erste Stück Gelände, das wir seinerzeit gekauft haben.«
Im hellen Tageslicht sah alles ganz anders aus. Die Bastion war eine große, ordentliche Lichtung im Buschwerk, die sich in eine Bergsenke, vielleicht hundert Meter über der eigentlichen Ortschaft, schmiegte. Es gab keinerlei von Menschenhand geschaffene Schutzwälle. Den Schutzwall hatten vor einer Million Jahren die großen Gletscher geschaffen, die mahlend vom Pol nach Süden vorgedrungen waren. Im Norden und Westen ragten die Wände bis zu den hohen Gipfeln empor. Reacher sah wieder Schnee; Schnee, den der Wind in die nach Norden blickenden Bergschrunden getrieben hatte. Wenn hier im Juli Schnee lag, dann gab es ihn wahrscheinlich zwölf Monate im Jahr.
Im Südosten konnte man die Ortschaft mit einiger Mühe durch die Lücken zwischen den Bäumen erkennen, wo man den Weg aus dem Felsgestein geschlagen hatte. Reacher identifizierte die Ruine des Bezirksgebäudes und das weiße Gerichtsgebäude darunter, die wie Spielzeug aussahen. Unmittelbar im Süden tauchten die Berghänge in dichten Forst. Wo es keine Bäume gab, waren steile Schluchten. Reacher musterte sie ruhig. Fowler deutete darauf.
»Vierzig Meter tief, manche jedenfalls«, sagte er. »Voll Wapitis und Big-Horn-Schafen, und dann gibt es hier auch Schwarzbären. Einige von unseren Leuten haben sogar Berglöwen auf der Jagd gesehen. Nachts, wenn es ganz still ist, kann man sie manchmal hören.«
Reacher nickte und lauschte der atemberaubenden Stille. Versuchte sich auszumalen, um wieviel stiller die Nächte noch sein konnten. Fowler drehte sich um und deutete hierhin und dorthin.
»Das haben wir gebaut«, sagte er. »Bis heute.«
Wieder nickte Reacher. Auf der Lichtung standen zehn Gebäude. Alles große, zweckmäßige Holzbauten aus Sperrholz und Zedernholz auf massiven Betonfundamenten. In jedes Gebäude führte eine elektrische Leitung, die von einem schweren Kabel ausging, das zwischen den Bauten verlegt war.
»Die Energie kommt aus der Ortschaft«, sagte Fowler. »Eine Meile Kabel. Und fließendes Wasser auch, aus einem Bergsee; es kommt durch Plastikrohre, die die Milizen verlegt haben.«
Reacher erkannte die Hütte, in der er den größten Teil der Nacht eingeschlossen gewesen war. Sie war kleiner als die anderen.
»Verwaltungshütte«, sagte Fowler.
Auf einer der Hütten war auf dem Dach eine Antenne installiert, vielleicht zwanzig Meter hoch. Kurzwellenfunk. Und Reacher konnte ein dünneres Kabel sehen, das an das schwere Energiekabel angeschlossen war. Es schlängelte sich in dieselbe Hütte hinein, kam aber nicht wieder heraus.
»Sie haben hier Telefon?«, fragte er. Er deutete auf die Leitung, und Fowler folgte seinem Blick.
»Die Telefonleitung?«, sagte er. »Die kommt von Yorke mit dem Energiekabel herauf. Aber es gibt kein Telefon. Die Weltregierung würde unsere Gespräche anzapfen.«
Er bedeutete Reacher, er solle ihm zu der Hütte mit der Antenne folgen, wo die Leitung endete. Sie traten gemeinsam durch die schmale Tür ein. Fowler breitete mit einer irgendwie stolz wirkenden Geste die Hände aus.
»Die Kommunikationshütte«, sagte er.
Die Hütte war dunkel und maß vielleicht sechs auf vier Meter. Zwei Männer taten hier Dienst, der eine über ein Tonbandgerät gebeugt und mit seinen Kopfhörern auf irgendetwas lauschend, der andere damit beschäftigt, an einem Radioscanner langsam das Skalenrad zu drehen. An den beiden Längsseiten der Hütte standen fest mit den Wänden verbundene schlichte hölzerne Arbeitstische. Reacher blickte zum Giebel auf und sah die Telefonleitung, die durch ein in die Wand gebohrtes Loch hereinkam. Sie schlängelte sich herunter und war mit einem Modem verbunden. Das Modem war an zwei eingeschaltete Desktop-Computer angeschlossen.
»Das Miliz-Internet«, sagte Fowler.
Eine zweite Leitung führte an den Desktops vorbei und war mit einem Faxgerät verbunden. Es summte leise vor sich hin; Papier rollte langsam heraus.
»Das patriotische Faxnetz«, erklärte Fowler.
Reacher nickte und trat näher. Das Faxgerät stand neben einem weiteren Computer und einem großen Kurzwellenradio auf einem Beistellschrank.
»Das sind die Schattenmedien«, sagte Fowler. »Wir brauchen diese Geräte alle, um die Wahrheit über das, was in Amerika vor sich geht, zu erfahren. Anders kommt man nicht an die Wahrheit heran.«
Reacher sah sich in dem Raum um und zuckte die Schultern.
»Ich habe Hunger«, sagte er. »Was mich betrifft, ist das die Wahrheit. Ich habe kein Abendessen und kein Frühstück bekommen. Gibt es hier irgendwo Kaffee?«
Fowler sah ihn an und grinste.
»Aber sicher«, sagte er. »Die Kantine hat den ganzen Tag geöffnet. Für was halten Sie uns eigentlich? Ein Rudel Wilde?«
Er schickte die sechs Wachen weg und bedeutete Reacher, dass er ihm folgen solle. Die Kantine befand sich neben der Kommunikationshütte. Sie war etwa viermal so groß, doppelt so lang und doppelt so breit. An der Stirnwand war ein massiv wirkender Kamin aus verzinktem Metall vorgebaut. Drinnen standen ordentlich aufgereiht Tische und einfache Bänke. Es roch nach abgestandenem Essen, und dazu kam der staubige Geruch, wie ihn große Gemeinschaftsräume immer an sich haben.
Drei Frauen arbeiteten in dem Raum. Sie waren damit beschäftigt, die Tische sauber zu machen. Sie trugen olivfarbenes Drillichzeug und hatten alle langes, sauberes Haar und einfache Gesichter ohne jede Schminke, rote Hände und keinen Schmuck. Sie hielten in ihrer Arbeit inne, als Fowler und Reacher hereinkamen, standen dicht nebeneinander da und beobachteten die beiden Männer. Reacher erkannte eine von ihnen aus dem Gerichtssaal. Sie begrüßte ihn mit einem vorsichtigen Kopfnicken. Fowler trat vor.
»Unser Gast hat das Frühstück verpasst«, sagte er.
Die vorsichtige Frau nickte erneut. »Na klar«, sagte sie. »Was darf ich Ihnen servieren?«
»Was Sie wollen«, sagte Reacher. »Solange nur Kaffee dabei ist.«
»Fünf Minuten«, erwiderte die Frau und ging den beiden anderen voraus durch eine Tür in die Küche, die hinten an die Hütte angebaut war. Fowler setzte sich an einen Tisch, und Reacher nahm auf der Bank ihm gegenüber Platz.
»Dreimal täglich wird dieser Bau hier für die Mahlzeiten benutzt«, sagte Fowler. »Den Rest der Zeit, an den Nachmittagen und Abenden hauptsächlich, dient er als zentraler Treffpunkt für die Gemeinschaft. Beau steigt dann auf den Tisch und sagt den Leuten, was getan werden muss.«
»Wo ist Beau jetzt?«, wollte Reacher wissen.
»Sie kriegen ihn noch zu sehen, bevor Sie hier weggehen«, sagte Fowler. »Verlassen Sie sich darauf.«
Reacher nickte bedächtig und schaute dann durch das kleine Fenster zu den Bergen hinaus. Aus diesem neuen Blickwinkel entdeckte er eine weitere Bergkette, vielleicht fünfzig Meilen entfernt, die dort in der klaren Luft zwischen Erde und Himmel zu hängen schien. Das Schweigen ringsum war immer noch beeindruckend.
»Wo sind denn alle?«, fragte er.
»Arbeiten«, sagte Fowler. »Arbeit und Ausbildung.«
»Arbeiten?«, wiederholte Reacher. »Woran arbeiten sie denn?«
»Sie bauen an der südlichen Befestigung«, sagte Fowler. »An einigen Stellen sind die Schluchten dort nicht tief genug. Da könnten Panzer durchkommen. Wissen Sie, wie eine Panzersperre aussieht?«
Reacher sah ihn mit ausdruckslosem Blick an. Er wusste es. Aber er hatte nicht vor, Fowler davon in Kenntnis zu setzen, wie gut er informiert war. Also sah er ihn bloß fragend an.
»Man fällt ein paar Bäume«, sagte Fowler. »Jeden fünften oder sechsten Baum hackt man um. Man lässt sie so fallen, dass sie vom Feind abgewandt sind. Die Bäume hier in der Gegend sind hauptsächlich Kiefern, und deren Äste sind sehr sperrig, ja? Wenn man sie fällt, fahren die Panzer auf das untere Ende des Baums auf und versuchen, ihn vor sich herzuschieben. Aber die Äste verhaken sich in den Bäumen, die man stehengelassen hat. Und über kurz oder lang versucht der Panzer, zwei oder drei Bäume wegzuschieben. Dann vier oder fünf, und das geht nicht. Selbst ein schwerer Panzer, wie ein Abrams, schafft das nicht. Sogar die großen russischen Panzer hätten keine Chance. Das nennt man eine Panzersperre, Reacher. Wir setzen die Macht der Natur gegen sie ein. Durch diese verdammten Bäume kommen sie nicht, das steht fest. Die Sowjets haben das gegen Hitler eingesetzt, in Kursk, im Zweiten Weltkrieg. Ein alter Kommunistentrick. Und jetzt setzen wir ihn gegen unsere Feinde ein.«
»Was ist mit Infanterie?«, sagte Reacher. »Panzer werden doch nicht alleine hier auftauchen. Die werden Infanterie dabei haben. Und die arbeiten sich dann einfach nach vorn und beseitigen die Bäume.«
Fowler grinste.
»Ja, das werden sie versuchen«, sagte er. »Und dann werden sie ihre Versuche einstellen. Wir haben Maschinengewehrstellungen, fünfzig Meter nördlich von den Panzersperren. Wir werden sie in Fetzen schießen.«
Jetzt kam die vorsichtige Frau mit einem Tablett in der Hand wieder aus der Küche. Sie stellte es vor Reacher auf den Tisch. Eier, Speck, Bratkartoffeln, Bohnen, alles auf einem Emailteller. Ein Metallbecher mit dampfendem Kaffee. Billiges Geschirr.
»Guten Appetit«, sagte sie.
»Danke«, sagte Reacher.
»Ich kriege wohl keinen Kaffee?«, fragte Fowler.
Die vorsichtige Frau deutete nach hinten.
»Bedienen Sie sich selbst«, sagte sie.
Fowler sah Reacher mit hilflosem Blick an und stand auf. Reachers Gesichtsausdruck blieb unverändert. Fowler ging zur Küche und schob den Kopf durch die Tür. Die Frau blickte ihm nach und legte dann Reacher die Hand auf den Arm.
»Ich muss mit Ihnen reden«, flüsterte sie. »Kommen Sie heute Abend, nachdem die Lichter gelöscht worden sind. Ich warte vor der Küchentür auf Sie, okay?«
»Sagen Sie mir’s jetzt«, antwortete Reacher, ebenfalls flüsternd. »Bis dahin bin ich vielleicht schon nicht mehr da.«
»Sie müssen uns helfen«, hauchte die Frau.
Dann kam Fowler wieder aus der Küche, und die Augen der Frau weiteten sich erschreckt. Sie richtete sich auf und eilte davon.
Durch jedes der langen Rohre in dem Bettgestell führten sechs Schrauben. Zwei davon hielten den Rahmen des Drahtgeflechts, von dem die Matratze getragen wurde. Dann gab es zwei an jedem Ende, mit denen man die rechtwinkligen Flansche, an denen die Beine befestigt waren, mit dem langen Rohr an jeder Seite verbunden hatte. Sie hatte die Konstruktion längere Zeit gründlich studiert und herausgefunden, was damit anzufangen war. Sie konnte einen Flansch an einem Rohrende festgeschraubt lassen. Der würde dann wie ein starrer rechtwinkliger Haken abstehen. Das war besser, als den Flansch abzuschrauben und ihn dann in das offene Rohrende zu zwängen. Belastbarer.
Trotzdem hatte sie sich noch mit genügend Schrauben zu beschäftigen. Sie beeilte sich. Es gab keinen Grund zu der Annahme, dass Jacksons Vorhaben scheitern würde, aber tatsächlich hatten sich seine Chancen gerade verschlechtert. Dramatisch verschlechtert. Was sie nicht wissen konnte.
Neben der Kantine lagen die Baracken mit den Schlafräumen. Es waren vier große Gebäude, alle makellos sauber und verlassen. Zwei dienten als Kasernen für allein stehende Männer und Frauen. Die anderen zwei waren mit Sperrholztrennwänden unterteilt. Dort wohnten Familien: die Erwachsenen in Paaren in kleinen Kabuffs hinter den Trennwänden, die Kinder in einer Art offenem Schlafsaal. Ihre Betten waren eiserne Pritschen in Dreiviertelgröße, angeordnet in Reihen. An den Fußenden der Pritschen standen halbhohe Spinde. Keine Zeichnungen an den Wänden, keine Spielsachen. Der einzige Schmuck war ein Touristenplakat aus Washington D.C. Es handelte sich um eine Luftaufnahme, die an einem sonnigen Frühlingstag vom Norden her aufgenommen war, mit dem Weißen Haus vorn, der Mall in der Mitte und dem Capitol seitlich links. Das Plakat steckte in einem Plastikrahmen, und der Werbespruch für die Touristen war mit Papier überdeckt, auf das jemand in großen Buchstaben einen neuen Slogan geschrieben hatte. Der neue Slogan lautete: Das ist Euer Feind.
»Wo sind die Kinder jetzt alle?«, fragte Reacher.
»In der Schule«, entgegnete Fowler. »Im Winter benutzen sie die Kantine. Im Sommer sind sie draußen im Wald.«
»Was lernen sie denn?«, wollte Reacher wissen.
Fowler zuckte die Schultern.
»Was sie eben wissen müssen«, meinte er.
»Wer entscheidet denn, was sie wissen müssen?«, fragte Reacher.
»Beau«, erklärte Fowler. »Er entscheidet alles.«
»Und was hat er dann entschieden, dass sie wissen müssen?« , fragte Reacher.
»Er hat das ziemlich gründlich studiert«, erklärte Fowler. »Es läuft auf die Bibel, die Verfassung, Geschichte, körperliche Ertüchtigung, Waldkunde, Jagd und Waffen hinaus.«
»Und wer lehrt sie das alles?«, fragte Reacher.
»Die Frauen.«
»Sind die Kinder hier glücklich?«, fragte Reacher.
Fowler zuckte erneut die Schultern.
»Die sind nicht hier, um glücklich zu sein«, meinte er. »Die sind hier, um zu überleben.«
Die nächste Hütte war leer, wenn man von einem weiteren Computerterminal absah, das in einer Ecke ganz für sich allein auf einem Schreibtisch stand. Reacher konnte sehen, dass die Tastatur mit einem großen Schloss gesichert war.
»Ich denke, das hier könnte man als unser Schatzamt bezeichnen«, sagte Fowler. »Unser ganzes Geld liegt auf den Cayman-Inseln. Wenn wir welches brauchen, dann benutzen wir diesen Computer dazu, um es überall dort hinzuschicken, wo wir es haben wollen.«
»Wie viel Geld haben Sie denn?«, wollte Reacher wissen.
Fowler lächelte verschwörerisch.
»Massen«, sagte er. »Zwanzig Millionen in Inhaberaktien. Minus das, was wir bereits ausgegeben haben. Aber es ist noch eine Menge übrig. Sie brauchen keine Angst zu haben, dass uns das Geld ausgeht.«
»Gestohlen?«, fragte Reacher.
Fowler schüttelte den Kopf und grinste.
»Erobert«, sagte er. »Vom Feind. Zwanzig Millionen.«
Die beiden letzten Gebäude waren Lagerhäuser. Eines stand dicht hinter dem letzten Kasernengebäude, das andere ein wenig abseits. Fowler führte Reacher in den näher stehenden Holzbau. Er war mit Vorräten aller Art voll gestopft. Eine ganze Wand nahmen riesige Plastikkanister voll Wasser ein.
»Bohnen, Munition und Verbandszeug«, sagte Fowler. »Das ist Beaus Motto. Über kurz oder lang steht uns eine Belagerung bevor. Das ist verdammt sicher. Es liegt ja auf der Hand, dass die Regierung das als Erstes tun wird, oder nicht? Die werden mit irgendwelchen Seuchenbakterien infizierte Artilleriegeschosse in den See schießen, aus dem unser Wasser kommt. Also haben wir einen Vorrat an Trinkwasser angelegt. Über neunzigtausend Liter. Das hatte erste Priorität. Dann haben wir uns Konserven besorgt, genug für zwei Jahre. Nicht genug, wenn eine Menge Leute reinkommen und sich uns anschließen, aber immerhin ein guter Anfang.«
Der Lagerschuppen war voll gestopft. Ein ganzes Abteil enthielt vom Boden bis zur Decke nur Kleidung – das Reacher inzwischen vertraute olivfarbene Drillichzeug, Tarnjacken, Stiefel. Alle in irgendeiner Militärwäscherei gewaschen und gebügelt, gebündelt und ballenweise verkauft.
»Brauchen Sie was?«, fragte Fowler.
Reacher wollte schon weitergehen, blickte dann aber an sich hinab. Er hatte seine Kleidung jetzt ständig, seit Montagmorgen, getragen. Drei Tage hintereinander. Es war ohnehin nicht gerade die beste Kleidung gewesen, und die drei Tage hatten sie nicht besser gemacht.
»Okay«, sagte er.
Die größten Größen lagen unten in dem Haufen. Fowler stemmte einen Ballen hoch und zerrte eine Hose, ein Hemd und ein Jackett heraus. Die auf Hochglanz polierten Stiefel interessierten Reacher nicht. Er zog seine eigenen Schuhe vor. Schnell zog er sich aus und wieder an, indem er auf dem kahlen Holzboden von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Er knöpfte das Hemd zu und schlüpfte in das Jackett. Es schien ganz gut zu passen. Er brauchte keinen Spiegel. Schließlich wusste er, wie er in Drillichzeug aussah. Er hatte genügend Jahre seines Lebens in solcher Kleidung verbracht.
Neben der Tür lagerten auf Regalen medizinische Vorräte. Plasma, Antibiotika, Verbandszeug. Alles ordentlich aufgereiht, um einen schnellen Zugriff zu ermöglichen. Saubere Stapel mit genügend Platz dazwischen. Borken hatte ganz offensichtlich seine Leute gut ausgebildet, damit sie sich hier in aller Eile versorgen und Erste Hilfe leisten konnten.
»Bohnen und Verbandszeug«, sagte Reacher. »Und was ist mit Munition?«
Fowler deutete mit einer Kopfbewegung auf den etwas abseits stehenden Schuppen.
»Dort ist die Waffenkammer«, sagte er. »Ich zeige sie Ihnen.«
Die Waffenkammer war größer als der andere Lagerschuppen. Ein mächtiges Schloss an der Tür. In dem Schuppen lagen mehr Waffen, als Reacher seit langem an einem Ort zu sehen bekommen hatte. Hunderte von Karabinern und Maschinenpistolen in ordentlichen Reihen. Über allem hing der durchdringende Geruch von frischem Waffenöl. Vom Boden bis zur Decke reichende Stapel mit Munition. Vertraute Holzkisten mit Handgranaten. Regale voll Pistolen. Nichts schwerer, als was ein Infanterist tragen konnte, aber trotzdem ein beeindruckender Anblick.
Die zwei Schrauben, mit denen der Drahtrahmen befestigt war, bereiteten die geringste Mühe. Sie waren kleiner als die anderen. Die großen Schrauben, die das Gestell zusammenhielten, trugen die ganze Last. Der Drahtrahmen war nur aufgelegt. Die Schrauben, mit denen er befestigt war, hatten keine strukturelle Bedeutung. Man hätte sie auch weglassen können, und das Bett hätte trotzdem seinen Zweck erfüllt.
Sie schabte und kratzte Farbe ab und erwärmte die Schraubenköpfe mit dem Handtuch. Dann zog sie die Gummikappe von ihrer Krücke und drückte das Ende des Aluminiumrohrs in ovale Form. Sie legte ihre ganze Kraft in ihre Fingerspitzen, um das Oval möglichst dicht anliegend über den Schraubenkopf zu pressen. Den Handgriff benutzte sie, um die ganze Krücke wie einen riesigen Steckschlüssel zu drehen. Er rutschte von der Schraube ab. Sie fluchte halblaut und drückte das Rohr mit der Hand noch fester zusammen. Drehte Hand und Krücke gemeinsam. Die Schraube bewegte sich.
Ein ausgetretener Weg führte von dem Ring aus Holzbauten nach Norden. Fowler benutzte mit Reacher jetzt diesen Weg, der sie zu einem Schießplatz brachte. Es handelte sich um eine lange, flache Schneise, die sorgfältig von Bäumen und Unterholz gesäubert worden war. Im Augenblick herrschte dort Stille, niemand war zu sehen. Die Schneise war nur zwanzig Meter breit, aber an die achthundert Meter lang. An einem Ende lagen Matten für die Schützen und in weiter Ferne konnte Reacher die Ziele erkennen. Er schlenderte gemächlich auf sie zu. Sie sahen wie die üblichen aus Sperrholz gefertigten Silhouetten laufender oder sich duckender Soldaten aus, wie das Militär sie zu benutzen pflegte. Die Bemalung ließ erkennen, dass sie aus dem Zweiten Weltkrieg stammten. Der primitive Schablonendruck zeigte einen deutschen Infanteristen mit einem Stahlhelm und einer bösartig verzogenen Fratze. Als Reacher dann näher kam konnte er erkennen, dass man zusätzlich etwas auf die Ziele aufgemalt hatte. Sie trugen jetzt in gelber Farbe neue Erkennungszeichen auf der Brust. Jedes zeigte drei Buchstaben. Auf vier Zielen stand FBI. Auf vier weiteren ATF. Die Silhouettenscheiben waren hintereinander aufgereiht, und das über eine Entfernung, die von dreihundert Metern bis zu den vollen achthundert reichte. Die näher stehenden Zielscheiben waren von zahllosen Einschüssen zerfetzt.
»Jeder muss die Ziele bei der Dreihundertmetermarke treffen«, sagte Fowler. »Das ist eine zwingende Voraussetzung für das Bürgerrecht.«
Reacher zuckte die Schultern. Er war nicht beeindruckt. Dreihundert Meter war keine große Sache. Er schlenderte weiter bis zur halben Meile. Die Vierhundertmeterziele waren beschädigt, die Fünfhundertmeterscheiben in geringerem Maße. Reacher zählte achtzehn Treffer auf sechshundert Meter, sieben bei siebenhundert und lediglich zwei bei den vollen achthundert.
»Wie alt sind diese Scheiben?«, fragte er.
Fowler hob die Schultern. »Einen Monat«, sagte er. »Vielleicht auch zwei. Wir arbeiten daran.«
»Ja, das sollten Sie wohl.« Reacher nickte.
»Wir rechnen nicht damit, dass wir auf große Distanz schießen müssen«, erwiderte Fowler. »Beau nimmt an, dass die UN-Streitkräfte nachts kommen werden. Wenn sie glauben, dass wir uns ausruhen. Er geht davon aus, dass sie es vielleicht schaffen, unsere äußeren Verteidigungsanlagen in gewissem Maße zu durchdringen. Vielleicht eine halbe Meile oder so. Ich glaube das nicht, aber Beau ist ein vorsichtiger Mann. Und er ist derjenige, der die ganze Verantwortung trägt. Also besteht unsere Taktik darin, sie nachts mit Flankenmanövern fertig zu machen. Die eingedrungenen UN-Einheiten im Wald umzingeln und sie mit Sperrfeuer niedermähen. Aus größter Nähe und ganz persönlich, stimmt’s? Die Ausbildung läuft recht gut. Wir können uns in der Dunkelheit schnell und lautlos bewegen, kein Problem.«
Reacher sah in den Wald hinein und dachte über die Mengen an Munition nach, die er gesehen hatte. Dachte über Borkens prahlerische Behauptung nach: uneinnehmbar. Dachte über die Probleme nach, denen sich reguläres Militär ausgesetzt sieht, das in schwierigem Terrain überzeugten Guerillas gegenübersteht. Es gibt nichts, was völlig uneinnehmbar ist, aber die Verluste, die es geben würde, um dieses Gelände hier einzunehmen, könnten spektakulär sein.
»Das heute morgen«, sagte Fowler. »Ich hoffe, das hat Sie nicht durcheinandergebracht.«
Reacher sah ihn bloß an.
»Das mit Loder, meine ich«, sagte Fowler.
Reacher zuckte die Schultern. Hat mir bloß Arbeit erspart, dachte er.
»Wir brauchen hier strenge Disziplin«, sagte Fowler. »Alle neuen Nationen durchlaufen eine solche Phase. Strenge Regeln, harte Disziplin. Beau hat darüber eine Studie angefertigt. Im Augenblick ist das sehr wichtig. Aber ich kann mir vorstellen, dass es auf manche abstoßend wirkt.«
»Sie sind diejenigen, die davon abgestoßen sein sollten«, sagte Reacher. »Haben Sie von Stalin gehört?«
Fowler nickte.
»Sowjetdiktator«, sagte er.
»Richtig«, nickte Reacher. »Er pflegte das zu tun.«
»Was zu tun?«, fragte Fowler.
»Potentielle Rivalen zu eliminieren«, erwiderte Reacher. »Mit erfundenen Beschuldigungen.«
Fowler schüttelte den Kopf.
»Die Beschuldigung war durchaus fair«, sagte er. »Loder hat Fehler gemacht.«
Reacher hob die Schultern.
»Eigentlich nicht«, sagte er. »Er hat seine Sache einigermaßen gut gemacht.«
Fowler sah weg.
»Sie werden der Nächste sein«, meinte Reacher. »Passen Sie gut auf. Über kurz oder lang werden Sie feststellen, dass Sie irgendeinen Fehler gemacht haben.«
»Wir kennen uns schon lang«, meinte Fowler. »Beau und ich.«
»Das war bei Beau und Loder genauso, oder nicht?«, sagte Reacher. »Stevie braucht nichts zu befürchten. Der stellt keine Bedrohung dar. Zu dumm. Aber Sie sollten darüber nachdenken. Sie werden der Nächste sein.«
Fowler gab darauf keine Antwort. Wandte sich nur wieder ab. Zusammen gingen sie die mit Gras bestandene halbe Meile zurück. Schlugen einen ausgetretenen Weg nach Norden ein. Sie mussten beiseite treten, um eine lange Reihe Kinder an sich vorbeizulassen, die in Paaren marschierten. Jungen und Mädchen zusammen, mit einer Frau in Drillichkleidung ganz vorn und einer weiteren hinten. Die Kinder waren alle mit umgearbeiteten Uniformsachen bekleidet und trugen lange Stäbe in der rechten Hand. Ihre Gesichter wirkten ausdruckslos und duldsam. Die Mädchen trugen ihr Haar lang und gerade, und den Jungen hatte man die Haare offenbar unter Zuhilfenahme von Töpfen und stumpfen Scheren geschnitten. Reacher blieb stehen und sah zu, wie sie an ihm vorbeigingen. Sie blickten beim Gehen starr nach vorn. Keiner von ihnen riskierte einen Seitenblick auf ihn.
Der Weg, auf dem sie sich jetzt bewegten, führte durch eine lichte Baumgruppe bergauf und endete schließlich auf einer fünfzig Meter langen und fünfzig Meter breiten ebenen Fläche. Sie war von Hand eingeebnet worden. Größere Steine waren weiß gestrichen und in Abständen um den Rand herum ausgelegt worden. Der Platz wirkte ruhig und verlassen.
»Unser Exerzierplatz«, erklärte Fowler mit säuerlicher Miene.
Reacher nickte und sah sich um. Im Norden und Westen die hohen Berge. Im Osten dichter Urwald. Im Süden konnte er hinter der Ortschaft in der Ferne einzelne Baumgruppen und dahinter tiefe Schluchten sehen. Ein kalter Wind zupfte an seiner neuen Jacke, verfing sich in seinem Hemd, und er fröstelte.
Die größeren Schrauben bereiteten mehr Mühe. Viel mehr Lack, der abgeschabt werden musste. Und es erforderte viel mehr Kraft, die Schrauben zu drehen. Je mehr Kraft sie einsetzte, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass das zusammengedrückte Ende der Krücke abrutschte. Sie zog ihren Schuh aus und benutzte den Absatz dazu, das Rohrende in Form zu hämmern. Dann presste sie es mit den Fingern fest. Drückte zu, bis die Sehnenstränge an ihrem Arm wie Seile hervortraten und ihr der Schweiß über das Gesicht rann. Sie drehte die Krücke, hielt den Atem an und wartete, was zuerst nachgeben würde, ihre Finger oder die Schraube.
Der Wind, der an Reachers Hemd zerrte, trug schwache Geräusche zu ihm herüber. Er schaute Fowler an und drehte sich dann so herum, dass er den Westrand des Exerzierplatzes sehen konnte. Eine Reihe von Männern kam aus dem Wald herausgerannt.
Sie kamen zu sechst nebeneinander, die Karabiner schussbereit, zwischen den Bäumen hervorgestürmt. Tarnkleidung, Bärte. Dieselben sechs Wachen, die an jenem Morgen vor der Richterbank gestanden hatten. Borkens persönliche Leibwache. Reacher sah sich die Gesichter an. Der jüngere Mann mit der Narbe lief am äußersten linken Ende der Reihe. Jackson, der Mann vom FBI. Sie blieben stehen, orientierten sich neu und rannten dann über den Exerzierplatz auf Reacher zu. Als sie näher kamen, trat Fowler einen Schritt zurück, sodass Reacher jetzt wie ein isoliertes Ziel wirkte. Fünf der Männer bildeten einen lockeren Halbkreis. Fünf Karabiner zielten auf Reachers Brust. Der sechste Mann trat vor Fowler hin. Er salutierte nicht, aber seine Haltung ließ Respekt erkennen, und das war eigentlich dasselbe.
»Beau will mit diesem Mann reden«, sagte der Soldat. »Es ist dringend.«
Fowler nickte.
»Nehmt ihn mit«, sagte er. »Er fängt ohnehin an, mir auf den Geist zu gehen.«
Die Gewehrläufe stießen Reacher an, drängten ihn in die Mitte ihrer Formation, und dann hasteten die sechs Männer mit ihm in südlicher Richtung durch das spärliche Gehölz. Sie passierten den Schießplatz und rannten im Laufschritt den Trampelpfad zurück zur Bastion. Dort bogen sie nach Westen ab, vorbei an der Waffenkammer, und wieder in den Wald hinein, auf die Kommandohütte zu. Reacher verlängerte seine Schritte und legte Tempo zu. Setzte sich ein Stück vor die anderen. Trat so, dass sein Fuß sich in einer Wurzel verfing, und ging schwer zu Boden. Der erste Mann, der ihn erreichte, war Jackson. Reacher sah die narbige Stirn. Er packte Reachers Arm.
»Maulwurf in Chicago«, hauchte Reacher.
»Aufstehen, Arschloch!«, brüllte Jackson ihn an.
»Verstecken Sie sich und verduften Sie heute nacht«, flüsterte Reacher. »Größte Vorsicht, okay?«
Jackson sah ihn an und reagierte, indem er seinen Arm drückte. Dann zog er ihn in die Höhe und stieß ihn unsanft auf den Weg zu der kleineren Lichtung. Beau Borken stand in der Eingangstür seiner Kommandohütte. Er trug eine voluminöse Tarnuniform, schmutzig und zerdrückt. So als ob er hart gearbeitet hätte. Er starrte Reacher an, als dieser näher kam.
»Wie ich sehe, haben wir Ihnen neue Kleider gegeben«, sagte er.
Reacher nickte.
»Dann muss ich mich wohl für mein Aussehen entschuldigen«, sagte Borken. »Viel zu tun.«
»Ja, Fowler hat es mir erzählt«, erklärte Reacher. »Sie haben Panzersperren gebaut.«
»Panzersperren?«, wiederholte Borken. »Stimmt.«
Dann verstummte er. Reacher sah, wie seine großen weißen Hände sich öffneten und schlossen.
»Ihr Einsatz ist abgesagt«, sagte Borken mit ruhiger Stimme.
»Tatsächlich?«, fragte Reacher. »Warum?«
Borken wuchtete seine mächtige Gestalt aus der Eingangstür heraus und trat näher. Reachers Blick war auf seine flammenden Augen gerichtet, und deshalb sah er den Schlag nicht kommen. Borken schlug ihn in den Magen, eine große, harte Faust, hinter der beinahe zweihundert Kilo Körpergewicht standen. Reacher ging wie ein gefällter Baum zu Boden, und Borken setzte mit einem Fußtritt in seinen Rücken nach.