15

Der weiße Lieferwagen dröhnte eine Stunde lang stetig dahin, vielleicht weitere sechzig Meilen. Die Uhr in Reachers Kopf tickte von elf bis zwölf Uhr Mittag. In ihm bauten sich jetzt die ersten schwachen Andeutungen von Besorgnis auf. Sie waren jetzt seit einem Tag unterwegs. Fast volle vierundzwanzig Stunden. Von der ersten Phase in die Mittelphase. Kein Fortschritt. Und er fühlte sich unbehaglich. In dem Lieferwagen war es schier unerträglich heiß – heißer konnte Luft überhaupt nicht werden. Sie lagen ausgestreckt auf der Matratze, die Köpfe dicht nebeneinander. Die Roßhaarfüllung machte ihnen zusätzlich warm. Hollys dunkles Haar war feucht und lag ausgebreitet um ihren Kopf. An ihrer linken Seite berührte es Reachers nackte Schulter.

»Ist es, weil ich eine Frau bin?«, fragte sie. Angespannt. »Oder vielleicht, weil ich jünger bin als Sie? Oder ist es beides?«

»Was denn?«, fragte er zurück. Argwöhnisch.

»Sie glauben, Sie müssen sich um mich kümmern«, sagte sie. »Sie machen sich Sorgen um mich, weil ich jung bin und eine Frau, stimmt’s? Sie denken, ich brauche Hilfe von einem älteren Mann.«

Reacher regte sich. Eigentlich wollte er sich gar nicht bewegen. Die Lage, in der er sich befand, war alles andere als bequem, und dennoch fühlte er sich, so wie es jetzt war, ganz wohl. Insbesondere wenn er Hollys Haar an seiner Schulter spürte. So war sein Leben eben. Was auch immer geschah, alles brachte stets etwas Gutes mit sich.

»Nun?«, fragte sie.

»Das hat nichts mit Mann oder Frau zu tun, Holly«, sagte er. »Oder mit Alter. Aber Sie brauchen doch Hilfe, oder nicht?«

»Außerdem bin ich eine jüngere Frau, und Sie sind ein älterer Mann«, sagte sie. »Und deshalb liegt es auf der Hand, dass Sie derjenige sind, der dafür qualifiziert ist, diese Hilfe zu leisten. Es könnte keineswegs andersherum sein, oder?«

Reacher schüttelte den Kopf und legte sich wieder zurück.

»Das hat nichts mit Mann oder Frau zu tun«, wiederholte er. »Oder mit Alter. Ich bin qualifiziert, weil ich qualifiziert bin, einfach so. Ich versuche lediglich, Ihnen zu helfen.«

»Sie gehen unsinnige Risiken ein«, sagte sie. »Wenn Sie die Kerle rumschubsen und ärgern, ist das ganz bestimmt der falsche Weg. Da werden wir mit Sicherheit umgebracht.«

»Blödsinn«, sagte Reacher. »Die müssen uns einfach als Menschen zur Kenntnis nehmen und nicht als Ladung.«

»Wer sagt das?«, fuhr Holly ihn an. »Seit wann sind Sie plötzlich der große Fachmann?«

Er zuckte die Schultern.

»Ich will Sie mal was fragen«, erwiderte er. »Wenn die Dinge andersherum liegen würden, hätten Sie mich da in dem Kuhstall allein gelassen?«

Sie dachte nach.

»Natürlich hätte ich das.«

Er lächelte. Wahrscheinlich sagte sie die Wahrheit. Das gefiel ihm an ihr.

»Okay«, sagte er. »Wenn Sie das nächstemal sagen, dass ich verschwinden soll, gehe ich. Ohne Widerspruch.«

Sie blieb eine Weile stumm.

»Gut«, meinte sie dann. »Wenn Sie mir wirklich helfen wollen, dann tun Sie bitte genau das.«

Er hob wieder die Schultern. Schob sich einen Zentimeter näher an sie heran.

»Riskant für Sie«, sagte er. »Wenn ich abhaue, könnte man vielleicht auf die Idee kommen, Sie kaltzumachen und zu verschwinden.«

»Das Risiko gehe ich ein«, sagte sie. »Dafür werde ich bezahlt.«

»Und wer sind diese Leute?«, fragte er sie. »Und was wollen sie?«

»Keine Ahnung.«

Das kam viel zu schnell. Und er wusste, dass sie das wusste.

»Die Gangster haben es auf Sie abgesehen, stimmt’s?«, sagte er. »Entweder weil die an Ihnen persönlich interessiert sind oder weil sie irgendeinen Agenten vom FBI haben wollen und Sie gerade am richtigen Punkt waren. Wie viele Agenten hat das FBI?«

»Das Büro hat fünfundzwanzigtausend Mitarbeiter«, sagte sie. »Zehntausend davon sind Agenten.«

»Okay«, sagte er. »Also wollen die ganz speziell Sie. Eine von zehntausend wäre ein zu großer Zufall. Und ein solcher ist es nicht.«

Sie schaute weg. Er sah zu ihr hinüber.

»Warum, Holly?« fragte er.

Sie zuckte die Schultern und schüttelte den Kopf.

»Das weiß ich nicht«, sagte sie.

Zu schnell. Er sah wieder zu ihr hinüber. Sie gab sich den Anschein der Sicherheit, aber irgendwas an ihrer Stimme klang unecht.

»Ich weiß es nicht«, sagte sie erneut. »Ich kann mir lediglich vorstellen, dass man mich mit jemand anders verwechselt hat.«

Reacher lachte und drehte den Kopf zu ihr hinüber. Sein Gesicht berührte jetzt ihr Haar.

»Sie machen Witze, Holly Johnson«, sagte er. »Sie sind nicht der Typ Frau, den man mit jemand anders verwechselt. Außerdem hat man Sie drei Wochen lang beobachtet. Lang genug, um sich nichts entgehen zu lassen.«

Sie lächelte, sah ihn aber nicht an, sondern blickte mit ironischer Miene zu dem Blechdach hinauf.

»Einmal gesehen, nie vergessen, wie?«, sagte sie. »Das würde ich mir wünschen.«

»Haben Sie daran etwa Zweifel? Ich habe die ganze Woche noch niemanden gesehen, der besser aussieht als Sie.«

»Vielen Dank, Reacher«, sagte sie. »Heute ist Dienstag. Sie haben mich das erste Mal am Montag gesehen. Mächtiges Kompliment, was?«

»Sie haben’s erfasst«, erwiderte er.

Sie setzte sich auf, eine einzige fließende Bewegung aus der Hüfte heraus, wie eine Turnerin, nahm dann ihr Bein in beide Hände und kippte es zur Seite. Stützte sich auf der Matratze auf einem Ellbogen ab. Schob sich das Haar hinters Ohr und sah auf ihn hinunter.

»Gar nichts habe ich erfasst, Sie sind mir ein Rätsel«, sagte sie.

Er sah zu ihr hinauf. Zuckte die Schultern.

»Wenn Sie Fragen haben, sollten Sie sie stellen«, meinte er. »Ich halte sehr viel von der Freiheit der Information.«

»Okay«, sagte sie. »Erste Frage: Wer zum Teufel sind Sie?«

Er zuckte wieder mit den Schultern und lächelte.

»Jack Reacher«, sagte er. »Kein Mittelname, siebenunddreißig Jahre und acht Monate alt, unverheiratet, Türsteher eines Clubs in Chicago.«

»Blödsinn«, sagte sie.

»Blödsinn?«, wiederholte er. »Was davon? Mein Name, mein Alter, mein Familienstand oder mein Beruf?«

»Ihr Beruf«, sagte sie. »Sie sind kein Türsteher.«

»Bin ich nicht? Was bin ich dann?«

»Sie sind Soldat«, sagte sie. »Sie sind in der Army.«

»Bin ich das?«

»Das liegt ziemlich auf der Hand«, sagte sie. »Mein Dad ist bei der Army. Ich habe mein ganzes Leben auf Stützpunkten verbracht. Alle Leute, die ich je zu Gesicht bekommen habe, waren in der Army, bis ich achtzehn war. Ich weiß, wie Soldaten aussehen. Ich weiß, wie sie sich verhalten. Ich war ziemlich sicher, dass Sie einer sind. Und dann haben Sie Ihr Hemd ausgezogen, und ich wusste es ganz sicher.«

Reacher grinste.

»Warum?«, fragte er. »Ist es so typisch Soldat, so etwas zu tun?«

Holly erwiderte sein Grinsen. Schüttelte den Kopf. Ihr Haar löste sich dabei. Sie schob es wieder hinters Ohr und bog dabei einen Finger wie einen kleinen Haken.

»Diese Narbe an Ihrem Bauch«, sagte sie. »Eine schreckliche Naht. Typisch Feldlazarett. Die haben das in ein oder zwei Minuten fabriziert. Wenn ein Chirurg in einer zivilen Praxis so etwas machen würde, bekäme er von jedem eine Anzeige wegen absolutem Murks.«

Reacher strich sich mit dem Finger über die unebene Hautpartie. Die Naht sah aus wie ein Schienenstrang auf einem Rangierbahnhof.

»Der Arzt hatte es eilig«, sagte er. »Ich fand damals, dass er seine Sache recht gut gemacht hat, wenn man die Umstände bedenkt. Das war in Beirut. Ich stand ziemlich weit unten auf der Dringlichkeitsliste – war nur langsam am Verbluten.«

»Dann habe ich also recht«, sagte Holly. »Sie sind Soldat?«

Reacher lächelte wieder und schüttelte dann den Kopf.

»Ich bin Türsteher«, sagte er. »Das habe ich Ihnen doch gesagt. Eine Blues-Kneipe an der South Side. Sie sollten da mal hingehen. Viel besser als die ganzen Touristenlokale.«

Ihr Blick wanderte zwischen der großen Narbe und seinem Gesicht hin und her. Dann presste sie die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf. Reacher nickte ihr zu, wie um einzuräumen, dass sie Recht hatte.

»Ich war einmal Soldat«, sagte er. »Aber dann bin ich ausgestiegen. Das ist jetzt vierzehn Monate her.«

»Bei welcher Einheit?«, fragte sie.

»Militärpolizei«, erklärte er.

Sie schnitt eine Grimasse. »Die allerschlimmsten«, sagte sie. »Euch mag keiner.«

»Was Sie nicht sagen.« Reacher grinste.

»Das erklärt eine ganze Menge«, fuhr sie fort. »Ihr MPs bekommt eine Menge Sondertraining. Also sind Sie wahrscheinlich tatsächlich qualifiziert. Das hätten Sie mir erklären sollen, verdammt. Jetzt muss ich mich wahrscheinlich für das, was ich gesagt habe, entschuldigen.«

Er antwortete darauf nicht.

»Wo waren Sie stationiert?«, fragte sie.

»Überall auf der ganzen Welt«, entgegnete er. »Europa, Ferner Osten, Naher Osten. Manchmal wusste ich wirklich nicht, wo oben und wo unten ist.«

»Rang?«, fragte sie.

»Major«, erwiderte er.

»Auszeichnungen?«, wollte sie wissen.

Er zuckte die Schultern. »Dutzende von den dämlichen Dingern«, sagte er. »Sie wissen ja, wie das so ist. Abzeichen für die verschiedenen Einsätze natürlich, dazu ein Silver Star und zwei Bronze Stars, das Purple Heart von Beirut und Einsatzzeichen aus Panama, Grenada, Desert Shield und Desert Storm.«

»Ein Silver Star?«, fragte sie. »Wofür?«

»Beirut«, sagte er. »Weil ich ein paar Leute aus dem Bunker rausgeholt habe.«

»Und dabei sind Sie verwundet worden?«, fragte sie. »Dabei haben Sie sich die Narbe zugezogen und das Purple Heart bekommen?«

»Ich war bereits verwundet«, sagte er. »Schon bevor ich hineinging. Wahrscheinlich ist es das, was alle beeindruckt hat.«

»Ein Held, wie?«, sagte sie.

Er lächelte und schüttelte den Kopf.

»Nee«, machte er. »Ich hab gar nichts gespürt. Überhaupt nicht nachgedacht. Viel zu geschockt. Ich wusste nicht mal, dass ich getroffen war, erst nachher dann. Wenn ich das gewusst hätte, wäre ich wahrscheinlich ohnmächtig umgekippt. Die Eingeweide hingen mir heraus. Hat scheußlich ausgesehen. Ganz rosa. Irgendwie wabbelig.«

Holly blieb eine Weile stumm. Der Lieferwagen dröhnte dahin. Weitere zwanzig Meilen zurückgelegt. Norden, Süden oder Westen.

»Wie lang waren Sie beim Militär?«, fragte sie.

»Mein ganzes Leben lang«, sagte er. »Mein alter Herr war Offizier bei den Marines und hat auf der ganzen Welt gedient. Er hat in Korea eine Französin geheiratet. Ich bin in Berlin zur Welt gekommen. Die Staaten habe ich das erste Mal zu sehen bekommen, als ich neun Jahre alt war. Kurze Zeit später waren wir auf den Philippinen. Und so ging’s ständig rund um die Welt. Die längste Zeit, die ich an einem Ort verbracht habe, waren vier Jahre in West Point. Dann bin ich selbst Berufssoldat geworden, und es hat alles von vorne angefangen. Ständig rund um die Welt.«

»Wo ist Ihre Familie jetzt?«, fragte sie.

»Tot«, sagte er. »Der alte Herr ist – wann war das eigentlich, vor zwei Jahren, denke ich – gestorben. Und meine Mutter starb dann zwei Jahre später. Ich hab den Silver Star mit ihr begraben. Eigentlich war sie es, die ihn für mich verdient hat. Du musst tun, was man von dir erwartet, hat sie immer zu mir gesagt. Wohl eine Million Mal am Tag, mit ihrem französischen Akzent.«

»Brüder und Schwestern?«, wollte sie wissen.

»Ich hatte einen Bruder«, sagte er. »Der ist letztes Jahr gestorben. Ich bin der letzte Reacher auf der Welt, soweit mir bekannt ist.«

»Wann haben Sie abgemustert?«, fragte sie.

»Letztes Jahr im April. Das ist jetzt vierzehn Monate her.«

»Warum?«

Reacher hob die Schultern. »Wohl kein Interesse mehr gehabt, denke ich«, sagte er. »Damals wurden diese ganzen Sparmaßnahmen im Verteidigungsbudget relevant. Irgendwie kam einem die Army damals überflüssig vor, ich dachte mir, wenn die nicht die Größten und die Besten brauchen, brauchen sie mich nicht. Ich wollte mit etwas Kleinem, Zweitklassigem nichts zu tun haben. Also habe ich Schluss gemacht. Arrogant, nicht wahr?«

Sie lachte.

»Und dann sind Sie Türsteher geworden?«, fragte sie. »Ein hochdekorierter Major wird Türsteher? Ist das nicht zweitklassig?«

»So war es nicht«, sagte er. »Ich bin ja nicht Türsteher geworden, weil ich in dem Beruf Karriere machen will oder so etwas. Das ist nur etwas Provisorisches. Ich bin erst am Freitag nach Chicago gekommen und hatte vor weiterzuziehen, vielleicht am Mittwoch. Ich dachte daran, nach Wisconsin zu gehen. Dort soll es um diese Jahreszeit recht hübsch sein.«

»Freitag bis Mittwoch?«, sagte Holly. »Haben Sie ein Problem, sich festzulegen oder so?«

»Ja, wahrscheinlich.« Er nickte. »Sechsunddreißig Jahre lang war ich immer dort, wo man mir gesagt hat, dass ich sein soll. Ein sehr strukturiertes Leben. Wahrscheinlich ist das jetzt meine Reaktion darauf. Ich mag es, immer dann weiterzuziehen, wenn mir gerade danach ist. Das ist wie eine Art Droge. Die längste Zeit, die ich an einem Ort geblieben bin, war zehn Tage hintereinander. Das war letzten Herbst in Georgia. Zehn Tage von vierzehn Monaten. Davon abgesehen war ich praktisch die ganze Zeit unterwegs.«

»Und haben sich Ihren Lebensunterhalt verdient, indem Sie als Türsteher in Clubs arbeiteten?«, fragte sie.

»Das war ungewöhnlich«, sagte er. »Die meiste Zeit arbeite ich gar nicht und lebe bloß von meinen Ersparnissen. Aber ich bin mit einem Sänger nach Chicago gekommen, und dann hat eines zum anderen geführt, und man hat mich gefragt, ob ich in dem Club, wo der Mann eine Anstellung gefunden hatte, als Türsteher arbeiten wollte.«

»Und was tun Sie, wenn Sie nicht arbeiten?«, fragte sie.

»Ich sehe mir Dinge an«, sagte er. »Ich darf daran erinnern, dass ich ein siebenunddreißigjähriger Amerikaner bin, mich aber nie viel in Amerika aufgehalten habe. Waren Sie auf dem Empire State Building?«

»Natürlich«, sagte sie.

»Ich nicht«, sagte er. »Nicht bis letztes Jahr. Waren Sie in den Museen in Washington?«

»Aber klar.«

»Ich nicht. Erst letztes Jahr. Also all diese Dinge. Boston, New York, Washington, Chicago, New Orleans, Mount Rushmore, Golden Gate, Niagara. Ich bin wie ein Tourist. So, als müsste ich etwas nachholen.«

»Ich bin da genau umgekehrt«, sagte Holly. »Ich reise gerne nach Übersee.«

Reacher zuckte die Schultern.

»Übersee hab ich gesehen«, sagte er. »Sechs Kontinente. Ich werde jetzt hier bleiben.«

»Ich habe die Staaten gesehen«, erklärte sie. »Mein Dad ist die ganze Zeit gereist, aber wir sind hier geblieben, abgesehen von seinen beiden Einsätzen in Deutschland.«

Reacher nickte. Dachte an die Zeit, die er in Deutschland verbracht hatte, als Mann und als Junge. Insgesamt viele Jahre.

»Haben Sie sich in Europa mit Fußball angefreundet?«

»Richtig«, nickte Holly. »Das ist dort drüben eine große Sache. Einmal waren wir in der Nähe von München stationiert, ja? Ich war damals noch ein Kind, elf Jahre vielleicht. Mein Vater bekam Tickets für irgendein großes Spiel in Rotterdam in Holland. Europacup – Bayern München gegen irgendein englisches Team; Aston Villa, haben Sie je von denen gehört?«

Reacher nickte.

»Aus Birmingham, England«, sagte er. »Ich war mal in der Nähe von Oxford stationiert.«

»Ich habe die Deutschen gehasst«, sagte Holly. »So arrogant, so überschwänglich. Die waren so überzeugt, dass sie die Briten fertigmachen würden. Ich wollte es mir gar nicht ansehen. Aber ich musste ja, oder? Das NATO-Protokoll verlangte das von meinem Vater und mir. Wäre ein großer Skandal gewesen, wenn ich mich geweigert hätte. Also sind wir hingegangen. Und die Tommies haben die Deutschen richtig untergebuttert. Wütend waren die. Mir hat das gefallen. Und die Typen von Aston Villa waren so nett. Von jenem Abend an war ich in Fußball verliebt. Und das bin ich immer noch.«

Reacher nickte. Er sah sich auch gerne Fußballspiele an, in gewissem Maße jedenfalls. Aber man musste mit diesem Sport in jungen Jahren vertraut werden und stufenweise. Es wirkte alles sehr locker, dabei war das Spiel voll technischer Raffinesse und voll verstecktem Reiz. Aber er konnte sich gut vorstellen, wie ein junges Mädchen davon vor langer Zeit in Europa angezogen worden war. Ein hektischer Abend bei Flutlicht, in Rotterdam. Zuerst widerstrebend und ablehnend, und dann von dem weißen Ball auf dem grünen Rasen hypnotisiert. Und am Ende in das Spiel verliebt. Aber irgendetwas brachte eine Warnglocke in ihm zum Läuten. Wenn die elfjährige Tochter eines amerikanischen Soldaten sich geweigert hätte, mitzugehen, hätte das zu Peinlichkeiten in der NATO geführt? War es das, was sie gesagt hatte?

»Wer ist Ihr Vater?«, fragte er sie. »Das klingt ja so, als wäre er jemand Wichtiges gewesen.«

Sie zuckte die Schultern. Wollte nicht antworten. Reacher starrte sie an. Eine weitere Warnglocke hatte zu klingeln begonnen.

»Holly, wer zum Teufel ist Ihr Vater?«, fragte er eindringlich.

Ihr Gesicht wurde abweisend, so wie vorher ihre Stimme. Keine Antwort.

»Wer, Holly?«, fragte Reacher erneut.

Sie sah weg. Sprach zu der Blechwand des Lieferwagens gewandt. Ihre Stimme ging in dem Geräusch der Straße fast unter.

»General Johnson«, sagte sie leise. »Zu der Zeit war er der Oberbefehlshaber in Europa. Kennen Sie ihn?«

Reacher starrte sie an. General Johnson. Holly Johnson. Vater und Tochter.

»Ich bin ihm einmal begegnet«, sagte er. »Aber das ist nicht der Punkt, oder?«

Sie funkelte ihn an. Wütend.

»Warum?«, sagte sie. »Was genau ist denn der verdammte Punkt?«

»Das ist der Grund«, sagte er. »Ihr Vater ist der wichtigste Soldat in ganz Amerika, stimmt’s? Deshalb hat man Sie gekidnappt, Holly, Herrgott! Diese Typen wollen gar nicht Holly Johnson, FBI-Agentin. Die ganze FBI-Geschichte ist reiner Zufall. Diese Typen wollen die Tochter von General Johnson.«

Sie blickte ihn so an, als habe er sie gerade ins Gesicht geschlagen.

»Warum«, fragte sie, »warum zum Teufel glaubt eigentlich jeder, dass alles, was je mit mir passiert, nur wegen meines verdammten Vaters passiert?«