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Reacher hielt sich im Wald versteckt und war wegen der Hunde beunruhigt. Mit Menschen konnte er zurechtkommen. Was Hunde betraf, hatte er nur wenig Erfahrung.

Er befand sich zwischen den Bäumen nördlich der Bastion und südlich des Schießplatzes. Er hatte gehört, wie die Chinook eine Meile entfernt auf den Boden aufprallte. Sie traf mit dem Schwanz voran auf und schmetterte durch die Bäume am Abhang. Wie es aussah, war sie seitlich in der Luft weggerutscht und hatte das Gerichtsgebäude um zweihundert Meter verfehlt. Keine Explosionen. Weder vom Gerichtsgebäude noch von dem Hubschrauber selbst. Nichts, was darauf hindeutete, dass die Treibstofftanks in die Luft geflogen waren. Reacher war hinsichtlich der Mannschaft einigermaßen optimistisch. Die Bäume und der sich zusammendrückende kastenförmige Rumpf der Maschine sollten den Aufprall für sie gemildert haben. Er kannte Hubschraubermannschaften, die Schlimmeres überlebt hatten.

Er hielt einen M-16-Karabiner in der Hand und hatte eine Glock in der Tasche stecken. Die Glock war voll geladen. Siebzehn Schuss. Die M-16 war mit dem kurzen Ladestreifen ausgestattet. Zwanzig Schuss abzüglich des einen, mit dem er den Mann mit der Stinger getötet hatte. Die zweite M-16 war mit dem langen Ladestreifen versehen. Eine volle Ladung von dreißig Schuss. Aber sie war zwischen den Bäumen versteckt. Reacher hatte eine feste Regel: Wähle die Waffe, von der du sicher weißt, dass sie funktioniert.

Ihm war instinktiv bewusst, dass die Aufmerksamkeit sich auf den Südostbereich konzentrieren würde. Dort wurde Holly festgehalten, und dort war die Chinook abgestürzt. Dort würden sich die gegnerischen Kräfte massieren. Er war überzeugt, dass die Leute alle nach Südosten sehen, besorgt in den Rest der Vereinigten Staaten hinunter blicken und warten würden. Also ging er auf Nordwestkurs.

Er bewegte sich vorsichtig. Der Großteil der Feinde war anderswo, aber er wusste, dass Suchtrupps unterwegs waren, die ihn zur Strecke bringen sollten. Er wusste, dass sie Fowlers Leiche bereits entdeckt hatten. Er hatte zwei separate Streifen gesehen, die den Wald absuchten. Je sechs Mann, schwer bewaffnet, die sich durch das Unterholz arbeiteten und suchten. Kein Problem, denen aus dem Weg zu gehen. Aber mit den Hunden fertig zu werden würde schwierig sein. Und deshalb war er beunruhigt und bewegte sich mit größter Vorsicht.

Er hielt sich im Schutz der Bäume und schlug einen Bogen um den westlichen Rand des Schießplatzes. Umging den Exerzierplatz im Osten. Als er fünfzig Meter weit nach Norden gegangen war, bog er erneut ab und ging jetzt parallel zu der Straße, die zu der Bergwerksanlage führte. Er hielt sich weiter im Schutz der Bäume und bewegte sich im Laufschritt. Nutzte die Zeit, um sich über einige Prioritäten klar zu werden. Und einen Zeitplan aufzustellen. Er ging davon aus, dass er etwa drei Stunden Zeit hatte. Der Abschuss der Chinook würde eine heftige Reaktion auslösen. Das stand für ihn außer Zweifel. Aber in all den Jahren, die er beim Militär verbracht hatte, war nach seiner Kenntnis nie etwas schneller als in drei Stunden geschehen. Also hatte er drei Stunden zur Verfügung und in der Zeit eine Menge zu erledigen.

Als das felsige Terrain anzusteigen begann, wurde er langsamer, bewegte sich jetzt im schnellen Fußgängertempo. Arbeitete sich in einem weiten Bogen den Abhang hinauf, bis er den Rand der Senke mit dem Zugang zu den Bergwerksschächten erreicht hatte. Er hörte Dieselmotoren im Leerlauf. Er duckte sich und kroch in den Schutz eines Felsbrockens. Sah hinunter.

Er befand sich etwa auf halber Höhe des Abhangs, der die Senke umgab. Blickte mehr oder weniger in östliche Richtung quer über sie. Die hölzernen Tore der weiter entfernt liegenden Kaverne standen offen. Vier der LKWs der Raketeneinheit standen im Freien. Die vier mit den Munitionsregalen auf der Ladebrücke. Der Truppentransporter war noch drinnen.

In der Senke war eine Hand voll Männer zu sehen. Sie umstanden die LKWs im Kreis. Reacher zählte acht Mann. Drillichzeug, Karabiner, sichtlich angespannt. Was hatte die Frau aus der Küche gesagt? Das Bergwerksgelände war off limits. Mit Ausnahme der Leute, denen Borken vertraute. Reacher beobachtete sie. Acht Vertraute, die so etwas wie Wachdienst schoben.

Er beobachtete sie ein paar Minuten lang. Hob den Karabiner an die Schulter. Er war weniger als hundert Meter entfernt. Er schaltete seine Waffe auf Einzelschuss. Neunzehn Schuss hatte er im Magazin und musste mindestens acht davon abgeben. Er musste sparsam mit seiner Munition umgehen.

Die M-16 ist eine gute Waffe. Leicht zu benutzen und leicht zu pflegen. Und man kann leicht mit ihr zielen. Was man sieht, trifft man auch. Reacher vergewisserte sich, dass der Felsbrocken sein Gewicht tragen würde, und richtete die Waffe dann auf das erste Ziel, übte den leichten Schwenk, der ihn zu dem zweiten Ziel führen würde. Und dem dritten. Er probte die ganze Folge von acht Schüssen. Er wollte nicht, dass sein Ellbogen irgendwo mittendrin hängen blieb.

Dann kehrte er zum ersten Ziel zurück. Wartete einen Herzschlag lang und schoss. Der Schuss hallte von den Bergen wider. Der rechte Vorderreifen des ersten LKWs explodierte. Er zog das Visier zur linken Vorderseite herüber. Feuerte erneut. Der LKW sackte auf seine Felgen herunter wie ein betäubter Ochse, der auf die Knie sinkt.

Er fuhr fort, in gleichmäßigen Abständen zu feuern. Er hatte fünf Schüsse abgegeben und fünf Reifen getroffen, ehe jemand reagierte. Als er den sechsten Schuss abgab, sah er aus dem Augenwinkel, wie die Wachen sich hinwarfen, um Deckung zu suchen. Einige ließen sich einfach auf den Boden fallen. Andere rannten zum Schuppen. Er feuerte den siebten Schuss ab. Hielt vor dem achten inne. Der am weitesten von ihm entfernte Reifen war am schwersten zu treffen. Der Winkel war schwierig. Die Reifenflanke war für ihn nicht erreichbar. Er würde auf das Profil feuern müssen. Und da bestand die Möglichkeit, dass die Kugel abprallte. Er feuerte. Traf. Der Reifen platzte. Die Vorderseite des letzten LKWs sackte herunter.

Der ihm am nächsten stehende Wachposten war immer noch auf den Füßen. Suchte nicht im Schuppen Schutz. Stand bloß da und starrte zu dem Felsblock hinüber, hinter dem Reacher kauerte. Hob jetzt seinen Karabiner. Es war eine M-16, die gleiche Waffe wie die von Reacher. Langes Magazin, dreißig Schuss.

Der Mann stand da und zielte auf den Felsblock. Ein tapferer Mann, oder ein Idiot. Reacher kauerte in seiner Deckung und wartete. Der Mann feuerte. Seine Waffe war auf Automatik geschaltet. Er gab drei Schüsse ab. Drei Schüsse in einer Fünftelsekunde. Sie krachten fünf Meter über Reachers Kopf in die Bäume. Zweige und Blätter flogen herunter und landeten in seiner Nähe. Der Mann rannte zehn Meter weiter vor. Feuerte erneut. Drei weitere Schüsse. Ein gutes Stück links von Reacher. Er hörte das Pfeifen der Kugeln und das weiche Klatschen, als sie in Baumstämme fuhren, ehe er die Schüsse selbst hörte. So ist das bei Kugeln, die sich schneller als der Schall bewegen. Man hört alles in umgekehrter Reihenfolge. Die Kugeln treffen vor dem Knall des Schusses ein.

Reacher musste sich entscheiden. Wie nahe würde er diesen Mann herankommen lassen? Und würde er einen Warnschuss abgeben? Die nächsten drei Schüsse lagen näher. Zu tief, aber näher. Keine zwei Meter entfernt. Reacher entschied: Nicht sehr viel näher, und kein Warnschuss. Der Mann war total aufgeputscht. Ein Warnschuss würde nichts bringen. So schnell würde man diesen Mann nicht beruhigen können.

Er legte sich flach hin, streckte die Beine aus und kam ganz unten, hinter dem Felsen, hervor. Feuerte einmal und traf den Mann in der Brust. Er sackte auf dem Schiefergestein zusammen. Der Karabiner flog nach rechts davon. Reacher blieb, wo er war. Beobachtete sorgfältig. Der Mann lebte noch. Also feuerte Reacher erneut. Traf ihn oben am Kopf. Humaner, ihn nicht die letzten zehn Minuten seines Lebens an einer qualvollen Brustwunde leiden zu lassen.

Das Echo des kurzen Schusswechsels verhallte in der Stille der Berge, und dann herrschte wieder Ruhe. Die anderen sieben Männer waren nirgends zu sehen. Die LKWs kauerten alle mit der Nase nach unten auf den Felgen ihrer Vorderräder. Bewegungsunfähig. Man würde sie vielleicht aus der Senke fahren können, aber die erste Haarnadelkurve in den Bergen würde die zerfetzten Reifen von den Felgen reißen. Die LKWs waren außer Gefecht gesetzt. Daran gab es keinen Zweifel.

Reacher kroch zehn Meter rückwärts und stand dann zwischen den Bäumen auf. Eilte im Laufschritt den Abhang hinunter und nahm Kurs auf die Bastion. Siebzehn Schuss in der Glock, neun im Karabiner. Das war ein Fortschritt, hatte aber seinen Preis gefordert.

 

Die Hunde fanden ihn auf halbem Weg zurück. Zwei große, geschmeidige Tiere. Deutsche Schäferhunde. Er sah sie im gleichen Augenblick, in dem sie ihn entdeckten. Sie trabten mit jener ganz besonderen endlosen Energie dahin, wie sie große Hunde an den Tag legen. Lange, weite Schritte, eifriger Blick, feuchtes aufgerissenes Maul. Sie kamen plötzlich zum Stillstand und wechselten in einer einzigen fließenden Bewegung die Richtung. Dreißig Meter entfernt. Dann zwanzig. Dann zehn. Wurden schneller. Neue Energie in ihren Bewegungen. Knurren, das aus ihrer Kehle aufstieg.

Mit Menschen kannte Reacher sich aus. Hunde waren anders. Menschen hatten die Freiheit der Wahl. Wenn ein Mann oder eine Frau knurrend auf ihn zurannte, dann taten sie das, weil sie das wollten. Sie hatten sich für das entschieden, was sie bekommen würden. Seine Reaktion war ihr Problem. Aber Hunde waren anders. Kein freier Wille. Leicht verführt. Das warf ein Problem auf. Einen Hund zu erschießen, weil man ihn dazu gebracht hatte, etwas Unkluges zu tun, gehörte zu den Dingen, die Reacher nur ungern tat.

Er ließ die Glock in der Tasche stecken. Der Karabiner war besser. Er war etwa fünfundsiebzig Zentimeter länger als die Pistole. Zusätzliche fünfundsiebzig Zentimeter Abstand schienen ihm eine gute Idee. Die Hunde machten Halt. Ihr Schulterfell richtete sich auf. Ihr Rückenfell über der Wirbelsäule war gesträubt. Sie duckten sich, die Vorderbeine gespreizt, die Köpfe gesenkt, knurrten laut. Sie hatten gelbe Zähne. Unmengen von Zähnen. Ihre Augen waren braun. Einer war ein Stück weiter vorn als der andere. Der Führer des Rudels. Er wusste, dass Hunde eine Hackordnung brauchten. Bei zwei Hunden musste einer der Vorgesetzte des anderen sein. Wie bei den Menschen. Er wusste nicht, wie Hunde das für sich festlegten. Die Art ihres Auftretens vielleicht. Vielleicht der Geruch. Vielleicht das Verhalten im Kampf. Er hatte gelegentlich Leute über Hunde reden hören. Sie hatten gesagt: Nie Angst zeigen. Dem Hund in die Augen sehen, seinem Blick nicht ausweichen. Ihn nicht merken lassen, dass man Angst hat. Reacher hatte keine Angst. Er stand da und hatte eine M-16 in der Hand. Das Einzige, was ihn beunruhigte, war, dass er sie vielleicht benutzen musste.

Er starrte den Hund stumm an, so wie er früher Soldaten angestarrt hatte, die sich etwas hatten zu Schulden kommen lassen. Ein harter, stummer Blick, wie körperliche Gewalt, wie eiskalter, beengender Druck. Düstere, kalte Augen, starr und unbewegt. Bei Menschen hatte das Dutzende Male funktioniert. Und jetzt funktionierte es bei dem vorderen Hund.

Der Hund war nur teilweise abgerichtet. Das konnte Reacher erkennen. Er beherrschte die Äußerlichkeiten. Aber er leistete nicht das, was man von ihm erwartete. Er war nicht abgerichtet worden, die Reaktion des Opfers zu ignorieren. Er war jetzt in Augenkontakt mit ihm und zog sich ein Stück zurück, als ob Reachers Blick wie ein qualvolle Last auf seiner schmalen Stirn ruhen würde. Reacher steigerte den Druck. Verengte den Blick und legte seinerseits die Zähne frei. Eine Grimasse, wie Schläger sie in schlechten Filmen zeigten. Der Hund ließ den Kopf sinken. Seine Augen drehten sich nach oben, um den Kontakt zu halten. Dann zog er den Schwanz ein.

»Sitz«, sagte Reacher. Er sagte es ganz ruhig, aber fest. Mit einem deutlichen Explosivlaut am Ende des Befehls. Der Hund bewegte sich automatisch. Zog die Hinterbeine ein und setzte sich. Der andere Hund folgte seinem Beispiel wie ein Schatten. Sie saßen nebeneinander und starrten zu ihm hinauf.

»Leg dich«, sagte Reacher.

Die Hunde bewegten sich nicht. Blieben sitzen und starrten ihn verwirrt an. Vielleicht das falsche Wort. Nicht der Befehl, den sie gewöhnt waren.

»Runter«, sagte Reacher.

Ihre Vorderpfoten schoben sich vor, und sie ließen den Bauch auf den Waldboden sinken. Blickten zu ihm auf.

»Platz«, sagte Reacher.

Dabei warf er ihnen einen Blick zu, der keinen Zweifel daran ließ, dass es ihm mit dem Befehl ernst war, und entfernte sich nach Süden. Zwang sich, langsam zu gehen. Als er fünf Meter zurückgelegt hatte, drehte er sich um. Die Hunde lagen immer noch auf dem Boden. Sie hatten die Köpfe herumgedreht und sahen ihm nach, wie er wegging.

»Platz«, rief er noch einmal.

Sie blieben, wo sie waren. Er ging weiter.

 

Er konnte Leute in der Bastion hören. Die Geräusche einer großen Menschenmenge, die sich Mühe gab, ruhig zu bleiben. Er hörte es, als er sich noch ein Stück nördlich vom Exerzierplatz befand. Er schlug zwischen den Bäumen einen Bogen um das Gelände und ging um das Ende des Schießplatzes herum. Kam hinter der Kantine gegenüber der Küchentür durch die Bäume. Er kroch nach vorn, um sich zu orientieren.

In der Bastion waren vielleicht dreißig Leute. Sie standen dicht beieinander. Drängten sich nach vorn. Alles Männer in Tarnanzügen, alle schwer bewaffnet. Karabiner, Maschinenpistolen, Granatwerfer, die Taschen mit Reservemagazinen vollgestopft. Die Menge bewegte sich, Schultern berührten sich und lösten sich wieder voneinander. Reacher entdeckte Beau Borken mitten in der Menge. Er hielt ein kleines schwarzes Funkgerät in der Hand. Reacher erkannte es. Es war Jacksons Gerät. Borken hatte es aus Fowlers Tasche geholt. Er hielt es sich ans Ohr. Starrte ins Leere, als ob er das Gerät gerade eingeschaltet hätte und auf Antwort wartete.