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Den linken Posten auszuschalten bereitete ebenfalls keine Schwierigkeiten. Reacher jagte ihm eine Kugel durch den Kopf, dicht über dem Ohr, und er fiel schwer zu Boden, über den angepflockten FBI-Mann. Aber der rechte Posten reagierte. Er fuhr herum, sprang über die Seile, rannte auf die Bäume zu. Reacher wartete kurz und schickte ihn dann drei Meter entfernt zu Boden. Der Mann flog in gestreckter Länge hin, rutschte durch das Schiefergestein und wirbelte dabei eine Staubwolke auf. Zuckte dann noch einmal und starb.

Dann wartete Reacher. Das Stakkato der drei Schüsse hallte von den Bergen wider und verstummte. Reacher beobachtete die Bäume rings um die Bastion. Wartete, ob sich etwas bewegte. Die Sonne schien hell. Zu hell, um sicher sein zu können. Der Kontrast zwischen der Helligkeit, die auf der Lichtung herrschte, und dem Dunkel des Waldes war groß. Also wartete er.

Dann hetzte er hinter der Radiohütte vor, rannte quer über die Lichtung zu der Messe in der Mitte. Zerrte die Leichen weg. Der Posten lag über dem FBI-Mann. Der Anführer des Trupps lag quer über seinen Beinen. Er stieß sie weg und fand das Messer. Säbelte damit durch die vier Seile. Zog den FBI-Mann in die Höhe und stieß ihn in die Richtung, aus der er gekommen war. Dann packte er die beiden am nächsten liegenden Karabiner und rannte hinter ihm her. Holte ihn auf halbem Weg zu den Bäumen ein. Also packte Reacher ihn unter den Armen und zerrte ihn in Sicherheit. Stieß ihn hinter den Hütten einfach zwischen die Bäume und stand dann gebeugt und keuchend da. Dann nahm er die Magazine von den erbeuteten Gewehren und steckte eines in die Tasche und schob das andere in seine eigene Waffe. Bei beiden handelte es sich um die Langversion mit dreißig Schuss. Er hatte nur noch sechs Schuss gehabt. Jetzt hatte er sechzig. Das Zehnfache. Und außerdem verfügte er jetzt über ein zweites Paar Hände.

»Sind Sie Brogan?«, fragte er. »Oder McGrath?«

Der Mann reagierte ausdruckslos. Sein Gesicht war von einer Mischung aus Angst und Panik und Verwirrung gezeichnet.

»McGrath«, sagte er. »FBI.«

Reacher nickte. Der Mann war durcheinander, aber er war ein Verbündeter. Er zog Fowlers Glock aus der Tasche und hielt sie ihm mit dem Kolben voran hin. McGraths Atem ging immer noch keuchend, und er sah immer wieder verstört zu den schützenden Bäumen hinüber. Seine Haltung wirkte aggressiv. Er hatte die Hände zu Fäusten geballt.

»Was ist?«, fragte Reacher ihn beunruhigt.

McGrath schoss plötzlich vor, riss ihm die Glock weg und trat wieder zurück. Hob die Waffe, nahm Kampfschützenhaltung ein und richtete sie mit beiden Händen auf ihn. Auf Reachers Kopf. Von seinen Handgelenken baumelten noch die abgeschnittenen Seilenden. Reacher starrte ihn bloß verständnislos an.

»Was zum Teufel soll das?«, fragte er.

»Sie sind einer von denen«, erwiderte McGrath. »Lassen Sie das Gewehr fallen, ja?«

»Was?«, fragte Reacher noch einmal.

»Tun Sie es einfach, okay!«, sagte McGrath.

Reacher starrte ihn ungläubig an. Deutete an den Bäumen vorbei auf die drei Leichen, die auf der Lichtung lagen.

»Und was ist damit?«, fragte er. »Sagt Ihnen das gar nichts?«

Die Glock bewegte sich keinen Millimeter. Sie war unverwandt auf seinen Kopf gerichtet. McGrath sah aus wie die Abbildung in einem Handbuch für Kampfschützen, wenn da die Seilstücke nicht gewesen wären, die von seinen Hand- und Fußgelenken hingen.

»Gilt das denn gar nichts?«, fragte Reacher noch einmal und deutete hinaus.

»Nicht unbedingt«, knurrte McGrath zurück. »Sie haben Peter Bell auch getötet. Das wissen wir. Bloß weil Sie nicht zulassen, dass Ihre Leute Geiseln vergewaltigen und foltern, heißt das noch lange nicht, dass Sie ein Engel sind.«

Reacher sah ihn ein paar Augenblicke lang verwundert an. Dachte nach. Dann nickte er vorsichtig und ließ das Gewehr genau in die Mitte zwischen sie beide fallen. Wenn er es vor seine eigenen Füße fallen ließ, würde McGrath ihn auffordern, es ihm hinüber zu schieben. Der Schusshaltung nach, die er eingenommen hatte, erwartete Reacher von ihm wenigstens ein Mindestmaß an Kompetenz.

McGrath blickte zu Boden. Zögerte. Er wollte Reacher ganz eindeutig nicht zu nahe bei sich haben. Er wollte nicht, dass er ihm näher kam und ihm das Gewehr hinschob. Also streckte er selbst den Fuß aus, um die Waffe zu sich heranzuziehen. Er war vielleicht fünfundzwanzig Zentimeter kleiner als Reacher. Indem er aus zwei Meter Entfernung mit der Glock auf Reachers Kopf zielte, hielt er die Waffe ziemlich steil nach oben gerichtet. Als er jetzt den Fuß vorstreckte, verringerte das seine Größe um vielleicht drei Zentimeter, was automatisch dazu führte, dass der Winkel seiner nach oben gerichteten Arme sich entsprechend veränderte. Und als er den Fuß vorschob, brachte ihn das ein wenig näher zu Reacher heran. Als seine Fußspitze nach der Waffe tastete, waren seine Oberarme vor seinem Gesicht und störten seine Sicht. Reacher wartete darauf, dass er wieder nach unten blickte. Das tat er jetzt. Reacher ließ seine Knie locker werden und sich senkrecht fallen. Schlug gleichzeitig mit dem Arm nach oben und wischte die Glock weg. Schlang den anderen Arm im weiten Bogen hinten um McGraths Knie und warf ihn flach auf den Boden. Presste die Hand über McGraths Handgelenk und drückte zu, bis sich sein Griff um den Kolben der Glock löste. Er hob sie am Lauf auf und hielt sie dem anderen hin.

»Sehen Sie sich das an«, sagte er.

Er schüttelte seine Hemdmanschette ab und zeigte dem anderen die verkrustete Schramme an seinem linken Handgelenk.

»Ich bin keiner von denen«, sagte er. »Die hatten mich die meiste Zeit mit Handschellen gefesselt.«

Dann hielt er die Glock wieder mit dem Kolben voran hin. McGrath starrte sie an und sah dann in die Lichtung hinüber. Er legte den Kopf zuerst nach links, dann nach rechts, um die drei Leichen sehen zu können. Sah dann wieder Reacher an, immer noch verwirrt.

»Wir hatten Sie zu den Bösen gezählt«, sagte er.

Reacher nickte.

»Das merke ich«, sagte er. »Aber warum?«

»Das Video von der Reinigung«, erklärte McGrath. »Das hat so ausgesehen, als ob Sie mit zu den Entführern gehören würden.«

Reacher schüttelte den Kopf.

»Harmloser Passant«, sagte er.

McGrath musterte ihn immer noch nachdenklich, überlegte. Jetzt sah Reacher, dass er eine Entscheidung getroffen hatte. Er nickte, nahm die Glock entgegen und legte sie auf den Waldboden, genau zwischen ihnen, so als wolle er damit eine Art Vertrag symbolisieren. Er fing an, an seinen Hemdknöpfen herumzufummeln. Die abgeschnittenen Seilstücke baumelten dabei von seinen Handgelenken.

»Okay, können wir noch mal von vorn anfangen?«, sagte er etwas verlegen.

Reacher nickte und streckte ihm die Hand hin.

»Aber sicher«, sagte er. »Ich bin Reacher, Sie sind McGrath. Hollys Agent-in-Charge. Erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

McGrath lächelte ein wenig verlegen und schüttelte ihm schlaff die Hand. Dann begann er die Knoten an seinen Handgelenken zu lösen.

»Kennen Sie jemanden, der Garber heißt?«, fragte McGrath.

Reacher nickte.

»Das war einmal mein Chef«, sagte er.

»Garber hat uns gesagt, dass Sie sauber sind«, meinte McGrath. »Wir haben ihm nicht geglaubt.«

»Natürlich nicht«, sagte Reacher. »Garber sagt immer die Wahrheit. Deshalb glaubt ihm nie einer.«

»Ich sollte mich wohl bei Ihnen entschuldigen«, sagte McGrath. »Tut mir Leid, okay? Aber versuchen Sie mal, es aus meiner Sicht zu sehen. Sie waren seit fünf Tagen Staatsfeind Nummer eins.«

Reacher wischte die Entschuldigung weg und stand auf und war McGrath beim Aufstehen behilflich. Bückte sich und hob die Glock auf und reichte sie ihm.

»Ihre Nase? Alles in Ordnung?«, fragte er.

McGrath schob die Pistole in die Jacketttasche. Betastete dann vorsichtig seine Nase und verzog das Gesicht.

»Der Mistkerl hat mich geschlagen«, sagte er. »Ich denke, sie ist gebrochen. Hat sich einfach umgedreht und auf mich eingeschlagen, als ob er nicht warten könnte.«

Links von ihnen war ein Geräusch im Wald zu hören. Reacher packte McGrath am Arm und zog ihn tiefer ins Unterholz hinein. Er blieb reglos stehen und lauschte, ob sich etwas bewegte. McGrath hatte jetzt die Knoten an seinen Fußgelenken gelöst und nahm sich die Seilstücke ab. Er musste sich erst Mut machen, ehe er fragte:

»Dann ist Holly in Ordnung?«, fragte er.

Reacher nickte. Aber mit finsterer Miene.

»Bis jetzt schon«, sagte er. »Aber es wird verdammt schwierig sein, sie rauszuholen.«

»Ich weiß über das Dynamit Bescheid«, sagte McGrath. »Das war das Letzte, was Jackson durchgegeben hat. Montagabend.«

»Das ist ein Problem«, wiederholte Reacher. »Ein Schuss, der danebengeht, und es ist passiert. Und hier oben gibt es hundert schießwütige Leute. Was auch immer wir tun, wir müssen sehr vorsichtig sein. Haben Sie Verstärkung angefordert? Geiselbefreiungsteam?«

McGrath schüttelte den Kopf.

»Bis jetzt noch nicht«, sagte er. »Politik.«

»Das ist vielleicht gut so«, meinte Reacher. »Die reden von Massenselbstmord, wenn es so aussieht, als ob sie den Kürzeren ziehen würden. In Freiheit leben oder sterben, Sie wissen schon.«

»Was auch immer«, sagte McGrath. »Das ist deren Entscheidung. Mir ist egal, was mit denen passiert. Für mich ist nur Holly wichtig.«

Sie verstummten und schlichen sich hintereinander durch die Bäume. Blieben schließlich tief im Wald stehen, etwa auf gleicher Höhe mit der Hinterseite der Kantine. Reacher hielt einen Finger an die Lippen. Links von ihm war ein Geräusch zu hören. Eine Streife, die den Wald absuchte. McGrath setzte zu einer Bewegung an, aber Reacher packte ihn am Arm und gebot ihm Einhalt. Besser stocksteif dastehen als riskieren, dass sie auch ein Geräusch machten. Die Streife kam näher. Reacher hob seinen Karabiner und schaltete ihn auf Schnellfeuer. Dämpfte das Klicken mit der flachen Hand. McGrath hielt den Atem an. Man konnte die Streife jetzt sehen, sie war nur drei Meter von ihnen entfernt. Sechs Männer, sechs Gewehre. Sie blickten beim Gehen im Rhythmus nach links und rechts. Reacher atmete lautlos aus. Amateure, schlecht ausgebildet und mit schlechter Taktik. Bei jedem zweiten Blick hatten sie die helle Sonne in den Augen, und das machte es ihnen unmöglich, im Waldesdunkel etwas zu sehen. Sie waren praktisch blind. Sie zogen vorbei, ohne stehen zu bleiben. Reacher blickte ihnen eine Weile nach und wandte sich dann wieder McGrath zu.

»Wo sind Brogan und Milosevic?«, flüsterte er.

McGrath nickte bedrückt.

»Ich weiß«, sagte er leise. »Einen von denen haben sie umgedreht. Das habe ich mir, etwa eine halbe Sekunde bevor sie mich geschnappt haben, zusammengereimt.«

»Wo sind sie?«, fragte Reacher erneut.

»Irgendwo hier oben«, sagte McGrath. »Wir sind zusammen durch die Schlucht reingekommen, eine Meile voneinander entfernt.«

»Welcher von beiden ist es?«, fragte Reacher.

McGrath zuckte die Schultern.

»Das weiß ich nicht«, sagte er. »Ich komme nicht dahinter. Ich habe die ganze Zeit darüber nachgedacht. Sie haben beide gute Arbeit geleistet. Milosevic hat die Reinigung gefunden. Er hat das Video gebracht. Brogan hat eine ganze Menge dafür getan, dass wir die Spur hierher nach Montana verfolgen konnten. Er hat den Lieferwagen aufgespürt. Er hat die Verbindung mit Quantico gehalten. Mein Bauch sagt mir, dass keiner von beiden faul ist.«

»Wann bin ich identifiziert worden?«, fragte Reacher.

»Donnerstagmorgen«, erklärte McGrath. »Wir hatten Ihre komplette Akte.«

Reacher nickte.

»Er hat das sofort durchgegeben«, sagte er. »Diese Leute wussten plötzlich, wer ich bin. Donnerstag morgen.«

McGrath zuckte erneut die Schultern.

»Um die Zeit waren beide da«, sagte er. »Wir waren alle in Peterson.«

»Haben Sie Hollys Fax bekommen?«, fragte Reacher.

»Welches Fax?«, fragte McGrath. »Wann?«

»Heute Morgen«, sagte Reacher. »Sehr früh, vielleicht zehn vor fünf. Sie hat Ihnen eine Warnung gefaxt.«

»Wir haben deren Leitung angezapft«, sagte McGrath. »In einem LKW, hier auf der Straße. Aber um zehn vor fünf war ich im Bett.«

»Wer hat da aufgepasst?«, fragte Reacher.

McGrath nickte.

»Milosevic und Brogan«, sagte er finster. »Alle beide. Um zehn vor fünf heute morgen hatten sie gerade ihren Dienst angetreten. Welcher von den beiden es auch ist, er muss das Fax erwischt und versteckt haben. Aber ich weiß einfach nicht, welcher.«

Reacher nickte.

»Wir könnten versuchen dahinterzukommen«, sagte er. »Oder einfach abwarten. Einer von beiden wird frei herumlaufen und der andere wird in Handschellen sein. Dann wissen wir es.«

McGrath nickte finster.

»So lang kann ich nicht warten«, sagte er.

Dann spannten sich Reachers Muskeln, und er zog McGrath zehn Meter tiefer in den Wald hinein. Er hatte gehört, wie die Streife zurückkam.

 

Im Gerichtssaal hatte Borken die drei Schüsse gehört. Er saß auf dem Richtersessel und hörte sie ganz deutlich, als jeder der fernen Berge das Echo zu ihm zurückwarf. Er schickte einen Läufer zur Bastion. Eine Meile hin, eine Meile zurück, auf dem gewundenen Weg durch den Wald. Zwanzig Minuten vergeudet, dann kam der Läufer keuchend mit der Meldung zurück. Drei Leichen, vier abgeschnittene Seile.

»Reacher«, sagte Borken. »Ich hätte ihn gleich zu Anfang erledigen sollen.«

Milosevic nickte zustimmend.

»Ich möchte ihn nicht in meiner Nähe haben«, sagte er. »Ich habe den Autopsiebericht über Ihren Freund Peter Bell gehört. Ich will bloß mein Geld und gesicherten Abzug von hier, okay?«

Borken nickte. Dann lachte er. Ein schrilles, nervöses Lachen, das teils Erregung, teils Anspannung war. Er stand auf und kam hinter der Richterbank hervor. Lachte und grinste und hieb Milosevic auf die Schulter.

 

Holly Johnson wusste auch nicht mehr über Dynamit als die meisten Leute. Sie konnte sich nicht an seine genaue chemische Zusammensetzung erinnern. Sie wusste, dass Ammoniumnitrat und Nitrozellulose dazu gehörten. Sie fragte sich, ob auch Nitroglycerin hineingemischt war? Oder war das eine andere Sprengstoffart? Wie auch immer, nach ihrer Vorstellung war Dynamit eine klebrige Flüssigkeit, die man mit porösem Zeug zusammenbringt und aus der man dann Stäbe macht. Schwere Stäbe, ziemlich dicht. Wenn ihre Wände mit schweren, dichten Stäben vollgepackt waren, würden sie stark geräuschdämmend wirken. Wie Schallschutz in einer Stadtwohnung. Und das bedeutete, dass die Schüsse, die sie gehört hatte, ziemlich nahe gefallen waren.

Sie hatte sie gehört, aber sie wusste nicht, wer auf wen schoss, oder warum. Es waren keine Pistolen- oder Revolverschüsse gewesen. Sie kannte das trockene Bellen von Revolverschüssen aus ihrer Zeit in Quantico. Das hier waren Schüsse aus einem Gewehr. Nicht das schwere Dröhnen der großen Barretts vom Schießplatz. Eine leichtere Waffe. Jemand, der dreimal hintereinander eine Waffe mittleren Kalibers abgeschossen hatte. Oder drei Leute, die gleichzeitig eine unregelmäßige Salve abgegeben hatten. Aber was auch immer es gewesen war, etwas war im Gange. Und sie musste bereit sein.

 

Garber hörte die Schüsse auch. Dann ein Dutzend Echos, die die Bergflanken zurückwarfen. Für ihn stand zweifelsfrei fest, was das für Schüsse waren. Eine M-16, Einzelschuss, das erste Paar Schüsse dicht hintereinander, was man beim Militär eine Doublette nannte. Ein Schütze, der sein Handwerk beherrschte. Der Sinn war, den zweiten Schuss abzufeuern, ehe die erste Patronenhülse zu Boden fiel. Dann ein drittes Ziel, vielleicht auch ein Schuss, um sicher zu gehen, auf das zweite. Ein unverkennbarer Rhythmus. Wie ein Markenzeichen. Das hörbare Markenzeichen von jemandem mit mehreren hundert Stunden Waffenausbildung. Garber nickte und setzte seinen Weg zwischen den Bäumen fort.

 

»Es muss Brogan sein«, flüsterte Reacher.

McGrath sah ihn überrascht an.

»Warum Brogan?«, fragte er.

Sie kauerten, den Rücken an Baumstämme gelehnt, dreißig Meter tief im Wald, unsichtbar. Die Streife war zurückgekehrt und hatte sie erneut verfehlt. McGrath hatte Reacher alles erzählt, was er wusste. Alle wichtigen Bestandteile der Ermittlung hatte er ihm dargelegt, ein Fachmann, der zu einem zweiten sprach, eine Art Stenogramm, das nur Eingeweihte verstanden. Reacher hatte knappe Fragen gestellt, und McGrath hatte darauf ebenso kurz und bündig geantwortet.

»Zeit und Entfernung«, sagte Reacher. »Das war entscheidend. Versuchen Sie es von deren Standpunkt aus zu sehen. Sie haben uns in den Lieferwagen gesteckt und sind auf schnellstem Wege nach Montana gereist. Was sind das? Siebzehnhundert Meilen vielleicht? Achtzehnhundert?«

»Wahrscheinlich«, räumte McGrath ein.

»Und Brogan ist ein cleverer Bursche«, sagte Reacher. »Er weiß, dass Sie das auch sind. Er weiß, dass Sie clever genug sind, um zu wissen, dass er clever ist. Also darf er nicht zu dick auftragen, aber er kann dafür sorgen, dass Sie für die ganze Aktion kein Problem bilden, indem er es so einrichtet, dass Sie recht spät informiert werden. Und genau das hat er getan. Er hat den Informationsfluss verlangsamt. Nach beiden Richtungen. Also wusste er am Montag, dass die einen Lieferwagen gemietet hatten. Aber bis zum Mittwoch hat er immer noch dafür gesorgt, dass Sie sich auf gestohlene Lieferwagen konzentrierten, habe ich recht? In Wirklichkeit hat er bloß dafür gesorgt, dass Sie Zeit vergeudet haben. Und seinen Leuten hat er genug Zeit verschafft, um uns hierher zu bringen.«

»Aber er hat uns trotzdem auf dem Hals.« sagte McGrath.

»Das ist für ihn kein Nachteil«, sagte Reacher. »Borken war ja ganz wild darauf, Ihnen zu sagen, wo Holly steckte, sobald sie hier in Sicherheit war, oder nicht? Das Ziel sollte nie ein Geheimnis sein. Das war ja der Sinn des Ganzen. Sie sollte Sie davon abhalten anzugreifen. Und das hätte ja keinen Sinn gehabt, wenn er Ihnen nicht genau gesagt hätte, wo sie sich befand.«

McGrath überlegte. War immer noch nicht überzeugt.

»Die haben ihn bestochen«, sagte Reacher. »Das können Sie mir ruhig glauben. Sie haben eine große Kriegskasse, McGrath. Zwanzig Millionen Dollar, gestohlene Inhaberobligationen.«

»Der Überfall auf den Geldtransport?«, fragte McGrath. »Irgendwo im Norden von Kalifornien? Das waren die?«

»Sie prahlen damit«, sagte Reacher.

McGrath ließ sich das durch den Kopf gehen. Wurde bleich. Reacher sah es und nickte.

»Richtig«, sagte er. »Lassen Sie mich raten: Brogan war nie knapp bei Kasse, oder? Hat nie über sein Gehalt gemeckert, was?«

»Scheiße«, schnaufte McGrath. »Zwei Alimentenschecks jeden Monat, Freundin, Seidensakkos, und ich habe nie darüber nachgedacht. Ich war einfach froh, dass er keiner von den Meckerern war.«

»Er ist gerade dabei, seine nächste Rate zu kassieren«, sagte Reacher. »Und Milosevic ist tot oder irgendwo eingeschlossen.«

McGrath nickte langsam.

»Und Brogan hat früher in Kalifornien gearbeitet«, sagte er. »Ehe er zu mir kam. Ich wette, dass er der Agent war, den man auf Borken angesetzt hat. Er hat gesagt, die in Sacramento konnten es ihm nicht nachweisen. Aus den Unterlagen ging nicht klar hervor, warum das nicht möglich war. Aber jetzt kenne ich den Grund: Borken hat ihm eimerweise Geld zugeschaufelt, um sicher zu gehen, dass ihm die nichts nachweisen konnten. Und der Mistkerl hat das Geld genommen.«

Reacher nickte. Sagte nichts.

»Scheiße«, sagte McGrath erneut. »Scheiße, Scheiße, Scheiße. Meine Schuld.«

Reacher sagte immer noch nichts. Es war taktvoller, einfach ruhig zu bleiben. Er konnte sich gut in McGraths Gefühle hineinversetzen. Konnte verstehen, in welcher Situation der Mann sich befand. Er war in der Vergangenheit auch gelegentlich in einer solchen Lage gewesen. Er hatte gespürt, wie ihm das Messer zwischen die Schulterblätter gestoßen wurde.

»Um Brogan werde ich mich später kümmern«, erklärte McGrath schließlich. »Nachdem wir Holly geholt haben. Hat sie etwas von mir gesagt? War ihr klar, dass ich kommen würde, um sie zu holen? Hat sie das erwähnt?«

Reacher nickte.

»Sie hat mir gesagt, dass sie auf ihre Leute vertraut«, sagte er.