36
Reacher wachte genau zwei Minuten vor zweiundzwanzig Uhr auf. Das geschah auf die für ihn ganz normale Weise, das heißt, er war plötzlich wach, ohne sich zu bewegen und ohne dass sich an seinem Atem etwas änderte. Er spürte seinen Arm unter seinem Kopf und schlug die Augen einen ganz schmalen Spalt auf. Auf der anderen Seite der Strafhütte saß Joseph Ray immer noch an die Tür gelehnt. Die Glock lag neben ihm auf dem Boden. Er sah gerade auf die Uhr.
Reacher zählte im Kopf neunzig Sekunden ab. Rays Blick wanderte zwischen dem Dach der Hütte und seiner Uhr hin und her. Dann sah er zu Reacher hinüber. Der fuhr in einer fließenden Bewegung in die Höhe. Presste sich die Handfläche ans Ohr, als ob er auf eine geheime Stimme lauschte. Rays Augen waren geweitet. Reacher nickte und stand auf.
»Okay«, sagte er. »Machen Sie die Tür auf, Joe.«
Ray holte den Schlüssel aus der Tasche, sperrte die Tür auf. Sie schwang nach außen.
»Wollen Sie die Glock nehmen?«, fragte Ray.
Er hielt ihm die Waffe mit dem Kolben voran hin. Man konnte die Angst in seinen Augen lesen. Reacher lächelte. Er hatte nichts anderes erwartet. Ray war dumm, aber nicht so dumm. Er hatte jetzt zweieinhalb Stunden Zeit gehabt, um sich das Gehörte durch den Kopf gehen zu lassen und sich einen Reim darauf zu machen. Das war jetzt eine abschließende Probe. Wenn er die Waffe nahm, war er ein Schwindler. Reacher war überzeugt, dass die Waffe nicht geladen war und dass Ray das Magazin in der Tasche hatte.
»Die brauche ich nicht«, sagte Reacher. »Wir haben das ganze Areal im Griff. Ich habe wesentlich wirksamere Waffen zu meiner Verfügung als eine Neun-Millimeter, das können Sie mir glauben, Joe.«
Ray nickte und richtete sich auf.
»Vergessen Sie die Laserstrahlen nicht«, sagte Reacher. »Wenn Sie diese Hütte verlassen, sind Sie ein toter Mann. Ich kann dagegen im Augenblick nichts unternehmen. Vous comprenez, mon ami?«
Ray nickte wieder. Reacher schlüpfte in die Nacht hinaus. Ray schloss die Tür hinter ihm. Reacher huschte lautlos davon und wartete hinter der Ecke der Hütte. Kniete nieder und fand am Boden einen kleinen Steinbrocken. Nahm ihn in die Hand und wartete, dass Ray ihm folgte.
Er kam nicht. Reacher wartete acht Minuten. Langjährige Erfahrung hatte ihn gelehrt: Wenn sie nicht nach sechs Minuten kommen, kommen sie überhaupt nicht. Die Leute denken in Fünfminutensegmenten, weil die Uhren so angelegt sind. Sie sagen sich: Ich werde fünf Minuten warten. Und dann fügen sie aus Vorsicht noch eine weitere Minute hinzu. Das halten sie für schlau. Reacher wartete die ersten fünf, dann die zusätzliche eine, und fügte dann, um sicher zu gehen, zwei weitere hinzu. Aber Ray kam nicht. Er würde auch nicht kommen.
Reacher vermied die Lichtung. Er hielt sich zwischen den Bäumen. Er machte einen Bogen um das gerodete Waldstück und ignorierte die ausgetretenen Wege. Wegen der Hunde machte er sich keine Sorgen. Man hatte sie nicht losgelassen. Fowler hatte davon geredet, dass Berglöwen unterwegs seien. Niemand lässt nachts die Hunde hinaus, wenn er weiß, dass Berglöwen auf der Pirsch sind. Das wäre die sicherste Methode, um am Morgen keine Hunde mehr zu haben.
Er ging um die ganze zwischen den Bäumen versteckte Bastion herum. Alle Lichter waren ausgeschaltet, und die Anlage lag in völliger Stille da. Er wartete zwischen den Bäumen hinter der Kantine. Die Küche war eine quadratische Hütte, die nicht sonderlich geschickt hinten am Hauptgebäude angebaut war. Es brannte kein Licht, aber die Tür war offen, und die Frau, die ihm am Morgen das Frühstück gebracht hatte, wartete im Schatten. Er beobachtete sie aus dem Schutz der Bäume. Wartete fünf Minuten. Dann sechs. Nirgends eine Bewegung. Er warf seinen Stein ein Stück links von ihr auf den Weg. Sie zuckte bei dem Geräusch zusammen. Er rief leise. Sie kam aus den Schatten. Allein. Sie ging zu den Bäumen hinüber. Er griff nach ihrem Ellbogen und zog sie in die Dunkelheit.
»Wie sind Sie dort rausgekommen?«, fragte sie ihn flüsternd.
Es war unmöglich festzustellen, wie alt sie war. Vielleicht fünfundzwanzig, vielleicht fünfundvierzig. Sie war hübsch, schlank, langes glattes Haar, aber abgehärmt und sichtlich von Sorgen geplagt. Aber ein Funken Widerstandskraft und Mut war in ihr verblieben. Man konnte sich gut vorstellen, wie sie vor hundert Jahren hinter einem Planwagen den Oregon Trail hinuntergestiegen war.
»Wie sind Sie rausgekommen?«, flüsterte sie erneut.
»Ich bin zur Tür hinausgegangen«, erwiderte Reacher, ebenfalls im Flüsterton.
Die Frau sah ihn mit ausdrucksloser Miene an.
»Sie müssen uns helfen«, flüsterte sie.
Dann rang sie die Hände und drehte den Kopf nach links und rechts, spähte verängstigt in die Dunkelheit.
»Wie helfen?«, fragte er. »Warum?«
»Die sind alle verrückt«, sagte die Frau. »Sie müssen uns helfen.«
»Wie?«, wiederholte er.
Sie verzog bloß das Gesicht und stand mit gespreizten Armen da, als ob das offensichtlich wäre oder als wisse sie nicht, wo oder wie sie anfangen solle.
»Ganz von Anfang an«, sagte er.
Sie nickte zweimal, schluckte, war sichtlich bemüht, ihre Gedanken zu sammeln.
»Leute sind verschwunden«, sagte sie.
»Was für Leute?«, fragte er. »Wie sind sie verschwunden?«
»Einfach verschwunden«, sagte sie. »Das ist Borken. Er hat alles an sich gezogen. Das ist eine lange Geschichte. Die meisten von uns waren mit anderen Gruppen hier oben, haben aus eigener Kraft überlebt, mit unseren Familien, wissen Sie? Ich war bei den Northwestern Freemen. Dann ist Borken aufgetaucht und hat von Einheit geredet. Er hat sich mit den Führern der Gruppen angelegt, mit ihnen gestritten. Die anderen wollten sich seinen Ansichten nicht anschließen. Und dann sind sie allmählich verschwunden. Sie sind einfach weggegangen. Borken hat gesagt, sie könnten sein Tempo nicht mithalten. Sie seien einfach verschwunden. Und deshalb sollten wir uns ihm anschließen, sagte er. Wir hätten keine andere Wahl. Einige von uns sind hier mehr oder weniger Gefangene.«
Reacher nickte.
»Und jetzt passieren dort oben bei den Bergwerksschächten seltsame Dinge«, sagte sie.
»Was für Dinge?«, wollte er wissen.
»Ich weiß nicht«, erklärte sie. »Schlimme Dinge, denke ich. Wir dürfen dort nicht hin. Die sind nur eine Meile von hier entfernt, aber das ist eine Sperrzone. Heute ist dort irgendetwas geschehen. Die haben gesagt, sie würden alle im Süden arbeiten, an der Grenze, aber als sie dann zum Essen zurückkamen, kamen sie aus dem Norden. Ich habe sie vom Küchenfenster aus gesehen. Sie haben gelacht und gegrinst.«
»Wer?«, fragte Reacher.
»Borken und die, denen er vertraut«, sagte sie. »Er ist verrückt. Er sagt, sie werden uns angreifen, wenn wir unsere Unabhängigkeit erklären, und wir müssen uns wehren. Das soll morgen losgehen. Wir haben alle Angst. Schließlich haben wir Familien. Aber wir können nichts unternehmen. Wenn man sich gegen ihn stellt, wird man entweder verbannt oder er redet so lange auf einen ein, bis man sich seiner Meinung anschließt. Niemand ist ihm gewachsen. Er hat uns völlig unter Kontrolle.«
Reacher nickte erneut. Die Frau sackte förmlich in sich zusammen, lehnte sich an ihn. Tränen standen auf ihren Wangen.
»Und wir können nicht gewinnen, oder?«, sagte sie. »Nicht, wenn die uns angreifen. Wir sind doch nur hundert. Wir können doch nicht mit hundert Leuten eine Armee schlagen, oder? Wir werden alle sterben.«
Ihre Augen waren geweitet, Hoffnungslosigkeit stand in ihnen. Reacher zuckte die Schultern. Schüttelte den Kopf und gab sich Mühe, ruhig und aufmunternd zu klingen.
»Es wird eine Belagerung geben«, sagte er. »Das ist alles. Ein Patt. Die werden verhandeln. Das wäre nicht das erstemal. Und es wird das FBI sein, nicht das Militär. Das FBI versteht sich auf diese Dinge. Sie werden das alle gut überstehen. Die werden Sie nicht töten. Die werden nicht herkommen und jemanden töten wollen. Das ist bloß Borkens Propaganda.«
»In Freiheit leben oder sterben«, sagte sie. »Das sagt er die ganze Zeit.«
»Das FBI wird das schon in den Griff bekommen«, sagte er wieder. »Niemand hat vor, Sie zu töten.«
Die Frau presste die Lippen zusammen, schloss die Augen und schüttelte wild den Kopf.
»Nein, Borken wird uns töten«, sagte sie. »Er wird das tun, nicht die. In Freiheit leben oder sterben, verstehen Sie denn nicht? Wenn die kommen, wird er uns alle töten. Oder uns zwingen, dass wir uns selbst töten. Ein Massenselbstmord. Er wird uns dazu zwingen, das weiß ich.«
Reacher starrte sie bloß an.
»Ich habe sie reden gehört«, sagte sie. »Sie flüstern die ganze Zeit miteinander und machen geheime Pläne. Sie haben gesagt, Frauen und Kinder würden sterben. Sie haben gesagt, das könne man rechtfertigen. Sie haben gesagt, das sei historisch und wichtig.«
»Das haben Sie gehört?«, fragte Reacher. »Wann?«
»Die ganze Zeit«, flüsterte sie. »Sie machen ständig Pläne. Borken und die, denen er vertraut. Frauen und Kinder müssen sterben, haben sie gesagt. Die werden uns dazu bringen, dass wir uns selbst töten. Massenselbstmord. Unsere Familien. Unsere Kinder. Im Bergwerksschacht. Ich denke, sie werden uns zwingen, in den Bergwerksschacht zu gehen und uns zu töten.«
Er bewegte sich weiterhin durch den Wald, bis er ein gutes Stück nördlich vom Exerzierplatz war. Dann bog er in östlicher Richtung ab, bis er die aus Yorke kommende Straße sah. Sie war mit Schlaglöchern übersät und schimmerte grau im Mondlicht. Er blieb im Schatten der Bäume und folgte der Straße nach Norden.
Die Straße wand sich in engen Haarnadelkurven eine Bergflanke hinauf. Nach einer Meile und etwa dreihundert Meter Höhenunterschied gab die letzte Kurve den Blick auf eine Bodensenke von der Größe eines verlassenen Stadions frei. Zum Teil handelte es sich um eine natürliche Formation, zum Teil hatte man mit Sprengungen nachgeholfen, so dass die Senke jetzt wie eine riesige Schüssel im Bauch der mächtigen Berggipfel dalag. Die hinteren Wände waren nackter Fels, in den man in regelmäßigen Abständen halbkreisförmige Löcher hinein gesprengt hatte. Sie sahen wie riesige Mauselöcher aus. Einige davon waren mit Felsbrocken, die bei den Sprengungen angefallen waren, ausgebaut worden, so dass sie geschützte Zugänge boten. Zwei der Eingänge waren zu gewaltigen Steinhallen ausgebaut und mit Brettern überdacht worden.
Der Boden der Senke war mit lockerem Schiefergestein aufgefüllt. Überall waren Erdhaufen, durch die sich Unkraut und Gestrüpp zwängte. Reacher konnte die verrosteten Überreste von Gleisen sehen, die irgendwo anfingen und ein paar Meter weit zu erkennen waren. Er kauerte sich im Schutz des Unterholzes neben einem Baum nieder.
Das ganze Gelände war verlassen und stumm. Es war diese völlige Abwesenheit jeglichen Geräuschs, wenn ein einmal belebter Ort verlassen wird. Die natürlichen Geräusche waren seit langer Zeit verschwunden. Die schwankenden Bäume gerodet, die Bäche umgeleitet, die raschelnde Vegetation weggebrannt, ersetzt durch klappernde Maschinen und schreiende Menschen. Wenn dann die Menschen und Maschinen abziehen, bleibt nichts zurück, das an die Stelle ihres Lärms tritt. Reacher lauschte angespannt, hörte aber nichts. Stumm wie der Mond.
Er blieb im Wald. Wenn er sich von Süden nähern wollte, bedeutete das, dass er sich bergauf bewegen musste. Er schlug einen Bogen nach Westen und gewann damit zusätzliche Höhe. Er hielt inne und blickte aus einer neuen Perspektive in die Senke hinunter.
Immer noch nichts. Aber da war etwas gewesen. Aktivität in letzter Zeit. Im Mondlicht waren im Schiefergestein Fahrzeugspuren zu erkennen. Eine Vielzahl von Fahrzeugspuren, die von einem der Steintore ausgingen oder zu ihm führten. Fahrzeugspuren, wie sie im Lauf von zwei oder drei Jahren entstanden sein mussten. Dann waren da auch neuere Spuren, die in das andere Tor führten. Das größere. Größere Spuren. Jemand hatte ein paar große Fahrzeuge dort hingebracht. In allerletzter Zeit.
Er trat aus dem Wald heraus und arbeitete sich zum Boden der Senke hinunter. Seine Schuhe erzeugten auf den kleinen flachen Steinen Geräusche, die in der Stille wie Gewehrschüsse klangen. Das Knirschen seiner Schritte hallte von den Felswänden zurück. Er kam sich winzig und allen sichtbar vor, wie ein Mann in einem Albtraum, der nackt quer über einen Fußballplatz geht. Er hatte das Gefühl, als wären die ihn umgebenden Berge eine gewaltige Ansammlung von Zuschauern auf den Tribünen, die alle stumm auf ihn hinabstarrten. Er schlich unter erheblicher Geräuschentwicklung zu den Toren des kleineren Schuppens. Aus der Nähe konnte man erkennen, dass es ein recht großer Bau war. Vermutlich errichtet, um riesige Maschinen und Pumpen aufzunehmen. Die Tore waren über dreieinhalb Meter hoch. Sie waren aus geschälten Baumstämmen gebaut, die mit eisernen Krampen zusammengehalten wurden. Sie wirkten wie die Wände eines Blockhauses, die mit Angeln an einer Bergwand hingen.
Schloss gab es keines. Es war auch schwer, sich hier ein Schloss vorzustellen. Kein Schloss, das Reacher je zu Gesicht bekommen hatte, hätte der Größe dieser Tore entsprochen. Er stemmte sich mit dem Rücken gegen den rechten Torflügel und drückte den linken Flügel einen Fuß breit auf. Das eiserne Scharnier bewegte sich leicht auf einer dicken Schicht Wagenschmiere. Er zwängte sich seitlich durch den Spalt und trat ein.
Drinnen war es stockfinster. Er konnte nichts sehen. Er blieb stehen und wartete, bis sich seine Augen an die Dunkelheit angepasst hatten. Aber es wollte sich keine Nachtsicht einstellen. Er trat weiter hinein, die Hände vor sich wie ein Blinder ausgestreckt.
Er fand ein Fahrzeug. Sein Schienbein traf die vordere Stoßstange, ehe seine Hände die Motorhaube berührten. Das Fahrzeug war hoch. Ein LKW oder ein Pick-up. Zivil. Glatter Hochglanzautolack. Nicht matter Militärlack. Er tastete mit den Fingern über den Rand der Motorhaube, die Seiten hinunter. Ein Pickup. Er tastete sich hinten herum und auf der anderen Seite wieder hinauf. Tastete nach der Fahrertür. Nicht abgesperrt. Er öffnete sie. Die Innenbeleuchtung flammte auf wie ein Scheinwerfer von einer Million Kerzenstärken. Bizarre Schatten tanzten überall herum. Er befand sich in einer gewaltigen Kaverne. Sie hatte keine hintere Wand, sondern öffnete sich in die Bergflanke hinein. Die Felsdecke senkte sich und wurde zu einem schmalen, aus dem Gestein herausgearbeiteten Gang, dessen Ende sich in der Dunkelheit verlor.
Er griff in die Fahrerkabine und schaltete die Scheinwerfer ein. Die Lichtbündel wurden von den Felsen zurückgeworfen. Jetzt konnte er ein Dutzend Fahrzeuge erkennen, die sorgfältig in Reihe parkten. Alte Pkws und Pick-ups. Jeeps aus Armeeüberbeständen mit primitiver Tarnbemalung. Und der weiße Ford Econoline mit den Löchern im Dach. Er sah nach seiner Reise von Chicago hierher traurig und verlassen aus. Irgendwie ausgemergelt und mit durchgedrückten Federn. Werkbänke und alte Werkzeuge hingen darüber. Kanister mit Farbe und Öl, Haufen von abgefahrenen Reifen und verrostete Flaschen mit Schweißgas.
Er durchsuchte die ihm am nächsten stehenden Fahrzeuge. In allen steckten die Schlüssel. Im Handschuhkasten des dritten Pkws, den er durchsuchte, fand er eine Taschenlampe. Er nahm sie an sich. Ging zu dem Pickup zurück und schaltete die Scheinwerfer ab. Ging zu den mächtigen Holztoren zurück und trat wieder hinaus in die Nacht.
Er wartete, lauschte. Nichts. Er zog die Torflügel zu und ging zu dem größeren Schuppen hinüber. Hundert Meter über die Schieferfläche. Der größere Schuppen hatte ähnliche Holztore. Eher noch größer als der Fahrzeugschuppen. Und sie waren abgesperrt. Ein so primitives Schloss wie dieses hier hatte er noch nie gesehen. Es war einfach ein alter, verbogener Baumstamm, den man über zwei Klammern gelegt und festgekettet hatte. Die Ketten waren mit zwei großen Vorhängeschlössern gesichert. Reacher ignorierte sie. Es erübrigte sich, an den Schlössern herumzufummeln. Er sah auf einen Blick, dass der alte Balken so krumm war, dass das schon ausreichte, um sich Zugang zu verschaffen.
Er zwängte die Türen am Boden auseinander. Die Krümmung des Balkens in den beiden Klammern ermöglichte einen Spalt von vielleicht dreißig Zentimetern. Er zwängte die Arme hinein, dann den Kopf und schließlich die Schultern. Schließlich hatte er es geschafft, sich ganz durchzuschieben. Drinnen richtete er sich auf und knipste die Taschenlampe an.
Er befand sich in einer weiteren riesigen Kaverne. Dieselbe Dunkelheit. Derselbe ausgeprägte feuchte Verwesungsgeruch. Dieselbe Stille, als würde jedes Geräusch tief in den Berg hineingesogen. Ein Lagerraum für Fahrzeuge. Nur dass diese Fahrzeuge alle identisch waren. Fünf Militär-Laster neuesten Typs. Mit weißer Schablonenschrift, die sie als Fahrzeuge der Army Air Artillery auswiesen. Keine neuen LKWs, aber gut in Schuss. Saubere Segeltuchplanen über den Ladebrücken.
Reacher ging ans hintere Ende des ersten LKWs. Stieg auf die Anhängerkupplung und sah über die Heckklappe. Leer. Die Ladebrücke war mit längs verlaufenden Holzbänken ausgestattet. Ein Mannschaftswagen. Reacher konnte die Meilen nicht zählen, die er auf solchen Bänken verbracht hatte, hin und her schwankend, auf den Boden starrend und darauf wartend, sein Ziel zu erreichen.
Der Boden war fleckig. Das passte nicht zu dem gepflegten Aussehen der Fahrzeuge. Schwarze Flecken. Irgendeine dicke Flüssigkeit, die zu Pfützen geronnen war. Reacher starrte sie an. Er sprang herunter und lief zu dem zweiten Fahrzeug. Stieg auf die Anhängerkupplung und beugte sich mit der Taschenlampe in der Hand über die Heckklappe.
Auf der Ladebrücke des zweiten Fahrzeugs gab es keine Bänke. An ihrer Stelle waren hier an beiden Seiten Regale angeschraubt. Präzise gebaute Regale, aus Winkeleisen zusammengeschweißt und mit Stahlklammern und dicken Gummipolstern ausgestattet, um ihre empfindliche Ladung festzuhalten. Das linke Regal enthielt fünf Raketenwerfer. Schlanke Stahlrohre, knapp zwei Meter lang, stumpf schwarzes Metall mit einem mit Elektronik gefüllten schwarzen Kasten, einem offenen Visier und einem Griff am vorderen Ende. Fünf insgesamt.
Das Regal auf der rechten Seite enthielt fünfundzwanzig Stingerraketen. Dicht nebeneinander in ihren Gummipuffern, die Leitflächen zurückgeklappt, bereit zum Laden. Stumpfes Metall mit in Schablonenschrift aufgetragenen Seriennummern und greller orangeroter Farbe um den Treibstoffteil.
Er rannte zu den drei anderen LKWs. Überall dasselbe. Fünf Werfer, fünfundzwanzig Geschosse. Insgesamt also zwanzig Werfer und einhundert Geschosse. Der gesamt Bedarf einer mobilen Einheit der Air Artillery. Einer Einheit, die aus zwanzig Mann bestand. Er ging zu dem ersten LKW zurück und starrte noch einmal auf die Blutspuren auf dem Boden. Dann hörte er die Ratten. Zuerst dachte er, es wären Schritte draußen, auf dem Schiefer. Er knipste die Taschenlampe aus. Dann wurde ihm bewusst, dass die Geräusche viel näher waren, hinter ihm. Ratten, die im hinteren Teil der Kaverne herumhuschten. Er knipste die Taschenlampe wieder an und ging tiefer in die Höhle hinein und fand die zwanzig Männer.
Ihre Leichen waren zu einem Stapel aufgehäuft, unmittelbar vor dem Punkt, wo die Decke zu niedrig wurde, als dass dort ein Mann noch hätte stehen können. Zwanzig tote Soldaten. Man hatte sie alle von hinten niedergeschossen. Das konnte Reacher erkennen. Sie waren irgendwo als Gruppe beieinander gestanden und waren mit schwerem Maschinengewehrfeuer von hinten niedergemäht worden. Er beugte sich mit einem Grunzlaut vor und drehte zwei von ihnen um. Nicht die härtesten Burschen, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Reservisten, die man auf einem einsamen Stützpunkt in freundlichem Territorium eingesetzt hatte. Überfallen und ermordet, um sich in den Besitz ihrer Waffen zu setzen.
Aber wie? Er wusste es. Eine alte Boden-Luft-Einheit, kurz vor dem Punkt, wo man sie als veraltet ersetzen musste, im hohen Norden von Montana stationiert. Ein Überbleibsel der Paranoia des Kalten Krieges. Sicherlich für die Abmusterung vorgesehen. Vermutlich bereits in Abmusterung begriffen. Vermutlich nach Peterson in Colorado unterwegs. Die letzten Anweisungen wahrscheinlich im Klartext über Funk durchgegeben. Er erinnerte sich an den Funkscanner in der Kommunikationshütte. Sah, wie der Mann, der ihn bedient hatte, geduldig an den Skalen gedreht hatte. Er stellte sich vor, wie der Rückrufbefehl zufällig aufgefangen wurde, wie der Mann zu Borken rannte, wie Borkens aufgedunsenes Gesicht sich zu einem Lächeln erhellte. Dann hastiges Planen und ein brutaler Überfall, irgendwo in den Bergen. Zwanzig Männer niedergeschossen, in ihren eigenen LKW geworfen und in der Kaverne aufgehäuft. Er stand da und starrte auf den entsetzlichen Anblick, der sich ihm bot. Dann knipste er die Taschenlampe wieder aus.
Weil er das Geräusch richtig gedeutet hatte. Es waren Schritte auf dem Schieferboden draußen. Er hörte sie jetzt wieder. Sie kamen näher, geradewegs auf die Felskaverne zu. Und auf dem Schiefergestein konnte man unmöglich feststellen, wie viele Leute es waren. Er hörte, wie sie vor den mächtigen Toren stehen blieben. Hörte das Klirren von Schlüsseln. Hörte das Klappern der Vorhängeschlösser. Die Ketten wurden heruntergezogen und der Balken abgehoben. Die Tore öffneten sich. Er ließ sich auf den Boden fallen. Lag mit dem Gesicht nach unten da und presste sich an den Stapel kalter Leichen.
Vier Füße. Zwei Stimmen. Stimmen, die er gut kannte. Fowler und Borken. Sie redeten leise und bewegten sich selbstsicher. Reacher ließ sich gegen den Leichenstapel sacken. Eine Ratte lief über seine Hand.
»Hat er gesagt, wann?«, fragte Fowler.
Seine Stimme hallte plötzlich laut von den Felsen wider.
»Gleich morgen früh«, sagte Borken. »Wann schickt die Telefongesellschaft ihre Leute los? Gegen acht? Vielleicht halb acht?«
»Seien wir lieber vorsichtig«, sagte Fowler. »Sagen wir, halb acht. Die werden als Erstes die Leitung abschneiden.«
Sie hatten Taschenlampen. Die Lichtbündel bewegten sich flackernd, während sie gingen.
»Kein Problem«, sagte Borken. »Sieben Uhr hier ist neun Uhr an der Ostküste. Perfektes Timing. Wir machen es um sieben. Zuerst Washington, dann New York, dann Atlanta. Bis zehn nach sieben sollte alles erledigt sein. Zehn Minuten, die die Welt erschüttern, wie? Dann haben wir noch zwanzig Minuten übrig.«
Sie blieben bei dem zweiten LKW stehen. Zogen die Schließbolzen der Heckklappe auf. Sie kam mit einem lauten metallischen Krachen herunter.
»Und was dann?«, fragte Fowler.
»Dann werden wir abwarten«, erwiderte Borken. »Im Augenblick haben die bloß acht Marines hier oben. Die wissen nicht, was sie tun sollen. Sie wissen im Wald nicht Bescheid. Das Weiße Haus zögert, wie wir das erwartet hatten. Geben wir ihnen zwölf Stunden für eine Entscheidung, dann können sie frühestens morgen abend, ehe es dunkel wird, etwas unternehmen. Und bis dahin wird dieser Ort hier ganz weit unten auf ihrer Prioritätenliste stehen.«
Sie beugten sich über die Ladebrücke des LKWs. Die dicke Segeltuchplane dämpfte ihre Stimmen.
»Braucht er das Geschoss auch?«, fragte Fowler.
»Bloß den Werfer«, antwortete Borken. »Es geht um das Elektronikteil.«
Reacher lag zwischen den herumhuschenden Ratten und hörte, wie die Klappverschlüsse geöffnet wurden. Dann das Quietschen von Gummi, als ein Werfer aus seiner Verankerung gezogen wurde. Dann das Klappern der Schließbolzen, als die Ladeklappe wieder geschlossen wurde. Die Schritte entfernten sich. Die Lichtkegel der Taschenlampen wanderten zu den Toren zurück.
Die Scharniere ächzten und die schweren Holztore schlossen sich dröhnend. Reacher hörte, wie der Werfer vorsichtig auf das Schiefergestein gelegt wurde und das Ächzen der beiden Männer, die den alten Balken wieder auf die Klammern legten. Das Klappern der Kette und das Klicken der Schlösser. Schritte, die sich über das Schiefergestein entfernten.
Er wälzte sich von den Leichen weg und schlug nach einer Ratte. Erwischte sie mit einem zornigen Handkantenschlag, sodass sie quietschend in die Dunkelheit flog. Er setzte sich auf und wartete. Ging langsam zum Tor. Lauschte angespannt. Wartete sechs Minuten. Schob die Hände in den Spalt unten am Tor und zog die beiden Flügel auseinander.
Sie ließen sich höchstens ein paar Zentimeter bewegen. Er legte beide Handflächen auf das glatte Holz, spannte seine Schultermuskeln und drückte. Sie blieben unbewegt. So, als würde man versuchen, mit bloßen Händen einen Baum zu Boden zu drücken. Er versuchte es eine Minute lang. Strengte sich an wie ein Gewichtheber. Die Tore klemmten. Und dann wurde ihm plötzlich der Grund dafür klar. Sie hatten den verzogenen alten Balken andersherum in die Klammern gelegt. So, dass die Krümmung auf ihn zeigte und nicht von ihm weg. Hatten die Tore diesmal wirksam geschlossen, anstatt Luft zu lassen wie beim letzten Mal.
Er versuchte sich ein Bild von dem Balken zu machen, so wie er ihn gesehen hatte. Mehr als dreißig Zentimeter dick, verbogen, aber ausgetrocknet, hart wie Eisen. Wenn die Biegung von ihm abgewandt war, kein Problem. Aber wenn die Krümmung nach innen zeigte, unbeweglich. Er sah zu den Militär-Lkws hinüber. Ließ den Gedanken wieder fallen. Da war nicht genügend Platz, um die Tore mit Schwung zu treffen. Der LKW würde mit dem ganzen Drehmoment eines schweren Dieselmotors dagegen drücken, aber das würde nicht ausreichen. Er konnte sich nicht vorstellen, wie viel Kraft es brauchen würde, um diesen alten Balken zu sprengen.
Er erwog, ein Raketengeschoss einzusetzen. Ließ den Gedanken wieder fallen. Zu laut, und außerdem würde es nicht funktionieren. Die wurden erst scharf, wenn sie in der Luft waren. Und sie trugen nur drei Kilo Sprengstoff. Ausreichend, um einen Düsenmotor im Flug außer Gefecht zu setzen, aber drei Kilo Sprengstoff gegen diese alten Balken wäre genauso, als wollte man sie mit einer Nagelfeile durchsägen. Er steckte in der Falle. Und Holly wartete.
In Panik zu geraten entsprach nicht seinem Wesen. Er war ein ruhiger, bedächtiger Mann, und die lange Ausbildung, die er erfahren hatte, hatte ihn eher noch ruhiger gemacht. Er hatte gelernt, eine Situation einzuschätzen und seine Schlüsse daraus zu ziehen, und dann seine ganze Willenskraft einzusetzen, um sich durchzusetzen. Du bist Jack Reacher, hatte man ihm gesagt. Du kannst alles. Zuerst hatte seine Mutter ihm das gesagt, dann sein Vater und dann die ruhigen Männer in den Ausbildungsschulen. Und er hatte ihnen geglaubt.
Und zugleich hatte er ihnen auch nicht geglaubt. Ein Teil seines Bewusstseins sagte ihm immer: Du hast bloß Glück gehabt. Hast immer Glück gehabt. Und in nachdenklichen Zeiten hatte er dann dagesessen und darauf gewartet, dass sein Glück ein Ende nahm. Er saß auf dem Steinboden, den Rücken an die Türbalken gelehnt, und fragte sich: Ist es jetzt zu Ende?
Er ließ den Lichtkegel der Taschenlampe durch die Kaverne wandern. Die Ratten hielten sich fern. Sie interessierten sich für die Dunkelheit hinten. Sie verlassen mich, dachte er. Verlassen das sinkende Schiff. Dann schaltete sich sein Verstand wieder ein. Nein, sie interessieren sich für die Tunnels, dachte er. Weil Tunnels irgendwo hinführen. Er erinnerte sich an die riesigen Mauselöcher, die man in die Felswand gesprengt hatte, an der Nordwand der Senke. Vielleicht sind sie durch diese schmalen Spalten dort hinten alle miteinander verbunden.
Er ging in die Tiefe der Kaverne hinein, vorbei an den LKWs, vorbei an den Leichen, bis er eine Stelle erreichte, wo er nicht mehr stehen konnte. Eine Ratte verschwand in der Spalte zu seiner Linken. Er legte sich auf den Bauch und knipste die Taschenlampe an. Kroch hinter der Ratte her. Er stieß auf ein Skelett. Sah sich von Angesicht zu Angesicht einem grinsenden Schädel gegenüber. Und dann einem weiteren. Da waren vier oder fünf Skelette, die man in diese Spalte gezwängt hatte. Aufgehäufte Knochen. Er stöhnte entsetzt auf und zog sich ein Stück zurück. Sah sich sorgfältig um. Orientierte sich mit Hilfe seiner Taschenlampe.
Alles Männer. Die Beckenknochen verrieten ihm das. Die Schädel zeigten Schusswunden. Alle an den Schläfen. Saubere Einschusslöcher, saubere Ausschusslöcher. Stahlmantelgeschosse aus einer Pistole. Noch nicht sehr alt, nicht älter als ein Jahr. Das Fleisch war nicht abgefallen oder verwest. Es war abgefressen worden. Er konnte die parallelen Kratzspuren an den Knochen sehen. Spuren von Nagetierzähnen.
Die Gebeine waren alle durcheinandergebracht. Die Ratten hatten sie zum Fressen weggeschleppt. Hie und da waren ein paar Kleiderfetzen zu sehen. Einige der Brustkästen waren noch bedeckt. Ratten fressen sich einfach durch. Zuerst die Weichteile. Sie gehen die Rippen von hinten an.
Der Kleiderstoff war khakifarben und olivgrün. Teilweise auch schwarzer und grauer Tarnstoff. Reacher sah einen farbigen Faden. Verfolgte ihn zu einer Schulterklappe, die sich unter einem abgenagten Schulterblatt versteckte. Es handelte sich um ein rundes Filzabzeichen, das mit Seide bestickt war. Auf dem Abzeichen stand: Northwestern Freemen. Er zerrte an dem Jackett des Skeletts. Der Brustkasten brach in sich zusammen. Auf der Brusttasche konnte man drei verchromte Sterne sehen.
Reacher fing jetzt gründlich zu suchen an, auf dem Bauch liegend und bis zu den Achselhöhlen in Knochen steckend. Er stückelte fünf unterschiedliche Uniformen zusammen und fand zwei weitere Abzeichen. Auf einem stand: White Christian Identity, auf dem anderen Montana Constitutional Militia. Er reihte die fünf zersplitterten Schädel nebeneinander auf. Überprüfte die Zähne. Was er da vor sich liegen hatte, waren die Überreste von fünf Männern in mittleren Jahren, vielleicht zwischen vierzig und fünfzig. Die Führer, die verschwunden waren. Die Führer, die das Tempo nicht hatten mithalten können. Die Führer, die die Mitglieder ihrer Milizen verlassen, sie Beau Borken übergeben hatten.
Die Decke der Höhle war zu niedrig, als dass Reacher über die Gebeine hätte hinwegklettern können. Er musste sie zur Seite schieben und durch sie hindurchkriechen. Die Ratten zeigten kein Interesse. Diese Knochen waren sauber genagt. Ihre nächste Mahlzeit lag in der Kaverne. Und dorthin schwärmten sie zurück. Er hielt die Taschenlampe vor sich und arbeitete sich tiefer in den Berg hinein, gegen die quietschende Flut aus Nagern.
Er verlor sein Richtungsgefühl. Er hoffte zwar, dass er sich in westlicher Richtung bewegte, konnte das aber nicht mit Sicherheit sagen. Die Decke der Höhle war jetzt nur noch einen halben Meter über dem Boden. Er kroch durch eine alte geologische Spalte, aus der man vor langer Zeit Erz abgebaut hatte. Es wurde noch enger. Jetzt war der Gang noch vierzig Zentimeter hoch. Es war kalt. Die Spalte wurde noch enger. Er hatte die Arme vor sich ausgestreckt, und die Spalte war jetzt zu eng, als dass er sich hätte zurückziehen können. Er kroch durch ein dünnes Rohr im Fels, über sich eine Milliarde Tonnen Berg und nicht die leiseste Ahnung, wo der Weg hinführte. Und die Taschenlampe fing an, den Geist aufzugeben. Die Batterie war verbraucht. Das Licht verblasste zu einem orangefarbenen Leuchten.
Sein Atem ging angestrengt. Er zitterte. Nicht aus Erschöpfung. Aus Angst. Aus Entsetzen. Das war nicht das, was er erwartet hatte. Er hatte sich ausgemalt, dass er durch eine geräumige, verlassene Galerie schlendern würde. Nicht durch diesen engen Spalt im Felsgestein. Er schob sich mit dem Kopf voraus in den schlimmsten Albtraum seiner Kindheit. Er war jemand, der das meiste, was man sich vorstellen konnte, überlebt hatte, und jemand, der nur selten Angst hatte. Aber er hatte seit seiner frühesten Kindheit gewusst, dass er eine panische Angst davor hatte, im Dunkeln in einem Raum eingeschlossen zu sein, der zu eng war, als dass er sich darin mit seinem hünenhaften Körper umdrehen konnte. All die Albträume seiner Kindheit hatten davon gehandelt, dass er in einem feuchten, engen Raum eingeschlossen war. Er lag auf dem Bauch und presste die Augen zu. Lag da und keuchte und würgte. Zwang die Luft durch die Kehle hinein, die sich schließen wollte. Und dann schob er sich langsam, Millimeter für Millimeter nach vorn.
Nach weiteren hundert Metern verlosch das schwache Licht der Taschenlampe schließlich ganz. Die Finsternis war jetzt total. Und der Felsspalt wurde noch enger. Er drückte jetzt seine Schultern nach unten. Er zwang sich in einen Raum hinein, der viel zu eng für ihn war. Sein Gesicht wurde zur Seite gedrückt. Er kämpfte darum, ruhig zu bleiben. Er erinnerte sich, was er zu Borken gesagt hatte: Die Menschen waren damals kleiner. Drahtige kleine Burschen, die nach Westen wanderten und in den Eingeweiden des Berges ihr Glück suchten. Leute, halb so groß wie Reacher, die sich vielleicht auf dem Rücken in den Berg hineinschoben und auf die funkelnden Erzadern über ihnen einhämmerten.
Er benutzte die erloschene Taschenlampe so wie ein Blinder seinen weißen Stock. Sie schlug einen halben Meter vor seinem Gesicht gegen massives Gestein. Er hörte das Klirren von Glas, das das Rasseln seines Atems übertönte. Er arbeitete sich weiter, tastete mit den Händen. Eine massive Wand. Der Tunnel ging nicht weiter. Er versuchte, sich nach rückwärts zu bewegen. Aber es ging nicht. Um sich mit den Händen rückwärts zu schieben, musste er die Brust anheben, um eine Hebelwirkung zu bekommen. Aber die Decke war zu niedrig, um das zu ermöglichen. Seine Schultern waren dagegengepresst. Er bekam keine Hebelwirkung. Seine Füße konnten ihn nach vorn schieben, aber ihn nicht rückwärts ziehen. Er erstarrte in Panik. Seine Kehle verkrampfte sich. Sein Kopf traf die Decke, und seine Wange spürte den rauen Boden. Er kämpfte gegen einen Schrei an, indem er schneller atmete.
Er musste zurück. Er krallte seine Fußspitzen in den rauen Untergrund. Drehte die Hände nach innen und presste die Daumen gegen den Boden. Zog mit den Fußspitzen und schob mit den Daumen. Er bewegte sich ein winziges Stück nach hinten, und dann presste das Felsgestein hart gegen seine Flanken. Um sein Gewicht rückwärts zu schieben, spannten sich seine Schultermuskeln und pressten dabei gegen das Felsgestein. Er atmete aus und ließ seine Arme schlaff werden. Zog mit den Fußspitzen. Doch sie scharrten wirkungslos am Boden. Er half mit den Daumen nach. Seine Schultermuskeln spannten sich und pressten sich erneut gegen die Felsdecke. Er bewegte seine Hüften ruckweise hin und her. Er hatte ein paar Zentimeter Bewegungsspielraum. Er presste die Hände in den Schieferboden und drückte nach rückwärts. Sein ganzer Körper verspannte sich wie ein Keil in einer Tür. Er kippte ein wenig zur Seite ab und schlug mit der Wange gegen die Decke. Zuckte zurück und scharrte mit der anderen Wange über den Boden. Das Felsgestein quetschte seine Rippen zusammen. Diesmal gelang es ihm nicht, den Schrei zu unterdrücken. Er musste ihn hinauslassen. Er machte den Mund auf und stieß einen schreckerfüllten Klagelaut aus. Die Luft in seinen Lungen presste seine Brust gegen den Boden und seinen Rücken gegen die Decke.
Er konnte nicht sagen, ob seine Augen offen oder geschlossen waren. Er stieß sich mit den Füßen nach vorn und bewegte sich ein Stück vorwärts. Er streckte die Arme aus, tastete die Wand ab. Seine Schultern waren so fest eingezwängt, dass er die Hände kaum bewegen konnte. Er spreizte die Finger, tastete nach links und rechts, oben und unten. Massiver Fels vor ihm. So kam er einfach nicht weiter. Aber rückwärts ging es ebenfalls nicht.
Er würde eingeschlossen in dem Berg sterben. Er wusste es. Die Ratten wussten es. Sie schnüffelten jetzt dicht hinter ihm. Kamen näher. Er spürte sie an seinen Füßen. Er trat zu und jagte sie weg. Aber sie kamen zurück. Er spürte ihr Gewicht auf seinen Beinen. Sie schwärmten über ihn, wühlten sich bis zu seinen Schultern durch, glitten unter seine Achselhöhlen. Er spürte kalten, öligen Pelz an seinem Gesicht, als sie sich an ihm vorbeizwängten. Den Schlag ihrer Schwänze, als sie nach vorn rannten.
Wohin? Er ließ sie über seinen Arm laufen, um abzuschätzen, in welche Richtung sie rannten. Sie bewegten sich vor ihm in der Dunkelheit. Er tastete mit den Händen. Fühlte, wie sie nach links strömten. Die Luft bewegte sich dabei. Die Luft war kühl. Er spürte eine schwache Brise, spürte sie im Schweiß an seiner linken Gesichtsseite. Er presste sich mit aller Gewalt gegen die Wand an seiner rechten Hand und bewegte den linken Arm zur Seite, tastete nach vorn. Tastete nach der linken Wand. Sie war nicht da. Er steckte in einer Gabelung fest. Eine neue Spalte führte im rechten Winkel von der weg, in der er sich befand. Er arbeitete sich zurück, so weit seine Daumen ihn schieben konnten. Er schabte sich das Gesicht an der Wand auf und presste seine Flanke gegen den Felsen. Mit den Armen voraus schob er sich um die Ecke und zerrte die Beine hinter sich her.
Der neue Spalt war nicht viel besser. Er war nicht weiter. Die Decke nicht höher. Die Ratten zwängten sich an ihm vorbei. Das Felsgestein riss an seinen Seiten und seinem Rücken. Aber immer noch wehte ihm eine leichte Brise ins Gesicht. Der Tunnel führte irgendwohin. Er keuchte und stöhnte. Er kroch weiter. Dann weitete sich die neue Spalte, war aber immer noch sehr niedrig. Eine flache, niedrige Spalte im Felsgestein. Er kroch erschöpft weiter. Fünfzig Meter. Hundert. Dann spürte er, wie die Decke über ihm aufstieg. Er stieß sich weiter, und plötzlich merkte er, wie die Luft sich veränderte, und er lag halb in der Fahrzeugkaverne. Er stellte fest, dass seine Augen weit offen standen und dass der weiße Econoline unmittelbar vor ihm in der Dunkelheit stand.
Er wälzte sich auf den Rücken und lag keuchend auf dem Boden. Zitternd und keuchend. Richtete sich taumelnd auf und sah sich um. Der Spalt war unsichtbar. Im Schatten verborgen. Er schaffte es bis zu dem weißen Lieferwagen und brach dann neben ihm zusammen. Das Leuchtzifferblatt seiner Uhr zeigte ihm, dass er beinahe drei Stunden in den Tunnels gewesen war. Die meiste Zeit eingeklemmt und in panischer Angst schwitzend. Ein dreistündiger Albtraum. Seine Hose und seine Jacke waren zerfetzt. Jeder Muskel in seinem Körper brannte wie Feuer. Sein Gesicht, seine Hände, seine Ellbogen und Knie bluteten. Aber das alles war nur seiner Angst zuzuschreiben. Der Angst, nicht durchzukommen. Er spürte immer noch die Felsen, die gegen seinen Rücken pressten, gegen seinen Rücken und seine Brust. Er spürte den Druck immer noch an seinen Rippen. Schließlich richtete er sich auf und hinkte zum Tor. Schob es auf und stand im Mondlicht, die Arme ausgestreckt, die Augen vom Wahnsinn erfüllt, den Mund offen, atmete die süße Nachluft in mächtigen Zügen in sich ein.
Er hatte die Senke zur Hälfte durchquert, bis er schließlich wieder anfing, klar zu denken, dann machte er kehrt und rannte in die Fahrzeughöhle zurück. Fand das, was er wollte. Fand es an der Schleppvorrichtung des Jeeps. Ein dickes Kabel, um einen Anhänger daran anzuschließen. Er riss es heraus und streifte die Isolierung mit den Zähnen ab. Lief zurück ins Mondlicht.
Er hielt sich den ganzen Weg zurück nach Yorke dicht bei der Straße. Zwei Meilen, zwanzig Minuten, im langsamen, qualvollen Trab zwischen den Bäumen. Er schlug einen Bogen hinter dem halb zerfallenen nordöstlichen Block und näherte sich dem Gerichtsgebäude von hinten. Umkreiste es lautlos im Halbdunkel. Wartete und lauschte.
Er versuchte wie Borken zu denken. Selbstgefällig. Zufrieden mit seinem Verteidigungsring. Ständige Information von seinem Maulwurf beim FBI. Reacher in die Strafhütte eingeschlossen, Holly in ihren Raum eingeschlossen. Würde er einen Posten aufstellen? Nicht heute Nacht. Nicht, wenn er morgen und an den Tagen darauf mit Kämpfen rechnete. Er würde wollen, dass seine Leute frisch und ausgeruht waren. Reacher nickte und setzte darauf, dass er Recht hatte.
Er erreichte die Treppe des Gerichtsgebäudes. Verlassen. Er versuchte die Tür zu öffnen. Versperrt. Er lächelte. Niemand stellt einen Posten hinter eine versperrte Tür. Er bog den Draht zu einem Haken und tastete nach dem Mechanismus. Ein altes zweihebeliges Schloss. Acht Sekunden. Er trat ein. Wartete und lauschte. Nichts. Er ging die Treppe hinauf.
Das Schloss an Hollys Tür war neu. Aber billig. Er arbeitete leise, und das hielt ihn auf. Er brauchte mehr als dreißig Sekunden, bis die letzte Zuhaltung klickend wegklappte. Dann zog er die Tür langsam auf und stieg auf den erhöhten Boden. Warf einen vorsichtigen Blick auf die Wände. Sie lag auf einer Matratze auf dem Boden. Angezogen und bereit. Sie war wach, beobachtete ihn. Riesige Augen, die im Halbdunkel leuchteten. Er bedeutete ihr mit einer Handbewegung, ihm nach draußen zu folgen. Drehte sich um und stieg hinunter und wartete im Korridor auf sie. Sie hob ihre Krücke auf und hinkte zur Tür. Stieg vorsichtig die Treppe hinunter und stand dann neben ihm.
»Hallo, Reacher«, flüsterte sie. »Wie geht’s dir?«
»Hab mich schon besser gefühlt«, erwiderte er im Flüsterton.
Sie drehte sich um und sah in ihr Zimmer zurück. Er folgte ihrem Blick und bemerkte den dunklen Flecken auf dem Boden.
»Die Frau, die mir das Essen gebracht hat«, flüsterte sie.
Er nickte.
Sie warf einen letzten Blick in den Raum und schloss dann leise die Tür. Folgte ihm durch die Dunkelheit und dann langsam die Treppe hinunter. Durch den Vorraum und durch die Doppeltüren hinaus ins lautlose helle Mondlicht.
»Du großer Gott«, sagte. »Was ist denn dir passiert?«
Er blickte an sich herab und musterte sich. Er war von Kopf bis Fuß grau vom Staub und Lehm. Seine Kleidung war zerfetzt. Er war mit Schweiß und Blut verschmiert. Immer noch zittrig.
»Eine lange Geschichte«, sagte er. »Hast du jemanden in Chicago, dem du vertrauen kannst?«
»McGrath«, antwortete sie, ohne nachzudenken. »Er ist mein Agent-in-Charge. Warum?«
Sie überquerten die breite Straße Arm in Arm, sahen nach links und rechts. Schlugen einen Bogen um den Hügel vor dem zerfallenem Bürogebäude. Fanden den Weg, der nach Nordwesten führte.
»Du musst ihm ein Fax schicken«, sagte er. »Sie haben Raketen. Du musst ihn warnen. Noch heute Nacht, weil die Leitung hier gleich morgen früh gekappt wird.«
»Hat der Maulwurf ihnen das gesagt?«, fragte sie.
Er nickte.
»Wie?«, fragte sie. »Wie steht er mit ihnen in Verbindung?«
»Kurzwellenfunk«, sagte Reacher. »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, weil man alles andere anpeilen kann.«
Er schwankte und lehnte sich an einen Baum. Berichtete ihr, was er in Erfahrung gebracht hatte, alles, von Anfang bis Ende.
»Scheiße«, sagte sie. »Boden-Luft-Raketen? Massenselbstmord? Ein Albtraum.«
»Nicht unser Albtraum«, sagte er. »Wir sind hier raus.«
»Wir sollten hier bleiben und ihnen helfen«, sagte sie. »Den Familien.«
Er schüttelte den Kopf.
»Die beste Hilfe für sie ist, wenn wir hier rauskommen«, sagte er. »Vielleicht ändert das ihre Pläne, wenn sie dich verlieren. Und wir können berichten, wie es hier drinnen aussieht.«
»Ich weiß nicht«, sagte sie.
»Ich schon«, sagte er. »Die erste Regel ist, dass man sich an seine Prioritäten hält. Und das bist du. Wir sind hier raus.«
Sie zuckte die Schultern und nickte.
»Jetzt?«, fragte sie.
»Jetzt gleich.«
»Wie?«
»Mit dem Jeep durch den Wald«, sagte er. »Ich habe ihren Fuhrpark gefunden. Wir gehen hin, stehlen einen Jeep, und bis dahin sollte es hell genug sein, dass wir uns zurechtfinden. Ich habe in Borkens Büro eine Landkarte gesehen. Es gibt eine Menge Wege, die nach Osten durch den Wald führen.«
Sie nickte und er stieß sich von dem Baum ab. Sie hasteten den gewundenen Weg zu der Bastion hinauf. Eine Meile im Dunkeln. Die Lichtung war dunkel und still. Sie arbeiteten sich um die Kantine herum zum hinteren Bereich der Kommunikationshütte. Sie kamen zwischen den Bäumen hervor, und Reacher trat an die Hütte und presste sein Ohr gegen die Sperrholzwand. Von drinnen war kein Laut zu hören.
Er setzte wieder seinen Draht ein, und sie waren binnen zehn Sekunden drinnen. Holly fand Papier und Kugelschreiber. Schrieb ihre Mitteilung. Wählte die Faxnummer in Chicago und schob das Blatt in das Gerät. Es summte gehorsam und zog das Papier durch. Ließ es auf ihre ausgestreckte Hand fallen. Sie drückte den Knopf für die Sendebestätigung. Wollte keine Spur hinterlassen. Ein weiteres Blatt schob sich heraus. Es zeigte die Zielnummer korrekt. Bestätigte den Sendezeitpunkt auf zehn Minuten vor fünf, Freitagmorgen, vierter Juli. Sie zerriss beide Blätter in winzige Fetzen und vergrub sie unten im Papierkorb.
Reacher wühlte auf der langen Arbeitsplatte herum und fand eine Büroklammer. Folgte Holly hinaus ins Mondlicht und sperrte die Tür wieder ab. Suchte und fand das Kabel, das von der Kurzwellenantenne in die Hütte hineinführte. Nahm die Büroklammer und bog sie so lange hin und her, bis sie zerbrach. Stieß das abgebrochene Ende wie eine Nadel durch das Kabel. Das Metall würde die Antenne kurzschließen, indem es eine Verbindung zwischen dem Draht und der Folienabschirmung herstellte. Das Signal würde aus dem Äther herunterkommen, durch den Draht in die Folie versickern und in die Erde fahren, ohne jemals die Kurzwelleneinheit selbst zu erreichen. Die beste Methode, um ein Funkgerät außer Funktion zu setzen. Wenn man es nur zerschlägt, kann man es auch wieder reparieren. Auf diese Weise ist der Fehler nicht feststellbar, bis schließlich ein erschöpfter Techniker auf die Idee kommt, nachzusehen.
»Wir brauchen Waffen«, flüsterte Holly ihm zu.
Er nickte. Sie krochen zusammen zur Tür der Waffenkammer. Er warf einen Blick auf das Schloss, gab seine Absicht auf. Ein gewaltiges Ding. Nicht zu knacken.
»Ich werde dem Kerl, der mich bewacht hat, die Glock wegnehmen«, flüsterte er.
Sie nickte. Sie tauchten wieder zwischen den Bäumen unter und gingen zur nächsten Lichtung. Reacher überlegte sich eine Geschichte, um Joseph Ray sein Auftauchen zu erklären. Er würde ihm vielleicht sagen müssen, dass man ihn zur UNO gebeamt hatte. Ihm erklären, dass man beim Hochgeschwindigkeitsbeamen, wenn man Pech hat, ziemlich zugerichtet werden kann. Sie krochen hinter die Strafhütte und lauschten. Alles ruhig. Sie kamen um die Ecke herum, und Reacher zog an der Tür. Und sah sich plötzlich einer Neun-Millimeter gegenüber. Diesmal war es keine Glock. Es war eine Sig-Sauer. Und sie gehörte nicht Joseph Ray. Beau Borken hielt sie in der Hand. Er stand vor der Tür, Little Stevie neben sich, und grinste.