20

Brogan war derjenige, der in Chicago den Durchbruch schaffte. An jenem Morgen war er der Dritte, der an dem Eimer mit weißer Farbe dort draußen auf dem verlassenen Industriegelände vorbeikam, aber der Erste, dem seine Bedeutung bewusst wurde.

»Der Lieferwagen, den sie gestohlen haben, war weiß«, sagte Brogan. »Mit irgendeiner Firmenschrift an den Seitenwänden. Die haben sie übermalt. So muss es gewesen sein. Der Eimer stand genau hier, mit einem Pinsel, vielleicht zehn Fuß von dem Lexus entfernt. Ist doch eigentlich logisch, dass sie den Lexus unmittelbar neben dem Lieferwagen geparkt haben, oder? Und deshalb stand der Farbkübel dicht neben der Stelle, wo der Lieferwagen gestanden hat.«

»Was für Farbe?«, wollte McGrath wissen.

»Ganz gewöhnliche Haushaltsfarbe«, sagte Brogan. »Ein Vierlitereimer. Dicker Pinsel. Das Preisschild hängt noch daran, aus einem Haushaltswarengeschäft. Und in den Farbschmierern am Stiel sind Fingerabdrücke.«

McGrath nickte und lächelte.

»Okay«, sagte er. »Dann mal los.«

 

Brogan nahm die Fahndungsfotos aus dem Computer mit in den Heimwerkerladen, dessen Name auf dem Preisschild am Stiel des Pinsels gestanden hatte. Es war ein überfüllter Laden im Familienbesitz, vielleicht zweihundert Meter von dem verlassenen Industriegelände entfernt. Hinter der Theke stand eine korpulente ältere Frau, der man ansehen konnte, dass ihr nicht so leicht etwas vorzumachen war. Sie identifizierte das Foto des Mannes, den die Videokamera am Steuer des Lexus festgehalten hatte, sofort. Sie sagte, die Farbe und der Pinsel seien von ihm am Montagvormittag gegen zehn Uhr gekauft worden. Zum Beweis dafür zog sie eine klappernde alte Schublade auf und holte die Kassenrolle vom Montag heraus. Sieben achtundneunzig für die Farbe, fünf achtundneunzig für den Pinsel, plus Steuer, klar und deutlich auf der Kassenrolle zu sehen.

»Er hat bar bezahlt«, sagte sie.

»Haben Sie hier ein Videosystem?«, fragte sie Brogan.

»Nein«, erklärte sie.

»Verlangt das Ihre Versicherungsgesellschaft nicht von Ihnen?« wollte er wissen.

Die korpulente ältere Frau lächelte bloß.

»Wir sind nicht versichert«, sagte sie.

Dann griff sie unter die Theke und brachte eine Schrotflinte zum Vorschein.

»Jedenfalls nicht bei einer Versicherungsgesellschaft«, fügte sie hinzu.

Brogan sah die Waffe an. Er war ziemlich sicher, dass der Lauf für eine gesetzlich erlaubte Waffe viel zu kurz war. Aber über so etwas wollte er sich im Augenblick keine Gedanken machen. Jedenfalls nicht jetzt.

»Okay«, sagte er. »Schönen Tag noch.«

 

Bei mehr als sieben Millionen Menschen im Großraum Chicago und etwa zehn Millionen zugelassener Fahrzeuge war in dem Zeitraum von vierundzwanzig Stunden zwischen Sonntag und Montag nur ein einziger weißer Lieferwagen als gestohlen gemeldet worden. Ein weißer Ford Econoline. Eigentum eines Elektrikers an der South Side, der den Wagen auch selbst fuhr. Seine Versicherungsgesellschaft verlangte von ihm, dass er den Lieferwagen abends immer ausräumte und seine Ware und seine Werkzeuge in seiner Werkstätte unterbrachte. Im Wagen gelassene Gegenstände waren nicht versichert. Das war die Regel. Eine lästige Regel, aber als der Mann am Montagmorgen herauskam, um einzuladen, und entdeckte, dass der Lieferwagen verschwunden war, hatte er zum ersten Mal den Eindruck, als ob das doch eine recht vernünftige Regel wäre. Er hatte den Diebstahl der Versicherung und der Polizei gemeldet und rechnete nicht damit, viel darüber zu hören. Und deshalb war er gebührend beeindruckt, als achtundvierzig Stunden später zwei FBI-Agenten auftauchten und ihm alle möglichen Fragen stellten.

 

»Okay«, sagte McGrath. »Wir wissen jetzt, wonach wir suchen. Ein weißer Econoline mit neuem Lack an den Seitenwänden. Und die Zulassungsnummern haben wir auch. Jetzt müssen wir wissen, wo wir nachsehen sollten. Hat jemand eine Idee?«

»Es sind jetzt bald achtundvierzig Stunden«, meinte Brogan. »Gehen wir von einer Durchschnittsgeschwindigkeit von fünfundfünfzig Meilen aus? Dann hätten wir eine maximale Distanz von etwas mehr als zweitausendsechshundert Meilen. Das ist praktisch überall auf dem nordamerikanischen Kontinent.«

»Zu pessimistisch«, sagte Milosevic. »Die haben nachts wahrscheinlich Station gemacht. Sagen wir, sechs Stunden Fahrzeit am Montag, vielleicht zehn am Dienstag, heute vielleicht bis jetzt vier, also insgesamt zwanzig Stunden, das ergäbe eine maximale Distanz von elfhundert Meilen.«

»Die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen«, meinte Brogan.

McGrath zuckte die Schultern.

»Dann müssen wir eben den Heuhaufen finden«, sagte er. »Und anschließend fangen wir an, die Nadel zu suchen. Sagen wir fünfzehnhundert maximal. Wie sieht das aus?«

Brogan zog einen Straßenatlas aus dem Stapel von Nachschlagewerken auf dem Tisch. Er klappte ihn ganz vorne auf, bei einer Seite, auf der das ganze Land abgebildet wurde, sämtliche Staaten in einem farbenfrohen Mosaik. Während er einen Blick auf die Maßstabsangabe warf zog er mit dem Fingernagel einen Kreis.

»Das ist überall, mit Ausnahme von Kalifornien«, sagte er. »Eine Hälfte des Staates Washington, eine Hälfte von Oregon, nichts von Kalifornien und praktisch alles überall sonst. Zig Millionen Quadratmeilen.«

Bedrücktes Schweigen stellte sich ein.

»Zwischen hier und dem Staat Washington gibt es Berge, oder?«, sagte McGrath. »Wir wollen also davon ausgehen, dass sie noch nicht im Staat Washington sind. Oder Oregon. Oder Kalifornien. Oder Alaska oder Hawaii. Damit haben wir die Wahl schon beträchtlich eingeschränkt. Jetzt sind es nur mehr fünfundvierzig Staaten, stimmt’s? Machen wir uns an die Arbeit.«

»Die könnten nach Kanada gefahren seien«, sagte Brogan. »Oder nach Mexiko, oder ein Schiff oder ein Flugzeug genommen haben.«

Milosevic zuckte die Schultern und nahm ihm den Atlas weg.

»Sie sind zu pessimistisch«, sagte er wieder.

»Eine Nadel in einem verdammten Heuhaufen«, murmelte Brogan.

 

Drei Stockwerke über ihnen nahmen sich die Fingerabdruckexperten des FBI den Pinsel vor, den Brogan ihnen gebracht hatte. Er war nur einmal benutzt worden, und zwar von jemandem, der sich recht ungeschickt damit angestellt hatte. Die Farbe war in die Borsten verklebt und in die dünne Stahlzwinge geronnen, mit der die Borsten an dem Holzgriff befestigt waren. Der Mann hatte beim Arbeiten den Daumen auf der Zwinge und Zeige- und Mittelfinger auf der Vorderseite des Pinsels gehabt. Das deutete auf einen mittelgroßen Mann, der sich gestreckt und eine Fläche etwa in Kopfhöhe, vielleicht auch ein wenig höher, bemalt hatte, wobei der Pinselstiel nach unten wies. Ein Ford Econoline war knapp zwei Meter fünf hoch. Eine Firmenaufschrift würde etwa bis in eine Höhe von einem Meter achtzig vom Boden reichen. Der Computer war nicht imstande, die Größe des Mannes zu errechnen, weil die Kamera ihn nur in dem Lexus sitzend festgehalten hatte, aber so wie der Pinsel eingesetzt worden war, musste er einen Meter siebzig, vielleicht auch einen Meter zweiundsiebzig groß gewesen sein und sich beimMalen gestreckt und ein wenig über Augenhöhe gearbeitet haben. Er hatte kräftig zugedrückt und auch seitlich viel Kraft aufgewendet, was erwarten ließ, dass seine Arbeit ziemlich amateurhaft ausgefallen war.

Nasse Farbe ist ein gutes Medium, um Fingerabdrücke festzuhalten, und die Techniker wussten, dass sie keine großen Schwierigkeiten haben würden. Trotzdem setzten sie, der Vollständigkeit halber, jede Prüfprozedur ein, die ihnen zur Verfügung stand, angefangen mit Fluoroskopie bis zum traditionellen grauen Puder. Am Ende verfügten sie über dreieinhalb gute Abdrücke, darunter ganz deutliche vom Daumen und den beiden ersten Fingern der rechten Hand und sozusagen als Zugabe eine seitliche Hälfte des kleinen Fingers. Sie bereiteten die Bilder im Computer auf und sandten sie dann über die Digitalleitung ins Hoover Building in Washington. Ein beigefügter Code forderte den dortigen Datenspeicher auf, mit maximaler Geschwindigkeit zu suchen.

 

In den Labors in Quantico wurden die Jäger in zwei Rudel aufgeteilt. Der ausgebrannte Pickup war völlig zerlegt worden, und die Hälfte des Personals untersuchte die winzigen physischen Spuren an jenem ganz speziellen Fahrzeug. Die andere Hälfte hatte sich die Herstellerunterlagen vorgenommen und fahndete nach dem schwachen Echo, das von dem Wagenwrack im Hinblick auf dessen Bau und seine Verkaufsgeschichte ausging.

Es handelte sich um einen zehn Jahre alten Dodge, der in Detroit hergestellt worden war. Die Fahrgestellnummer und die in den Motorblock eingestanzte Nummer waren beide original. Nach diesen Nummern konnte der Hersteller angeben, an wen das Fahrzeug ursprünglich verschickt worden war. Der Pick-up war an einem Tag im April aus dem Fabriktor gerollt, auf einen Eisenbahnwaggon geladen und nach Kalifornien versandt worden. Dort hatte man ihn zu einem Händler in Mojave gebracht. Der Händler hatte die Rechnung im Mai bezahlt, und damit endete das Wissen des Herstellers über das Fahrzeug.

Der Händler in Mojave hatte zwei Jahre später Pleite gemacht. Neue Besitzer hatten den Fabrikvertrag übernommen und ihr Computer enthielt die aktuellen Aufzeichnungen. Alles Material aus der Zeit vor dem Besitzerwechsel war ausgelagert worden. Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ein kleiner Autohändler am Rande der Wüste einen Anruf von der FBI-Academy in Quantico bekommt, und deshalb versprach man, der Sache sofort nachzugehen. Der Verkaufsleiter selbst sagte zu, die Unterlagen zu beschaffen und so schnell wie möglich zurückzurufen.

Das Fahrzeug selbst war praktisch völlig ausgebrannt. Alle brennbaren Hinweise waren verschwunden. Keine Nummernschilder. Im Fahrzeuginneren nichts von Belang. Keine Brücken- oder Mautmünzen. Sämtliche Windschutzscheibenaufkleber dahin. Nicht war übriggeblieben – außer dem Schlamm. Die Fahrzeugtechniker hatten die beiden hinteren Radkästen aufgeschnitten, das ganze Blech über den Antriebsrädern, und die Teile in die Materialanalyseabteilung gebracht. Jedes Fahrzeug schreibt seine eigene Geschichte mit den Schlammschichten, die es in den Radkästen ansammelt. FBI-Geologen schälten jetzt die einzelnen Schichten ab und sahen sich an, wo der Pickup gewesen und woher er gekommen war.

Der Schlamm war von den brennenden Reifen hart gebrannt worden, und einige der eingelagerten Mineralien hatten sich zu einer glasigen Masse verbunden. Aber die Schichten waren eindeutig. Die äußeren Schichten waren dünn. Die Geologen folgerten daraus, dass sie sich während einer langen Fahrt quer durch das Land dort abgelagert hatten. Dann gab es gemischte Steinpartikel aus einigen Jahren. Diese ganz spezielle Mischung war hochinteressant. Es handelte sich um eine so vielfältige Kombination einzelner Sandarten, dass es keine Mühe bereiten sollte, ihren genauen Ursprung zu identifizieren. Unter jener Mischung lag eine dicke Schicht Wüstenstaub, die die Grundlage bildete. Die Geologen waren sich sofort darüber einig, dass der Lieferwagen sein Leben im Bereich der Mojave-Wüste begonnen hatte.

 

Jede einzelne Polizeidienststelle in fünfundvierzig Staaten war mit der Beschreibung und dem Kennzeichen des gestohlenen weißen Econoline ausgestattet worden. Jeder einzelne diensthabende Beamte in der ganzen Nation hatte Anweisung, danach Ausschau zu halten, den Wagen zu finden – geparkt oder unterwegs, verbrannt oder versteckt, oder einfach stehen gelassen. An jenem Mittwoch war der weiße Econoline auf kurze Zeit das meistgesuchte Fahrzeug auf dem ganzen Planeten.

McGrath saß am Kopfende des Konferenztisches in dem Besprechungsraum und rauchte, wartete. In dem Raum herrschte Stille. McGrath war nicht optimistisch. Wenn der Lieferwagen geparkt und versteckt war, würde er höchstwahrscheinlich nie gefunden werden. Diese Aufgabe war einfach zu gewaltig. Jede geschlossene Garage, jedes Gebäude und jede Scheune konnte ihm für alle Ewigkeit als Versteck dienen. War er noch irgendwo auf der Straße unterwegs, waren die Chancen besser. Und genau das war im Augenblick die große Frage, die ihn mehr als alles andere beschäftigte: Hatten die Entführer nach achtundvierzig Stunden ihr Ziel erreicht oder waren sie noch unterwegs?

 

Zwei Stunden, nachdem sie mit der Suche begonnen hatten, lieferte die Fingerabdruckdatenbank einen Namen: Peter Wayne Bell. Die Übereinstimmung war perfekt – rechte Hand, Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Der Computer bewertete die Übereinstimmung des teilweise vorhandenen Abdrucks des kleinen Fingers als sehr wahrscheinlich.

»Einunddreißig Jahre alt«, sagte Brogan. »Aus Mojave, Kalifornien. Zweimal wegen Sexualvergehen verurteilt. Vor drei Jahren wegen Vergewaltigung in zwei Fällen angeklagt, aber nicht verurteilt. Die Opfer waren drei Monate im Krankenhaus. Dieser Bell hatte ein Alibi von drei Freunden. Die Opfer konnten ihn nicht eindeutig identifizieren; sie waren von ihm so zugerichtet worden, dass ihr Urteilsvermögen darunter gelitten hatte.«

»Sympathischer Bursche«, sagte McGrath.

Milosevic nickte.

»Und dieser Kerl hat Holly in seiner Gewalt«, sagte er. »Im Laderaum seines Lieferwagens.«

McGrath äußerte sich dazu nicht. Dann klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab. Hörte einen kurzen Satz, den jemand ins Telefon bellte. Er saß da, und Brogan und Milosevic sahen, wie sein Gesicht plötzlich zu strahlen begann, so als hätte er soeben erlebt, wie seine sämtlichen Teams am selben Tag alle Meisterschaften gewannen: Baseball, Football, Basketball und Hockey, alle am selben Tag, an dem auch sein Sohn in Harvard sein Examen summa cum laude besteht und seine Aktien ihren Wert verdoppeln.

»Arizona!«, schrie er. »Sie sind in Arizona in nördlicher Richtung auf der US60 unterwegs.«

 

Ein lang gedienter Beamter in einem Streifenwagen der Arizona State Police hatte einen weißen Lieferwagen entdeckt, der die scharfen Kurven auf der US60 geschnitten hatte, mehrmals, siebzig Meilen östlich von Phoenix, in der Nähe des Städtchens Globe. Er war näher herangefahren und hatte sich das Nummernschild angesehen. Dabei hatte er die blaue Fordpflaume und den Econoline-Schriftzug an der Hinterseite erkennen können. Er hatte den Sprechknopf seines Mikrophons gedrückt und Meldung gemacht. Und dann war die Welt um ihn herum plötzlich verrückt geworden. Man hatte ihn angewiesen, bei dem Lieferwagen zu bleiben, ganz gleich, was geschah. Man teilte ihm mit, dass Helikopter aus Phoenix und Flagstaff und sogar aus Albuquerque drüben in New Mexico kommen würden. Jeder verfügbare Streifenwagen wäre angewiesen, sich ihm anzuschließen. Und vor ihm würde die Nationalgarde eine Straßensperre einrichten. Innerhalb von zwanzig Minuten, so erklärte man ihm, haben Sie mehr Verstärkung, als Sie sich je erträumt haben. Und bis dahin, so sagte man ihm, sind Sie der wichtigste Gesetzeshüter in ganz Amerika.

 

Der Verkaufsleiter des Dodge-Händlers in Mojave, Kalifornien, rief innerhalb einer Stunde in Quantico zurück. Er war im Lager gewesen und hatte die zehn Jahre alten Verkaufsunterlagen der vorangegangenen Eigentümer ausgegraben. Der fragliche Pick-up war einem Orangen-Farmer in Kendall, fünfzig Meilen südlich von Mojave, verkauft worden, im Mai jenes Jahres war das gewesen. Die ersten vier Jahre war der Käufer regelmäßig zum Kundendienst und zum Abgastest aufgetaucht, anschließend hatte man ihn nie wieder zu Gesicht bekommen. Er hatte den Wagen auf vier Jahre Abzahlung gekauft und hieß Dutch Borken.

 

Eine halbe Stunde später befand sich der gestohlene weiße Econoline-Lieferwagen achtundzwanzig Meilen weiter nördlich auf der US60 in Arizona und bildete die Spitze eines langen, tropfenförmigen Konvois von fünfzig Fahrzeugen, die sich an seine Spur geheftet hatten. Über ihm ratterten fünf Helikopter. Vor ihm, zehn Meilen nördlich, war der Highway abgesperrt, und weitere vierzig Fahrzeuge waren in pfeilförmiger Formation auf der Straße abgestellt. Die ganze Operation wurde von dem Agent-in-Charge aus dem Phoenixer Büro des FBI koordiniert. Der Mann saß in dem Helikopter an der Spitze und starrte durch die klare Wüstenluft auf das Dach des Lieferwagens hinab. Er trug ein Headset mit Kehlkopfmikrophon und redete ständig.

»Okay, Leute«, sagte er. »Packen wir’s an, jetzt sofort. Go, go, go!«

Sein Hubschrauber stieg in die Höhe, machte Platz, und zwei andere stießen hinunter. Sie hingen unmittelbar vor dem Lieferwagen in der Luft, ganz weit unten, auf jeder Seite einer, und hielten mit ihm Schritt. Die Polizeifahrzeuge dahinter schwärmten über die ganze Breite des Highway aus und schalteten alle gleichzeitig ihre Blinker und ihre Sirenen ein. Ein dritter Hubschrauber stieß hinunter und flog rückwärts dicht vor dem Lieferwagen, zweieinhalb Meter über der Straße, mit blitzenden Scheinwerfern und wild schlagenden Rotoren. Der Kopilot gab Handzeichen, die Hände ausgestreckt, die Handflächen erhoben, als wolle er persönlich den Lieferwagen anhalten. Dann verstummten die Sirenen alle, und das riesige Megaphon an der Vorderseite des Helikopters erwachte zum Leben. Die Stimme des Kopiloten dröhnte, in geradezu grotesker Weise verstärkt und trotz des hämmernden Schlagens der Rotoren deutlich hörbar.

»Hier spricht das FBI!«, hallte seine Stimme. »Sie werden angewiesen, sofort anzuhalten! Ich wiederhole, Sie sind angewiesen, Ihr Fahrzeug sofort zum Stillstand zu bringen!«

Der Lieferwagen fuhr weiter. Der Helikopter unmittelbar davor ließ sich ein Stück seitwärts abtreiben und kehrte dann zurück. Noch näher vor der Windschutzscheibe des Lieferwagens flog er rückwärts, keine drei Meter entfernt.

»Sie sind umstellt!«, schrie der Pilot durch das Megaphon. »Hinter Ihnen sind hundert Polizeibeamte. Die Straße vor Ihnen ist abgesperrt. Sie haben keine andere Wahl. Werden Sie langsamer und halten Sie dann an. Und zwar sofort!«

Wieder ließen die Streifenwagen ihre Sirenen aufheulen, und zwei von ihnen gingen längsseits. Der Lieferwagen war völlig eingeschlossen. Er rollte noch einen Augenblick weiter und wurde dann langsamer. Hinter ihm bremste der Konvoi der Verfolger und schwenkte zur Seite. Die Helikopter stiegen ein Stück höher, hielten aber Schritt. Der Lieferwagen bremste weiter ab. Streifenwagen gingen längsseits, zwei nebeneinander, Tür an Tür, Stoßstange an Stoßstange. Der Lieferwagen rollte aus. Die Helikopter über ihm behielten ihre Positionen bei. Die Streifenwagen davor bogen ab und kamen ruckartig zum Stillstand, nur wenige Zentimeter von der Motorhaube des Lieferwagens entfernt. Ringsum sprangen Polizeibeamte aus ihren Fahrzeugen. Der Highway wimmelte von Beamten. Trotz des Lärms, den die Rotoren der Hubschrauber machten, konnte man deutlich das Knacken von Schrotflinten und das Klicken von hundert Revolvern hören, die gespannt wurden.

 

Die Schrotflinten und Revolver hörte McGrath in Chicago nicht, wohl aber die laute Stimme des Agent-in-Charge aus Phoenix über dessen Funkgerät. Was er in sein Kehlkopfmikrophon in seinem Helikopter rief, wurde nach Washington weitergeleitet und hallte jetzt knisternd aus einem Lautsprecher auf dem langen Konferenztisch. Der Mann redete ohne Unterlass, sichtlich erregt sprudelte er einen Strom von Anweisungen an sein Team und zugleich einen Kommentar zu dem Geschehen unter sich auf der Straße heraus. McGrath saß mit nasskalten Händen da und starrte den lärmenden Lautsprecher an, gerade als würde sich dieser, wenn er ihn nur lange genug fixierte, in eine Kristallkugel verwandeln und ihm zeigen, was dort draußen in Arizona geschah.

»Er hält an, er hält«, sagte der Mann im Helikopter. »Jetzt ist er zum Stillstand gekommen, er hat auf der Straße angehalten, er ist umringt. Nicht schießen, auf meinen Befehl warten … Die kommen nicht raus – die Türen aufmachen, macht die verdammten Türen auf und zerrt sie heraus! Okay, wir haben zwei Männer vorn, zwei Männer, ein Fahrer, ein Passagier, sie kommen jetzt raus, sie sind draußen, sichert sie, setzt sie in einen Wagen, nehmt ihnen die Schlüssel ab, schließt hinten auf, aber vorsichtig, da sind noch zwei bei ihr drinnen. Okay, wir gehen jetzt nach hinten, wir gehen zur Hinterseite, die Türen dort sind abgesperrt, wir versuchen, sie mit dem Schlüssel aufzubekommen. Wissen Sie was? An der Seitenwand des Lieferwagens ist noch Schrift zu erkennen. Die Schrift ist immer noch da. Da steht Bright Spark Electrics. Ich dachte, das sollte überstrichen sein, oder nicht? Übermalt oder so was?«

In Chicago legte sich plötzlich tödliche Stille über den Konferenzraum im zweiten Stock. McGrath wurde weiß. Milosevic sah ihn an. Brogan starrte ausdruckslos zum Fenster hinaus.

»Und warum fährt er nach Norden?«, fragte McGrath. »Zurück in Richtung Chicago?«

Das Knistern im Lautsprecher war immer noch zu vernehmen. Jetzt wandten sich ihm alle zu. Spitzten die Ohren. Sie konnten das Dröhnen der Rotorblätter hinter der erregten Stimme hören.

»Die hinteren Türen sind offen«, sagte die Stimme. »Die Türen sind offen, sie sind offen, wir gehen jetzt hinein, Leute kommen raus, jetzt kommen sie … was zum Teufel soll das? Da sind ja Dutzende von Leuten drin. Vielleicht zwanzig sind das. Jetzt kommen sie alle raus. Sie kommen immer noch raus. Da sind zwanzig oder dreißig Leute drin! Was zum Teufel geht hier vor?«

Der Mann verstummte. Offenbar hörte er auf einen Funkbericht, der ihm durchgegeben wurde. McGrath und Brogan und Milosevic starrten den Lautsprecher an, aus dem nur Zischen zu hören war. Er blieb eine ganze Weile stumm. Nichts kam mehr durch, nur der laute Atem des FBI-Mannes und das Hämmern der Rotorblätter und Störgeräusche. Dann meldete sich die Stimme wieder.

»Scheiße«, sagte sie, »Scheiße. Washington, sind Sie da? Hören Sie das? Wissen Sie, was wir gerade gemacht haben? Wissen Sie, auf was wir angesetzt wurden? Wir haben eine Ladung illegaler Einwanderer geschnappt. Etwa dreißig Illegale aus Mexiko. Man hat sie gerade an der Grenze abgeholt. Sie sind nach Chicago unterwegs. Und sagen, man hätte ihnen allen dort droben Jobs versprochen.«