40

McGrath riss das Funkgerät aus der Tasche. Klappte es auf und starrte es an. Es knisterte laut in seiner Hand. Webster trat vor und nahm es ihm weg. Zog sich dann wieder hinter den Felsvorsprung zurück und drückte den Knopf.

»Jackson?«, sagte er. »Hier spricht Harland Webster.«

McGrath und Johnson drängten sich neben ihn. Die drei Männer kauerten an der Felswand. Webster hielt das Gerät ein Stück von seinem Ohr weg, damit die anderen auch zuhören konnten. Im Schutz des Felsens und in der Stille der Berge konnten sie es knistern und zischen hören und dazu den schnellen Atem einer Person am anderen Ende. Dann hörten sie eine Stimme.

»Harland Webster?«, sagte die Stimme. »Oh, oh, der große Boß persönlich.«

»Jackson?«, sagte Webster noch einmal.

»Nein«, widersprach die Stimme. »Das ist nicht Jackson.«

Webster sah McGrath an.

»Wer ist es dann?«, fragte er.

»Beau Borken«, sagte die Stimme. »Und von heute an heißt das wohl Präsident Borken. Präsident der Free States of America. Aber Sie dürfen ganz formlos mit mir sprechen.«

»Wo ist Jackson?«, fragte Webster.

Schweigen. Nur das schwache elektronische Rauschen der FBI-Fernmeldetechnik war zu hören. Satelliten und Mikrowellen.

»Wo ist Jackson?«, fragte Webster noch einmal.

»Er ist gestorben«, sagte die Stimme.

Webster sah wieder zu McGrath hinüber.

»Wie?«, fragte er.

»Einfach gestorben«, sagte Borken. »Eigentlich relativ schnell.«

»War er krank?«, fragte Webster.

Wieder eine Pause. Dann war Gelächter zu hören. Es klang hoch und blechern. Ein lautes, kreischendes Lachen, das Websters Hörer überlastete und verzerrt von der Felswand widerhallte.

»Nein, er war nicht krank, Webster«, sagte Borken. »Er war ziemlich gesund, bis auf die letzten zehn Minuten.«

»Was haben Sie mit ihm gemacht?«, wollte Webster wissen.

»Dasselbe, was ich mit dem kleinen Mädchen des Generals machen werde«, sagte Borken. »Hören Sie gut zu, dann sage ich Ihnen die genauen Einzelheiten. Sie müssen gut aufpassen, weil Sie ja schließlich wissen müssen, womit Sie es hier zu tun haben. Wir meinen es hier sehr ernst. Sehr ernst, verstehen Sie? Hören Sie zu?«

Johnson drängte sich näher. Er war weiß und schwitzte.

»Ihr verrückten Mistkerle«, schrie er.

»Wer war das?«, fragte Borken. »Ist das der General selbst?«

»General Johnson«, sagte Webster.

Man konnte ihn über das Funkgerät schmunzeln hören. Ein kurzes, zufriedenes, glucksendes Geräusch.

»Vollversammlung«, sagte Borken. »Der Direktor des FBI und der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs. Wir sind wirklich geschmeichelt, glauben Sie mir. Aber ich denke, die Geburt einer neuen Nation verdient nicht weniger.«

»Was wollen Sie?«, fragte Webster.

»Wir haben ihn gekreuzigt«, sagte Borken. »Wir haben zwei Bäume gefunden, die einen Meter voneinander entfernt waren, und an die haben wir ihn genagelt. Und das werden wir mit Ihrer Tochter machen, General, wenn Sie nicht spuren. Und dann haben wir ihm die Eier abgeschnitten. Er hat geschrien und uns angefleht, dass wir das nicht tun sollen, aber wir haben es trotzdem getan. Mit Ihrer Kleinen können wir das nicht machen, wo sie doch eine Frau ist und so, aber uns wird schon irgendetwas Entsprechendes einfallen, Sie verstehen doch, was ich meine? Glauben Sie, dass sie auch schreien und uns anflehen wird, General? Sie kennen sie besser als ich. Ich persönlich möchte wetten, dass sie das wird. Sie gefällt sich in der Vorstellung, dass sie ein harter Brocken ist, aber wenn sie dann das Messer näher kommen sieht, wird das ganz schnell anders klingen, da bin ich ziemlich sicher.«

Johnson wurde noch weißer. Sein Gesicht schien jetzt völlig blutleer. Er trat einen Schritt zurück und ließ sich schwer auf den Felsen sinken. Sein Mund arbeitete, aber es kam kein Ton heraus.

»Was zum Teufel wollt ihr Mistkerle?«, brüllte Webster.

Wieder herrschte Stille. Dann war die Stimme wieder zu hören, ruhig und fest.

»Ich möchte, dass Sie zu brüllen aufhören«, sagte sie. »Ich möchte, dass Sie sich dafür entschuldigen, dass Sie mich angebrüllt haben. Ich möchte, dass Sie sich dafür entschuldigen, dass Sie mich Mistkerl genannt haben. Ich bin der Präsident der Free States und habe Anspruch auf ein gewisses Maß an Höflichkeit und Respekt, finden Sie nicht?«

Er sprach leise, aber McGrath konnte seine Stimme deutlich hören. Er sah entsetzt zu Webster hinüber. Sie waren im Begriff, hier den Kürzeren zu ziehen, ehe sie richtig angefangen hatten. Die erste Regel hieß: verhandeln. Dafür sorgen, dass die Gegenseite redete, und dann musste man allmählich die Oberhand gewinnen. Dominanz herstellen. Klassische Belagerungstheorie. Aber wenn man damit anfing, dass man sich dafür entschuldigte, dass man den anderen angebrüllt hatte, dann sagte man damit jeder Hoffnung ade, die Dominanz zu gewinnen. Das ist gerade, als würde man sich hinlegen und alle Viere von sich strecken. Von dem Punkt an spielten die mit einem. McGrath schüttelte heftig den Kopf. Webster nickte. Sagte nichts. Hielt das Funkgerät in der Hand, ohne etwas zu sagen. Er befand sich nicht das erste Mal in dieser Situation. Er hatte so etwas schon mehrmals erlebt. Er kannte die Protokollregeln für diese Dinge. Der Erste, der jetzt etwas sagte, war der Schwächere. Und das würde nicht er sein. Er und McGrath blickten zu Boden und warteten.

»Sind Sie noch da?«, fragte Borken.

Webster fuhr fort, auf den Boden zu starren. Nichts zu sagen.

»Sind Sie da?«, fragte Borken erneut.

»Was wollen Sie denn, Beau?«, fragte Webster ruhig.

Man konnte die zornigen Atemzüge des anderen über das Funkgerät hören.

»Sie haben mir die Telefonleitung gekappt«, sagte Borken. »Ich möchte, dass die wiederhergestellt wird.«

»Nein, das haben wir nicht«, sagte Webster. »Funktioniert Ihr Telefon nicht?«

»Meine Faxe«, sagte Borken. »Ich habe keine Antwort bekommen.«

»Was für Faxe?«, fragte Webster.

»Hören Sie auf mit dem Scheiß«, sagte Borken. »Ich weiß, dass Sie die Leitung gekappt haben. Ich möchte, dass sie repariert wird.«

Webster zwinkerte McGrath zu.

»Okay«, sagte er. »Das können wir machen. Aber vorher müssen Sie etwas für uns tun.«

»Was?«, fragte Borken.

»Holly«, sagte Webster. »Bringen Sie sie zur Brücke herunter.«

Wieder Schweigen. Dann fing das Gelächter wieder an. Hoch und laut.

»Ausgeschlossen«, sagte Borken. »Es gibt keinen Handel.«

Webster nickte. Sprach bewusst noch leiser. Klang jetzt wie der vernünftigste Mensch, den man sich auf der ganzen Welt vorstellen konnte.

»Hören Sie, Mr. Borken«, sagte er. »Wenn wir keinen Handel miteinander machen können, wie können wir uns da gegenseitig helfen?«

Wieder Schweigen. McGrath starrte Webster an. Die nächste Antwort war entscheidend. Entscheidend dafür, ob sie gewinnen oder verlieren würden.

»Jetzt hören Sie mir gut zu, Webster«, sagte die Stimme. »Es gibt keinen Handel. Wenn Sie nicht genau das tun, was ich sage, stirbt Holly. Unter großen Schmerzen. Ich habe sämtliche Karten in der Hand und ich mache keinen Handel. Verstehen Sie das?«

Websters Schultern sackten herunter. McGrath wandte den Blick ab.

»Stellen Sie die Faxleitung wieder her«, sagte die Stimme. »Ich brauche Verbindung nach draußen. Die Welt muss wissen, was wir hier tun. Dies ist ein großer Augenblick in der Geschichte, Webster. Den lasse ich mir durch Ihre albernen Spielchen nicht nehmen. Die Welt muss Zeuge sein, wie die ersten Schläge gegen Ihre Tyrannei geführt werden.«

Webster starrte auf den Boden.

»Diese Entscheidung ist für Sie allein zu groß«, sagte Borken. »Sie müssen sich mit dem Weißen Haus beraten. Dort interessiert das doch auch, finden Sie nicht?«

Selbst über das armselige kleine Funkgerät war die Kraft, die von Borkens Stimme ausging, nicht zu überhören. Webster zuckte zusammen, als ob ein schweres Gewicht auf seinem Ohr lasten würde. Zuckte zusammen und keuchte, während sein Herz und seine Lunge miteinander um Platz in seiner Brust kämpften.

»Treffen Sie Ihre Entscheidung«, sagte Borken. »Ich rufe in zwei Minuten zurück.«

Dann verstummte das Funkgerät. Webster starrte es an, als ob er noch nie ein solches Gerät gesehen hätte. McGrath beugte sich zu ihm hinüber und knipste es aus.

»Okay«, sagte er. »Wir müssen jetzt auf Zeit spielen, stimmt’s? Sagen Sie ihm, dass wir die Leitung reparieren. Sagen Sie ihm, dass das eine Stunde dauern wird, vielleicht zwei. Und sagen Sie ihm, dass wir mit dem Weißen Haus in Verbindung stehen, der UNO, CNN, wem auch immer. Sagen Sie ihm alles, was er hören will.«

»Warum tut er das?«, fragte Webster mit glasigem Blick. »Diese Eskalation? Er zwingt uns ja, ihn anzugreifen. Also müssen wir das auch tun, oder? Gerade als ob er das wollte. Er lässt uns keine Wahl. Er provoziert uns.«

»Er tut das, weil er verrückt ist«, sagte McGrath.

»Ja, das muss er sein.« Webster nickte. »Ein Irrer. Anders kann ich einfach nicht begreifen, warum er so auf sich aufmerksam macht. Denn es ist ja wirklich so, wie er sagt, er hat ja schon alle Karten in der Hand.«

»Darüber zerbrechen wir uns später den Kopf, Chief«, sagte McGrath. »Im Augenblick kommt es bloß darauf an, ihn hinzuhalten.«

Webster nickte. Zwang sich dazu, sich wieder ganz auf das augenblickliche Problem zu konzentrieren.

»Aber wir brauchen mehr Zeit als bloß zwei Stunden«, sagte er. »Die Geiselrettungseinheit braucht mindestens vier, um hierher zu kommen. Vielleicht sogar fünf oder sechs.«

»Okay, heute ist der vierte Juli«, sagte McGrath. »Sagen Sie ihm, die Telefonmechaniker hätten alle frei. Sagen Sie ihm, dass es einen ganzen Tag dauern könnte, um sie zurückzuholen.«

Sie starrten einander an. Sahen zu Johnson hinüber. Der hatte sich völlig abgemeldet. Saß einfach in sich zusammengesunken an die Felsplatte gelehnt, weiß und reglos, und atmete kaum. Neunzig Stunden Todesqualen und Emotionen hatten ihn schließlich zerbrochen. Dann war wieder ein Knistern aus dem Funkgerät in Websters Hand zu hören.

»Nun?«, fragte Borken, als die Störgeräusche verstummt waren.

»Okay, wir sind einverstanden«, sagte Webster. »Wir werden die Leitung reparieren. Aber das wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Die Telefonmechaniker haben frei, wegen des Feiertags.«

Schweigen am anderen Ende. Dann ein Kichern.

»Unabhängigkeitstag«, sagte Borken. »Vielleicht hätte ich mir ein anderes Datum auswählen sollen.«

Webster gab keine Antwort.

»Ich möchte Ihre Marines an einer Stelle haben, wo ich sie sehen kann«, sagte Borken.

»Welche Marines?«, fragte Webster.

Wieder ein kurzes Lachen. Kurz und selbstgefällig.

»Sie haben acht Marines«, erklärte Borken. »Und ein gepanzertes Fahrzeug. Wir haben überall Späher. Wir haben Sie beobachtet. So wie Sie uns mit diesen verdammten Flugzeugen beobachten. Sie können von Glück reden, dass Stingers nicht bis in diese Höhe treffen, sonst hätten Sie inzwischen schon mehr als einen verdammten Helikopter hier im Wald liegen.«

Webster gab keine Antwort. Suchte bloß den Horizont ab. McGrath tat es ihm automatisch gleich, suchte nach einem Sonnenstrahl, der sich in einem Feldstecher spiegelte.

»Ich nehme an, Sie befinden sich im Augenblick in der Nähe der Brücke«, sagte Borken. »Habe ich recht?«

Webster zuckte die Schultern. McGrath nickte ihm zu.

»Wir sind in der Nähe der Brücke«, sagte Webster.

»Ich möchte die Marines auf der Brücke haben«, forderte Borken. »Hübsch in einer Reihe, auf dem Rand sitzend. Ihr Fahrzeug dahinter. Ich möchte, dass das jetzt sofort passiert, verstanden? Oder wir machen uns über Holly her. Es ist ganz Ihre Wahl, Webster. Oder vielleicht die Wahl des Generals. Seine Tochter und seine Marines, oder?«

Johnson zuckte zusammen und blickte auf. Fünf Minuten später saßen die Marines auf der Bruchkante der Straße und ließen die Füße über den Abgrund baumeln. Ihr LAV parkte dicht hinter ihnen. Webster kauerte immer noch hinter dem Felsvorsprung, mit McGrath und Johnson neben sich. Hielt das Funkgerät immer noch ans Ohr gepresst. Er konnte gedämpfte Geräusche hören. So als ob Borken die Hand über das Mikrophon hielte und ein Walkie-Talkie benutzte. Er konnte abwechselnd seine gedämpfte Stimme und von Störgeräuschen überlagerte Antworten hören. Dann hörte er, wie die Hand weggenommen wurde, und die Stimme war wieder laut und deutlich im Hörer zu vernehmen.

»Okay, Webster, saubere Arbeit«, lobte Borken. »Unsere Späher können sie alle acht sehen. Unsere Scharfschützen auch. Wenn sie sich bewegen, sterben sie. Wen haben Sie sonst noch bei sich?«

Webster zögerte. McGrath schüttelte eindringlich den Kopf.

»Können Sie das nicht sehen?«, fragte Webster. »Ich dachte, Sie beobachten uns.«

»Im Augenblick nicht«, sagte Borken. »Ich habe meine Leute ein Stück zurückgezogen. Auf unsere Verteidigungspositionen.«

»Sonst ist hier niemand«, sagte Webster. »Bloß ich und der General.«

Wieder ein Pause.

»Okay, Sie beide können sich zu den Marines setzen«, sagte Borken. »Auf der Brücke. Am Ende der Reihe.«

Webster wartete ein paar endlose Augenblicke lang. Sein Gesicht war ohne jeden Ausdruck. Dann stand er auf und nickte Johnson zu. Er erhob sich etwas unsicher und dann gingen die beiden zusammen nach vorn und um die Kurve herum. Ließen McGrath allein, hinter dem Felsen kauernd, zurück.

 

McGrath wartete zwei Minuten und kroch dann nach Süden zu dem Chevrolet zurück. Garber und Johnsons Adjutant saßen auf den Vordersitzen und Milosevic und Brogan hinten. Alle starrten ihn erwartungsvoll an.

»Was zum Teufel war los?«, fragte Brogan.

»Wir stecken ganz tief in der Scheiße«, erklärte McGrath.

Nachdem er ihnen hastig im Verlauf von zwei Minuten geschildert hatte, was sich abgespielt hatte, pflichteten ihm die anderen bei.

»Und was nun?«, fragte Garber.

»Wir holen uns Holly«, erklärte McGrath. »Ehe ihm klar ist, dass wir ihn verscheißern.«

»Aber wie?«, fragte Brogan.

McGrath sah ihn an. Sah dann zu Milosevic hinüber.

»Wir drei«, sagte er. »Im Grunde genommen ist das eine FBI-Angelegenheit. Nennen Sie es, wie Sie wollen, Terrorismus, Aufruhr, Kidnapping, das liegt alles in der Zuständigkeit des FBI.«

»Wir machen das?«, fragte Milosevic. »Bloß wir drei? Jetzt, sofort?«

»Kennen Sie eine bessere Methode?«, fragte McGrath. »Wenn Sie wollen, dass etwas richtig erledigt ist, muss man es selbst tun, oder?«

Garber hatte sich halb nach hinten gedreht und musterte die drei Gesichter auf der Rückbank.

»Also, gehen Sie und tun es«, sagte er.

McGrath nickte und hob seine rechte Hand mit ausgestrecktem Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger.

»Ich bin der Daumen«, sagte er. »Ich gehe östlich von der Straße hinein. Brogan, Sie sind der Zeigefinger. Sie gehen eine Meile westlich von der Straße und dringen von dort aus ein. Milo, Sie sind der Mittelfinger. Sie gehen zwei Meilen nach Westen und von dort aus nach Norden. Wir infiltrieren ihr Gelände getrennt, mit je einer Meile Abstand zwischen uns. Wir treffen uns auf der Straße, eine halbe Meile vor der Ortschaft. Alles klar?«

Brogan schnitt ein Gesicht. Dann nickte er. Milosevic zuckte die Schultern. Garber sah McGrath an und der Adjutant des Generals ließ den Chevy an und fuhr ihn langsam nach Süden. Nach vierhundert Metern, wo die Straße den Schutz der Felswände verließ und es links und rechts freien Zugang zum Gelände gab, hielt er wieder an. Die drei FBI-Männer überprüften ihre Waffen. Jeder von ihnen hatte eine .38er in einem glänzend braunen ledernen Schulterhalfter. Die Standardwaffe des FBI. Mit sechs Schuss geladen und weiteren sechs Schuss in einem Speedloader in der Tasche.

»Versuchen Sie ein paar Karabiner in Ihren Besitz zu bringen«, sagte McGrath. »Sparen Sie sich die Mühe, Gefangene zu machen. Wenn Sie jemanden sehen, schießen Sie den Mistkerl nieder, alles klar?«

Milosevic hatte die längste Strecke zu gehen, deshalb setzte er sich als Erster in Bewegung. Er eilte geduckt über die Straße und drang nach Westen ins Unterholz ein. Kurz darauf verschwand er zwischen einer Baumgruppe. McGrath zündete sich eine Zigarette an und schickte ihm Brogan nach. Garber wartete, bis der Wald auch Brogan verschluckt hatte, und wandte sich dann McGrath zu.

»Vergessen Sie nicht, was ich Ihnen über Reacher gesagt habe«, meinte er. »Ich täusche mich nicht über diesen Mann. Er steht auf Ihrer Seite, glauben Sie mir.«

McGrath zuckte die Schultern, sagte aber nichts. Rauchte stumm. Dann klinkte er die Tür des Chevy auf und ließ sich hinausgleiten. Zermalmte die Zigarette mit dem Absatz und ging dann nach Osten davon, quer über den mit Gras bewachsenen Seitenstreifen und ins Unterholz hinein.

 

McGrath war knapp fünfzig und starker Raucher, aber er war sehr fit. Seine Konstitution war von jener undefinierbaren Art, der weder das Alter noch das Rauchen schaden konnten. Er war bloß einen Meter achtundsechzig groß, aber kräftig gebaut. Etwa siebzig Kilo, feste Muskeln, die keine Pflege brauchen und nie in Fett übergehen. Er fühlte sich noch genauso, wie er sich als junger Mann gefühlt hatte. Nicht besser und nicht schlechter. Seine FBI-Ausbildung lag eine lange Zeit zurück und war im Vergleich mit dem, was die Leute heutzutage bekamen, ziemlich lückenhaft. Aber er hatte das Beste daraus gemacht. Körperlich war er immer unzerstörbar gewesen. Nicht der Schnellste in seiner Klasse, aber ganz sicherlich der Ausdauerndste. Die Übungsläufe damals in Quantico waren brutal gewesen. Immer wieder im Kreis durch die Wälder von Virginia, über natürliche Hindernisse. McGrath war jedesmal Dritter oder Vierter geworden. Aber wenn man sie dann noch einmal hinausgeschickt hatte, hatte er es in der gleichen Zeit geschafft, fast exakt auf die Sekunde genau. Die schnelleren Männer hatten sich dann neben ihm abgemüht, während er unbarmherzig weiter trabte. Und dann waren sie zurückgefallen. Beim zweiten Mal pflegte McGrath unweigerlich als Erster durch das Ziel zu gehen. Und beim dritten Mal war er gewöhnlich der Einzige, der es bis zum Ende schaffte.

Also trabte er recht bequem dahin, als er den südlichen Rand der Schlucht erreichte. Er hatte sich vielleicht dreihundert Meter weit nach Osten gearbeitet zu einer Stelle, wo die Steigung einigermaßen vernünftig war. Er ging senkrecht nach unten, ohne eine Pause zu machen. Kurze, knappe Schritte bergab. Der Boden war locker, gelegentlich rutschte er mit kleinen Kieslawinen ab und bremste sein Tempo an den verkrüppelten Bäumen. Er wich den Felsbrocken unten im Graben aus und fing an, sich den Nordhang hinaufzuarbeiten.

Der Aufstieg war anstrengender. Er bohrte die Fußspitzen in den Kies, um Halt zu finden, und zerrte sich an Grasbüscheln nach oben. Er bewegte sich im Zickzack zwischen den kleinen Bäumen und Büschen und suchte ständig nach festem Halt. Die zusätzlichen dreißig Meter des Nordrandes waren qualvoll. Er arbeitete sich bis zu der Stelle, wo ein kleiner Erdrutsch so etwas wie einen weniger steilen Weg geschaffen hatte. Glitt aus und arbeitete sich mühsam durch das Geröll nach oben.

Er wartete am Überhang, wo die Erde unter den Wurzelballen weggerutscht war. Lauschte angespannt. Hörte nur Stille. Stemmte sich über den Rand. Stand da, die Brust in Bodenhöhe, Kopf und Schultern ungedeckt, und blickte nach Norden in das feindliche Territorium. Er sah nichts. Bloß die sanften Bodenwellen, dann die Hügel und schließlich die in der Ferne aufragenden Berge. Blauer Himmel, eine Million Bäume, saubere Luft, völlige Stille. Du bist ein gutes Stück von Chicago entfernt, Mack, dachte er.

Vor ihm war ein Streifen Gebüsch, wo das alte Felsgestein zu nahe an der Oberfläche war, als dass dort viel hätte wachsen können. Dann ein unregelmäßiger Streifen Bäume, zunächst mit Felsbrocken dazwischen und in der Ferne dichter werdend. Er konnte die Lücke in den Baumspitzen sehen, wo vermutlich die Straße verlief. Dreihundert Meter links von ihm. Er wälzte sich aufs Gras und rannte auf die Bäume zu. Arbeitete sich links auf die Straße zu und folgte ihrem Verlauf im Norden im Wald.

Er trottete dahin, wich den Bäumen aus und folgte dabei ständig der Landkarte, die er sich eingeprägt hatte. Er schätzte, dass er etwa drei Meilen zurücklegen musste. Drei Meilen im langsamen Laufschritt, nicht viel schneller als Spaziergängertempo, vielleicht fünfundvierzig oder fünfzig Minuten. Das Gelände stieg unter seinen Füßen sanft an. Bei jedem vierten oder fünften Schritt trafen seine Füße den Bruchteil einer Sekunde früher auf den Boden, als sie das eigentlich hätten sollen, ein Zeichen, dass das Gelände anstieg. Ein paarmal stolperte er über Wurzeln. Einmal krachte er mit voller Wucht gegen eine Kiefer. Aber er trabte unablässig weiter.

Nach vierzig Minuten hielt er inne. Er vermutete, dass Brogan und Milosevic eine ähnliche Reise hinter sich hatten, aber für sie war die Entfernung größer, weil sie am Anfang nach Westen gegangen waren. Deshalb rechnete er mit einer Verzögerung. Mit etwas Glück sollten sie etwa zwanzig Minuten hinter ihm sein. Er ging tiefer in den Wald hinein und setzte sich, an einen Baumstamm gelehnt, hin. Zündete sich eine Zigarette an. Seiner Berechnung nach war er vielleicht eine halbe Meile von ihrem Treffpunkt entfernt. Die Landkarte in seinem Kopf sagte ihm, dass die Straße unweit von ihm in Richtung auf die Ortschaft abbiegen musste.

Er wartete eine Viertelstunde. Zwei Zigaretten. Dann stand er auf und ging weiter. Er bewegte sich vorsichtig. Er näherte sich jetzt seinem Ziel. Zweimal machte er einen Abstecher nach links und fand schließlich die Straße. Kroch zwischen den Bäumen durch, bis er das Schimmern der Sonne auf dem grauen Beton sah. Dann zog er sich wieder zurück und ging weiter nach Norden. So trottete er dahin, bis er sah, wie der Wald vor ihm dünner wurde. Er sah freie Stellen hinter den letzten Bäumen, die von der Sonne beschienen waren. Er blieb stehen und ging ein Stück nach links und dann nach rechts, um einen Aussichtspunkt zu finden. Er sah die Straße in die Ortschaft münden. Eine graue Ruine auf einem kleinen Hügel auf der linken Seite. Das Gerichtsgebäude rechts. Besser erhalten. Weiß im Sonnenlicht schimmernd. Er starrte es eine Weile zwischen den Bäumen an. Dann machte er kehrt. Ging fünfhundert Meter weit in den Wald hinein. Arbeitete sich zur Straße hin, bis er zwischen den Bäumen das graue Schimmern erkennen konnte. Lehnte sich an einen Baumstamm und wartete auf Brogan und Milosevic.

 

Diesmal widerstand er der Versuchung, sich wieder eine Zigarette anzuzünden. Er hatte vor langer Zeit gelernt, dass es nicht besonders schlau war, in einem Versteck zu rauchen. Der Geruch breitet sich aus, und eine scharfe Nase kann ihn entdecken. Also lehnte er sich an den Baum und starrte mürrisch zu Boden. Seine Schuhe waren ruiniert, der Aufstieg an der Nordseite der Schlucht hatte ihnen den Rest gegeben. Er hatte die Spitzen immer wieder in den felsigen Boden gestoßen, und sie waren völlig zerkratzt. Er wusste in diesem Augenblick, dass er verraten worden war. Panik stieg in seiner Kehle auf. Seine Brust spannte sich. Es traf ihn wie eine Gefängnistür, die sich sanft schließt. Sie schwang lautlos auf gut geölten Scharnieren nach innen und knallte ihm ins Gesicht.

Was hatte Borken am Funkgerät gesagt? Er hatte gesagt: So wie Sie uns mit diesen verdammten Flugzeugen beobachten. Aber was hatte ihm der Adjutant des Generals damals in dem Büro in Butte gesagt? Sie blicken zum Himmel und sehen einen winzigen Kondensstreifen und bilden sich ein, das ist eine Maschine der TWA. Man denkt nicht, dass es die Air Force ist, die nachsieht, ob Sie an diesem Morgen Ihre Schuhe geputzt haben. Woher wusste Borken also, dass Überwachungsflugzeuge in der Luft waren? Weil ihm jemand das gesagt hatte. Aber wer war das gewesen? Wer zum Teufel wusste das?

Er sah sich verzweifelt um, und das Erste, was er sah, war ein Hund, der von vorn auf ihn zukam. Und dann noch einer. Sie jagten durch die Bäume auf ihn zu. Er hörte hinter sich Geräusche. Schritte und das Knacken von Zweigen. Dann dasselbe Geräusch von rechts. Das metallische Geräusch einer Waffe von seiner linken Seite. Die Hunde waren jetzt dicht vor ihm. Er drehte sich, von Panik erfüllt, im Kreis. Rings um ihn kamen Männer zwischen den Bäumen auf ihn zu. Magere, bärtige Männer in Tarnkleidung, mit Karabinern und Maschinenpistolen. Mit Handgranaten, die an ihren Tarnanzügen hingen. Vielleicht fünfzehn oder zwanzig Mann. Sie kamen ruhig und zielbewusst auf ihn zu. Sie bildeten einen vollständigen Ring, der ihn umgab. Er drehte sich in die eine Richtung, dann in die andere. Er war umzingelt. Sie hoben ihre Waffen. Fünfzehn oder zwanzig Automatikwaffen zielten auf ihn, wie die Speichen eines Rades.

Sie standen stumm da, die Waffen schussbereit. McGrath blickte von einem zum anderen, sah den Kreis von Männern, der ihn umgab. Dann trat einer von ihnen vor. Eine Art Offizier. Seine Hand griff unter McGraths Jacke. Zog mit einem Ruck die .38er aus seinem Halfter. Dann fuhr die Hand des Mannes in McGraths Tasche. Schloss sich um den Speedloader und zog es heraus. Der Mann steckte beides in seine eigene Tasche und lächelte. Holte mit der Faust aus und schlug McGrath ins Gesicht. McGrath taumelte, und da stieß ihm ein Gewehrlauf in den Rücken. Dann hörte er das Geräusch von Reifen auf der Straße. Das Brummen eines Motors. Er blickte nach links und sah einen olivgrünen Farbklecks in der Sonne. Ein Jeep. Zwei Männer saßen darin. Die Soldaten rückten vor und drängten ihn aus dem Wald hinaus. Sie stießen ihn vor sich her, zwischen den Bäumen durch, zum Seitenstreifen der Straße. Er kniff, von der Sonne geblendet, die Augen zu. Er spürte, wie er aus der Nase blutete. Der Jeep rollte vor und hielt dicht neben ihm. Der Fahrer starrte ihn neugierig an. Auch ein schlanker, bärtiger Mann in Uniform. Auf dem Beifahrersitz saß ein übermäßig korpulenter Mann in Schwarz. Beau Borken. McGrath erkannte ihn von seinem Karteifoto. Er starrte ihn an. Dann beugte Borken sich zu ihm hinüber und grinste.

»Hallo, Mr. McGrath«, sagte er. »Sie sind gut vorangekommen.«