32
Die Menge war stumm. Die gewaltige Stille der Berge verschlang ihr Atmen. Alle starrten Holly an. Sie hielt die Ingram auf sich selbst gerichtet, die Mündung gegen eine Stelle über ihrem Herzen gepresst. Den Daumen angespannt über dem Abzug. Borkens aufgedunsenes Gesicht war eine Maske der Panik. Sein mächtiger Körper zitterte und bebte. Er hüpfte neben seiner umgekippten Kiste herum und starrte sie aus geweiteten Augen an. Sie musterte ihn ruhig.
»Ich bin eine Geisel, oder?«, sagte sie zu ihm. »Wichtig für alle und wichtig für Sie. Wichtig in vielerlei Art für alle möglichen Leute. Sie wollen, dass meine Leute etwas tun, damit ich am Leben bleibe. Und damit sind jetzt Sie an der Reihe. Reden wir doch mal darüber, wozu Sie bereit sind, um mein Leben zu retten.«
Borken sah, wie ihr Blick zu Reacher hinüberwanderte.
»Sie verstehen nicht!«, schrie er sie an. Schrie mit einer Stimme, über die er beinahe die Kontrolle verloren hatte. »Ich werde diesen Mann nicht töten. Er bleibt am Leben. Die Lage hat sich geändert.«
»Inwiefern geändert?«, fragte sie ruhig.
»Ich begnadige ihn«, sagte Borken. Immer noch mit panikerfüllter Stimme. »Deshalb sind wir hier. Ich wollte es gerade bekanntgeben. Wir wissen, wer er ist. Wir haben das gerade herausgefunden. Man hat uns gerade informiert. Er war bei der Army. Major Jack Reacher. Er ist ein Held. Man hat ihm den Silver Star verliehen.«
»Und?«, fragte Holly.
»Er hat eine Menge Marines gerettet«, sagte Borken hastig. »In Beirut. Ganz gewöhnliche Soldaten. Er hat sie aus einem brennenden Bunker herausgezogen. Solange er hier ist, werden uns die Marines nicht angreifen. Niemals. Und deshalb werde ich ihn ebenfalls als Geisel benutzen. Er ist eine gute Versicherungspolice gegen die verdammten Marines. Ich brauche ihn.«
Sie starrte ihn an. Reacher starrte ihn an.
»Er wird begnadigt«, wiederholte Borken. »Fünf Jahre Strafdienst. Das ist alles. Sonst nichts. Kein Wenn und Aber. Ich brauche ihn lebend.«
Er starrte sie an, strahlte wie ein Handelsvertreter, als wäre das Problem damit gelöst. Sie schaute zuerst ihn und dann Reacher an. Reacher beobachtete die Menge. Die Menge war ärgerlich. Der Zirkus hatte die Stadt vor der Vorstellung verlassen. Reacher hatte das Gefühl, als wären sie alle einen Schritt auf ihn zugekommen. Sie erprobten die Macht, die Borken über sie hatte. Holly sah zu ihm hinüber, Furcht in den Augen. Nickte ihm zu. Ein kaum wahrnehmbares Kopfnicken. Sie würde in Sicherheit sein, sagte sie ihm damit, was auch immer geschah. Ihre Identität schützte sie wie ein unsichtbarer Zaubermantel. Reacher nickte zurück. Ohne sich umzudrehen schätzte er den Abstand zu den Bäumen hinter ihm ab. Vielleicht sechs Meter. Wenn er Fowler gegen die vorderste Reihe stieß, die Kette packte und wie der Teufel losrannte, konnte er vielleicht den Schutz der Bäume erreichen, ehe jemand daran dachte, eine Waffe auf ihn zu richten. Sechs Meter mit stehendem Start, den Schwung nutzend, wenn er Fowler mit der Schulter wegstieß, vielleicht vier oder fünf Schritte, vielleicht drei Sekunden, vielleicht vier. Und zwischen den Bäumen würde er eine Chance gegen die Kugeln haben. Er malte sich aus, wie sie links und rechts von ihm in die Baumstämme klatschten, während er davonrannte und ihnen auswich. Ein Wald ist der beste Freund eines Flüchtigen. Es braucht eine Menge Glück, um einen Mann zu treffen, der zwischen den Bäumen davonrennt. Langsam verlagerte er sein Gewicht und spürte, wie seine Sehnen sich spannten. Spürte das Adrenalin in seinen Kreislauf fluten. Kämpfen oder fliehen. Aber dann breitete Borken erneut die Arme weit aus. Hielt sie wie die Schwingen eines Engels und setzte die unheimliche Macht seiner Augen gegen seine Leute ein.
»Ich habe meine Entscheidung getroffen!« rief er. »Versteht ihr?«
Eine lange Pause. Sie dauerte Sekunden. Dann wandten sich ihm hundert Gesichter zu.
»Yes, Sir!«, schrien hundert Stimmen.
»Versteht ihr?«, rief er erneut.
Wieder fuhren hundert Gesichter zu ihm herum.
»Yes, Sir!«, riefen hundert Stimmen.
»Fünf Jahre Strafdienst!«, rief Borken. »Aber nur, wenn er beweisen kann, wer er ist. Wie man uns mitteilt, ist dieser Mann der einzige Soldat außerhalb des Marine Corps in der Militärgeschichte der Vereinigten Staaten, der den Marine-Scharfschützenwettbewerb gewonnen hat. Wie man uns sagt, kann dieser Mann auf tausend Meter Distanz sechs Kugeln durch einen Silberdollar jagen. Also werde ich gegen ihn schießen. Achthundert Meter. Wenn er gewinnt, lebt er. Wenn er verliert, stirbt er. Habt ihr das verstanden?«
Hundert Gesichter fuhren zu ihm herum.
»Yes, Sir!«, schrien hundert Stimmen.
Wieder ging ein Raunen durch die Menge. Diesmal klangen sie interessiert. Reacher lächelte innerlich. Raffiniert, dachte er. Die wollten ein Schauspiel, und Borken würde ihnen eines liefern. Fowler atmete aus und zog einen Schlüssel aus seiner Tasche. Trat hinter Reacher und schloss die Handschellen auf. Die Kette fiel auf den Boden. Reacher rieb sich die Handgelenke.
Dann ging Fowler zu Holly hinüber, trat dicht vor sie. Sie zögerte, sah Borken an. Der nickte.
»Sie haben mein Wort«, sagte er mit aller Würde, die er aufbringen konnte.
Sie sah Reacher an. Der zuckte die Schultern und nickte ebenfalls. Sie nickte zurück und sah auf die Ingram hinab. Legte den Sicherungshebel um und streifte den Riemen von ihrer Schulter. Grinste und ließ die Waffe auf den Boden fallen. Fowler beugte sich hinunter und hob sie auf. Borken hob beide Arme, um sich Ruhe zu verschaffen.
»Zum Schießplatz!«, rief er. »In Reih und Glied. Wegtreten.«
Holly hinkte hinüber und ging jetzt neben Reacher.
»Sie haben das Wimbledon gewonnen?«, fragte sie leise.
Er nickte.
»Dann können Sie das hier auch gewinnen?«, fragte sie.
Er nickte wieder.
»Selbst mit einem Sack über dem Kopf«, sagte er.
»Ist das wirklich eine gute Idee?«, fragte sie leise. »Ein Typ wie der… Er wird nicht erbaut sein, wenn jemand ihn schlägt.«
Reacher zuckte die Schultern.
»Er will eine große Vorstellung haben, und deshalb wird er eine kriegen«, sagte er. »Er ist völlig durcheinander. Sie haben das ausgelöst. Ich will das in Schwung halten. Auf lange Sicht wird es uns nützen.«
»Nun, dann machen Sie es gut«, sagte sie.
»Sie werden schon sehen«, sagte Reacher.
Zwei nagelneue Zielscheiben wurden nebeneinander am äußersten Ende des Schießplatzes aufgestellt. Die von Borken stand links und trug die aufgepinselten Buchstaben ATF auf der Brust. Die von Reacher stand rechts und trug die Aufschrift FBI über dem Herzen. Die Matten wurden ein Stück nach hinten gezogen, um die maximale Distanz herzustellen. Reacher nahm an, dass die Entfernung zu den Zielscheiben etwa achthundertdreißig Meter betrug. Eine verdammt große Distanz.
Die Zuschauer hatten einen weiten Halbkreis um die Matten herum gebildet. Die näher stehenden Zielscheiben wurden ins Gebüsch geworfen, um ihnen nicht die Sicht zu versperren. Einige Leute hatten Feldstecher dabei. Allmählich wurde es jetzt leiser, als bei allen die Erwartung auf das bevorstehende Schauspiel einsetzte.
Fowler machte sich zu dem Waffenlager in der tiefer liegenden Lichtung auf. Als er zurückkehrte, trug er in jeder Hand einen Karabiner. Einen für Borken, einen für Reacher. Identische Waffen. Was er da in jeder Hand trug, machte den Preis einer kleinen Familienkutsche aus. Es waren Barretts, Modell 90, mit Zielfernrohr. Fast einen Meter zwanzig lang und über zehn Kilo schwer. Zylinderverschluss-Repetierer, die Geschosse mit zwölf Millimeter Durchmesser verfeuerten. Eher Artilleriegeschosse als Gewehrkugeln.
»Je ein Magazin«, legte Borken fest. »Sechs Schuss.«
Reacher nahm seine Waffe und legte sie zu seinen Füßen auf den Boden. Little Stevie drängte die Zuschauer zurück, um den mit Matten belegten Platz freizuhalten. Borken überprüfte seine Waffe und klappte die zwei Stützen des Zweibeinstativs aus. Schob das Magazin in den Verschluss. Dann stellte er die Waffe bedächtig auf die Matten.
»Ich schieße zuerst«, sagte er.
Er ging auf die Knie und baute seine Leibesfülle hinter der Waffe auf. Zog den Kolben zu sich her und schmiegte ihn an seine Wange. Zog die beiden Stützen vielleicht zwei Zentimeter nach links und schob dann den Kolben ein winziges Stück nach rechts. Er lud durch und presste sich dann an den Boden. Drückte seine Wange bedächtig gegen den Kolben und schob sein rechtes Auge an das Zielfernrohr. Joseph Ray trat vom Rande der Zuschauermenge vor und hielt Reacher seinen Feldstecher hin. Reacher nickte stumm und nahm das Glas entgegen. Hielt es bereit. Borkens Finger spannte sich um den Abzug. Er feuerte den ersten Schuss ab.
Der gewaltige Mündungsfeuerdämpfer spie einen Gasschwall zur Seite und nach unten. Staub wirbelte von den Matten auf. Der Karabiner schlug zurück und dröhnte. Das Geräusch hallte durch die Bäume und wurde Sekunden später von den Bergen zurückgeworfen. Hundert Augenpaare zuckten von Borken zur Zielscheibe. Reacher hob den Feldstecher und stellte auf achthundertdreißig Meter Distanz scharf.
Ein Fehlschuss. Die Zielscheibe war unbeschädigt. Borken spähte durch das Zielfernrohr und verzog das Gesicht. Er kauerte sich wieder nieder und wartete, bis der Staub sich gelegt hatte. Reacher beobachtete ihn. Borken atmete gleichmäßig. Entspannt. Dann krümmte sich sein Finger wieder. Er feuerte den zweiten Schuss ab. Das Gewehr schlug zurück und krachte, und der Staub schoss nach oben. Reacher hob wieder sein Glas. Ein Treffer. An der rechten Schulter der Zielscheibe war ein von Splittern umgebenes Loch zu erkennen.
Ein Murmeln ging durch die Menge. Feldstecher wanderten von Hand zu Hand. Das Murmeln schwoll an und wurde dann wieder leiser. Der Staub legte sich. Borken feuerte erneut. Zu schnell. Er war noch nicht zur Ruhe gekommen. Reacher sah zu, wie er den Fehler machte. Diesmal brauchte er den Feldstecher gar nicht. Er wusste, dass dieses Geschoss irgendwo in Idaho landen würde.
Ein Flüstern in der Menge. Borken blickte finster durch das Zielfernrohr. Reacher sah ihm zu, wie er alles falsch machte. Seine ganze Entspannung war dahin. Seine Schultern waren verkrampft. Er feuerte den vierten Schuss ab. Reacher reichte Joseph Ray am Rande der Zuschauermenge den Feldstecher zurück. Er brauchte gar nicht hinzusehen. Er wusste, dass Borkens weitere Schüsse das Ziel verfehlen würden. In dem Zustand hätte er nicht einmal auf vierhundert Meter getroffen. Nicht einmal auf zweihundert. Er hätte das Ziel sogar in einem mit Menschen angefüllten Raum verfehlt.
Borken feuerte den fünften, gleich darauf den sechsten Schuss ab und stand dann langsam auf. Er hob die schwere Waffe und benutzte das Zielfernrohr, um zu überprüfen, was alle bereits wussten.
»Ein Treffer«, sagte er.
Er ließ die Waffe sinken und sah zu Reacher hinüber.
»Sie sind dran«, sagte er. »Leben oder Tod.«
Reacher nickte. Fowler reichte ihm sein Magazin. Reacher überprüfte es. Er drückte auf die erste Patrone und spürte die zügige Gegenbewegung der Feder. Die Patronen glänzten. Von Hand poliert. Scharfschützenmunition. Er beugte sich vor und hob das schwere Gewehr auf. Hielt es senkrecht und klickte das Magazin ein. Er hieb es nicht hinein, wie Borken das getan hatte, sondern ließ es vorsichtig mit der Handfläche hineinschnappen.
Dann klappte er die beiden Stützen nacheinander aus. Ließ sie in ihre Halterungen einrasten. Sah über den Schießplatz und legte das Gewehr auf die Matten. Hockte sich daneben und legte sich dann hin, alles in einer einzigen, fließenden Bewegung. Er lag da wie ein Toter, die Arme nach vorn ausgestreckt, links und rechts vom Gewehr. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte er jetzt lange Zeit so liegen wollen. Er war müde. Todmüde. Aber dafür war jetzt keine Zeit, und so legte er seine Wange bedächtig an den Kolben. Kuschelte die rechte Schulter daran. Schloss die linke Hand um den Schaft der Waffe, so dass die Finger unter dem Zielfernrohr lagen. Schob die rechte Hand langsam zum Abzug. Hielt sein rechtes Auge an das Zielfernrohr. Atmete aus.
Wenn man eine Scharfschützenwaffe über eine große Distanz abschießt, wirken viele Dinge zusammen. Es fängt an mit Chemie. Mechanische Ingenieurskunst hat damit zu tun. Und Optik und Geophysik und Meteorologie. Und gelenkt wird alles von menschlicher Biologie.
Die Chemie betrifft Explosionen. Das Pulver hinter dem Geschoss in der Patrone muss perfekt in vorherzusehender Weise kraftvoll und sofort explodieren. Es muss das Projektil mit maximaler Geschwindigkeit durch den Lauf jagen. Die Zwölfmillimeterkugel im Patronenlager der Barrett wiegt knapp unter sechzig Gramm. Im einen Augenblick ist dieses Gewicht noch stationär. Eine Tausendstelsekunde später bewegt sich das Geschoss mit annähernd 800 m/sec und lässt den Lauf auf seinem Weg zum Ziel hinter sich. Das Pulver muss also schnell explodieren und muss vollständig explodieren. Ein Meisterwerk der Chemie. Diese Explosion muss die beste Explosion auf dem ganzen Planeten sein.
Dann kommt kurz die Feinmechanik ins Spiel. Das Projektil selbst muss ein perfektes kleines Artefakt sein, das Beste, was von Menschenhand bediente Maschinen hervorbringen können. Es muss formbeständiger als jegliches Schmuckstück sein, völlig gleichförmig in Größe und Gewicht. Vollkommen abgerundet, vollkommen stromlinienförmig. Es muss eine gewaltige Rotation von den Zügen im Lauf hinnehmen. Es muss ohne die geringste Unregelmäßigkeit, ohne jegliches Taumeln durch die Luft zischen.
Der Lauf muss fest und stabil sein. Er würde nichts taugen, wenn ein vorangegangener Schuss den Lauf erhitzen und seine Form verändern konnte. Der Lauf muss eine homogene Masse aus perfektem Metall sein, schwer genug, um physikalisch träge zu bleiben. Schwer genug, um die winzigen Vibrationen des Verschlusses, des Abzugs und des Schlagbolzens zu dämpfen. Diese Eigenschaften waren der Grund dafür, dass die Barrett, die Reacher in der Hand hielt, soviel wie ein billiges Auto kostete. Und aus genau dem Grund hatte Reacher seine linke Hand fest um den Gewehrschaft gelegt. Er unterdrückte damit irgendwelche noch verbleibenden Restschwingungen.
Die Optik spielt eine wichtige Rolle. Reachers rechtes Auge befand sich einen Zentimeter hinter einem Leupold & Stevens-Zielfernrohr. Ein Instrument hoher Qualität. Hinter den feinen, in das Glas eingeätzten Linien des Fadenkreuzes konnte man winzig klein die Scheibe erkennen. Reacher musterte sie konzentriert. Dann ließ er den Kolben langsam sinken und sah, wie das Ziel verschwand und der Himmel seinen Platz einnahm. Er atmete wieder aus und starrte die Luft an.
Weil nämlich die Geophysik eine entscheidende Rolle spielt. Licht breitet sich gradlinig aus. Aber außer Licht gibt es nichts, was so etwas tut. Projektile tun es nicht. Projektile sind physikalische Gegenstände und gehorchen wie alle anderen physikalischen Gegenstände den Naturgesetzen. Sie folgen der Erdkrümmung. Achthundertdreißig Meter ist ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Krümmung. Das Geschoss kommt aus dem Lauf und steigt über die Ziellinie, passiert sie dann und fällt unter sie herunter. In einer perfekten Kurve.
Nur dass es keine perfekte Kurve ist, weil die Schwerkraft in der ersten Millisekunde, die das Geschoss unterwegs ist, bereits wie mit einer winzigen, gierigen Hand danach greift. Das Geschoss kann sie nicht einfach ignorieren. Es ist ein knapp sechzig Gramm schweres Bleiprojektil mit einem Kupfermantel, das sich mit fast dreitausend Stundenkilometern bewegt, aber die Schwerkraft verrichtet ihr Werk. Zuerst nicht sehr erfolgreich, aber bald schaltet sich ihr bester Verbündeter ein. Die Reibung. Von der ersten Millisekunde ihrer Reise an wird das Geschoss durch die Luftreibung abgebremst, und die Schwerkraft bestimmt in immer stärkerem Maß ihr Schicksal. Reibung und Schwerkraft wirken zusammen, um jedes Geschoss in die Tiefe zu ziehen.
Man zielt also ein Stück darüber. Man zielt vielleicht drei Meter über das Ziel, und achthundertdreißig Meter später sorgen die Erdkrümmung und der Sog der Schwerkraft dafür, dass die Kugel dorthin gelangt, wo der Schütze sie haben will.
Natürlich erreicht man dies auch durch eine entprechende Korrektur am Visier oder dem Zielfernrohr, die dafür sorgt, dass sich die Visierlinie entsprechend nach oben verschiebt. Bei all dem darf man die Meteorologie nicht außer Acht lassen. Projektile bewegen sich durch die Luft, und die Luft bewegt sich ebenfalls. Es gibt nur wenige Tage, an denen die Luft völlig ruhig ist. Sie bewegt sich in die eine oder andere Richtung. Nach links oder rechts, nach oben oder unten oder beliebige Kombinationen daraus. Reacher beobachtete die Blätter an den Bäumen und konnte eine langsame, stetige Brise aus dem Norden kommen sehen. Trockene Luft, die sich langsam in seinem Sichtbereich von rechts nach links bewegte. Er zielte also etwa zweieinhalb Meter nach rechts und drei Meter über die Stelle, wo sein Geschoss einschlagen sollte. Er würde das Projektil auf den Weg bringen und es der Natur überlassen, ihre Flugbahn nach links und nach unten zu biegen.
Dem stand freilich die menschliche Biologie im Wege. Scharfschützen sind Menschen. Menschen sind zitternde, wabbelnde Massen aus Fleisch und Muskeln. Das Herz schlägt vor sich hin wie eine riesige Pumpe, und die Lungen pressen ständig gewaltige Luftmassen hinaus und hinein. Jeder Nerv und jeder Muskel zittert vor mikroskopischer Energie. Niemand ist je völlig reglos. Selbst der ruhigste Mensch vibriert wie verrückt. Angenommen, der Abstand zwischen dem Schlagbolzen und der Mündung des Gewehrs beträgt einen Meter. Wenn die Mündung sich auch nur ein winziges Stück bewegt, wird die Kugel achthundertdreißig Meter später um das Achthundertdreißigfache dieser winzigen Strecke ihr Ziel verfehlen. Eine sich vervielfachende Wirkung. Bewegt das Vibrieren des Schützen den Lauf auch nur um das Hundertstel eines Zentimeters, wird die Kugel ihr Ziel um acht Komma drei Zentimeter verfehlen. Etwa um ein Viertel der Breite eines menschlichen Kopfes.
Reachers Technik bestand also darin, zu warten. Einfach durch das Zielfernrohr zu sehen, bis sein Atem regelmäßig und sein Herzschlag langsam wurde, dann vorsichtig den Finger am Abzug zu spannen und noch ein wenig zu warten. Dann die Herzschläge zählen. Eins-und-zwei-und-drei-undvier. Weiter warten, bis der Rhythmus langsam war. Dann zwischen den Herzschlägen schießen. Genau in dem Augenblick, in dem die Vibration so gering war, wie ein menschliches Wesen das überhaupt zustandebringen konnte.
Er wartete. Atmete aus, lang und langsam. Sein Herz schlug einmal. Es schlug wieder. Er feuerte. Der Kolben schlug gegen seine Schulter, und sein Blick wurde von dem Staubschwall unter dem Lauf beeinträchtigt. Das schwere Dröhnen des Schusses hallte von den Bergflanken wider und kam dann als eine geflüsterte Welle von den Zuschauern zu ihm zurück. Er hatte sein Ziel verfehlt. Die Zielscheibe, die Silhouette eines geduckt laufenden Mannes mit dem Buchstaben FBI auf der Brust, war unversehrt.
Er wartete, bis der Staub sich gelegt hatte, und sah dann auf die Bäume. Der Wind war stetig. Er atmete aus und verlangsamte seinen Herzschlag. Dann feuerte er wieder. Das große Gewehr stieß und krachte. Der Staub flog. Die Menge starrte die Zielscheibe an und flüsterte. Wieder verfehlt.
Zwei Fehlschüsse. Er atmete gleichmäßig und feuerte erneut. Verfehlt. Und wieder. Ein Fehlschuss. Er machte eine lange Pause. Kam dann wieder in seinen Rhythmus und feuerte den fünften Schuss ab. Auch der ging daneben. Die Menge war unruhig. Borken rückte näher.
»Jetzt kommt alles auf den letzten Schuss an.« Er grinste.
Reacher gab keine Antwort. Er konnte sich unter keinen Umständen die physikalische Störung leisten, die Sprechen bewirkt hätte. Die Unterbrechung seines Atemrhythmus, die Muskelkontraktion seiner Lungen und seiner Kehle – das alles würde fatal sein. Er wartete. Sein Herz schlug. Und schlug wieder. Er feuerte den sechsten Schuss ab. Verfehlte das Ziel. Richtete das Zielfernrohr wieder auf die Sperrholzzielscheibe und starrte sie an. Unbeschädigt.
Borken schaute ihn an. Man konnte die Fragen in seinen Augen lesen. Reacher richtete sich halb auf, kniete, hob das Gewehr. Zog das leere Magazin heraus. Machte den Verschluss zu. Strich mit dem Finger über die feine Gravur am Kolben. Klappte die beiden Stützen ein. Legte das warme Gewehr bedächtig auf die Matte. Dann stand er auf und zuckte die Schultern. Borken starrte ihn an. Warf Fowler einen Blick zu. Der erwiderte den Blick verwirrt. Sie hatten zugesehen, wie ein Mann um sein Leben schoss, und waren Zeugen geworden, wie er mit jedem einzelnen Schuss das Ziel verfehlt hatte.
»Sie haben die Regeln gekannt«, sagte Borken leise.
Reacher stand unbewegt da. Ignorierte ihn. Blickte zu dem blauen Himmel auf. Ein Paar Kondensstreifen krochen darüber, wie winzige Kreidestriche weit oben in der Stratosphäre.
»Warten Sie, Sir!«, rief Joseph Ray laut.
Er löste sich von der Menge. Hatte es sichtlich wichtig, Wichtiges zu sagen. Er war einer der wenigen Männer in der Bastion mit echter Militärerfahrung, und er war stolz darauf, Dinge zu sehen, die anderen Leuten entgingen. Er glaubte, dass ihm das einen Vorteil verschaffte. Glaubte, dass es ihn auf besondere Art nützlich machte.
Nachdem er einen prüfenden Blick auf die Matte geworfen hatte, legte er sich selbst genau auf die Stelle, wo Reacher gelegen hatte. Blickte über die Schießbahn zu den Zielscheiben. Schloss ein Auge und starrte durch eine Hälfte seines Feldstechers, als wäre der ein Teleskop. Stellte auf das Abbild des laufenden Mannes scharf. Verlagerte dann seine Sichtlinie ein wenig und stellte auf etwas hinter der Schulterpartie der Zielscheibe scharf. Starrte in die Ferne und nickte dann.
»Kommen Sie«, sagte er.
Er stand auf und schickte sich an, zu den Zielscheiben zu laufen. Fowler folgte ihm. Achthundertdreißig Meter weiter lief Ray am Ziel vorbei, ohne ihm einen Blick zuzuwerfen. Trabte weiter. Fowler folgte ihm. Fünfzig Meter. Hundert. Ray sank auf die Knie und starrte in die Richtung, aus der er gekommen war. Brachte sich auf eine Linie mit dem Ziel und den Matten, die fast einen Kilometer entfernt waren. Drehte sich um und deutete nach vorn, hielt seinen Arm und seinen Finger wie einen Gewehrlauf. Stand wieder auf und ging weitere fünfzig Meter zu einem ganz bestimmten Baum.
Es war eine einsame Silberbirke. Ein verwachsener, überlebender Baum, der sich zwischen den hohen Kiefern eingenistet hatte. Sein Stamm war krumm und legte Zeugnis dafür ab, dass sein ganzes Leben ein ständiger Kampf um Licht und Luft gewesen war. Der Stamm war nicht sehr dick, durchmaß höchstens achtzehn oder zwanzig Zentimeter. Einen Meter achtzig vom Boden entfernt hatte er sechs Einschusslöcher. Große, frische, anderthalb Zentimeter messende Löcher. Drei davon standen in einer perfekten geraden, senkrechten Linie, die vielleicht achtzehn Zentimeter hoch war. Die anderen drei standen in einer lockeren Kurve rechts davon, ein Stück rechts und unterhalb vom obersten Loch, dann dicht vor dem mittleren und wieder etwas tiefer zwischen dem mittleren und dem unteren Loch rechts. Joseph Ray starrte die Löcher an und begriff dann, was sie darstellten. Er grinste. Die sechs Löcher bildeten ein perfektes großes B auf der weißen Borke. Der Buchstabe bedeckte eine Fläche von vielleicht achtzehn mal zwölf Zentimetern. Etwa die Dimensionen eines menschlichen Gesichts.
Fowler schob sich an Ray vorbei, drehte sich um und lehnte sich an den Baumstamm. Stand da und presste den Hinterkopf gegen die ausgefransten Löcher. Hob seinen Feldstecher und blickte über den Schießplatz zu den Matten. Seiner Schätzung nach befand er sich mehr als hundertfünfzig Meter hinter der Zielscheibe. Die Zielscheibe war mehr als achthundert Meter von den Matten entfernt gewesen. Er addierte im Kopf.
»Tausend Meter«, hauchte er.
Fowler und Joseph Ray zählten ihre Schritte auf dem Weg zurück zu Borken. Ray machte lange Schritte, fast genau einen Meter. Fowler zählte. Neunhundertundneunzig Schritte, neunhundertundneunzig Meter. Borken kniete auf die Matten und benutzte Rays Feldstecher. Er schloss ein Auge, starrte über die Distanz und konnte den weißen Baum kaum sehen. Reacher beobachtete ihn, wie er sich Mühe gab, seine Überraschung nicht zu zeigen. Und dachte bei sich: Du wolltest eine große Vorstellung, und jetzt hast du eine bekommen. Gefällt es dir, fetter Junge?
»Okay«, sagte Borken. »Dann wollen wir mal sehen, wie klug Sie sich jetzt verhalten werden.«
Die fünf Wachen, die sechs gewesen waren, als Jackson noch zu ihnen gehört hatte, formierten sich zu einer Reihe. Sie traten vor und bauten sich um Reacher und Holly herum auf. Die Zuschauer begannen sich langsam zu entfernen. Man hörte ihre Füße auf dem steinigen Boden scharren. Dann war auch dieses Geräusch verstummt, und auf dem Schießplatz herrschte Stille.
Fowler beugte sich vor und hob die Gewehre auf. Er nahm jedes in eine Hand und ging zwischen den Bäumen davon. Die fünf Wachen nahmen ihre Waffen von der Schulter; man konnte das laute Klatschen ihrer Handflächen auf Holz und Metall hören.
»Okay«, sagte Borken erneut. »Strafeinsatz.«
Er wandte sich an Holly.
»Sie auch«, sagte er. »Dafür sind Sie nicht zu wertvoll. Sie können ihm helfen. Er muss etwas für mich erledigen.«
Die Wachen traten vor und marschierten hinter Reacher und Holly und dem an der Spitze gehenden Borken langsam zwischen den Bäumen zur Bastion hinunter und dann über den ausgetretenen Weg zu der Lichtung mit der Kommandohütte. Dort blieben sie stehen. Zwei von den Wachen lösten sich aus ihrer Formation und gingen zu den Lagerschuppen. Fünf Minuten darauf waren sie mit umgehängten Waffen wieder zurück. Die erste Wache trug in der linken Hand eine Schaufel mit langem Stiel und in der rechten eine Brechstange. Der zweite Mann trug zwei olivfarbene Drillichhemden. Borken nahm sie ihm ab und drehte sich zu Reacher und Holly herum.
»Ziehen Sie Ihre Hemden aus«, sagte er. »Und ziehen Sie die hier an.«
Holly starrte ihn an. »Warum?«, sagte sie.
Borken lächelte.
»Das gehört alles mit zu dem Spiel«, sagte er. »Wenn Sie bis zum Einbruch der Nacht nicht zurück sind, lassen wir die Hunde los. Die brauchen Ihre alten Hemden wegen der Witterung.«
Holly schüttelte den Kopf.
»Ich werde mich nicht ausziehen«, sagte sie.
Borken sah sie an und nickte.
»Wir drehen uns um«, sagte er. »Aber Sie bekommen nur eine Chance. Wenn Sie es nicht tun, werden diese Jungs das für Sie erledigen, ist das klar?«
Er erteilte den Befehl, und die fünf Wachen schwärmten im weiten Bogen aus und drehten sich zu den Bäumen um. Borken wartete, bis auch Reacher sich umgedreht hatte, vollführte dann selbst eine Kehrtwendung und starrte in die Luft.
»Okay«, sagte er. »Los jetzt.«
Die Männer hörten, wie Knöpfe geöffnet wurden und dann das Rascheln von Baumwollstoff. Sie hörten, wie das alte Hemd auf den Boden fiel und das neue übergestreift wurde. Dann hörten sie das Klicken von Fingernägeln auf Knöpfen.
»Erledigt«, murmelte Holly.
Reacher zog seine Jacke und sein Hemd aus und fröstelte in der kühlen Bergluft. Er nahm das neue Hemd von Borken entgegen und schlüpfte hinein. Warf sich die Jacke über die Schultern. Borken nickte, und dann reichte der Wachsoldat Reacher die Schaufel und die Brechstange. Borken deutete in den Wald hinein.
»Gehen Sie hundert Meter in westlicher Richtung«, sagte er. »Dann weitere hundert nach Norden. Wenn Sie angekommen sind, werden Sie schon wissen, was zu tun ist.«
Holly sah Reacher an. Der nickte. Sie setzten sich in Bewegung.
Als sie dreißig Meter zurückgelegt hatten und außer Sichtweite von Borken und seinen Leuten waren, blieb Holly stehen. Sie stieß ihre Krücke in den Boden und wartete darauf, dass Reacher sich zu ihr umdrehte.
»Borken«, sagte sie. »Ich weiß, wer er ist. Ich habe seinen Namen in unseren Akten gesehen. Man verdächtigt ihn wegen Raubes, irgendwo im Norden von Kalifornien. Zwanzig Millionen Dollar in Inhaberobligationen. Der Fahrer eines gepanzerten Geldtransports wurde getötet. Das Sacramento-Büro hat Ermittlungen angestellt, aber sie konnten ihm nichts nachweisen.«
Reacher nickte.
»Das war er natürlich«, sagte er. »Das steht für mich fest. Fowler hat es zugegeben. Er sagt, sie haben zwanzig Millionen auf den Cayman-Inseln. Vom Feind erobert.«
Holly verzog das Gesicht.
»Das erklärt den Maulwurf in Chicago«, sagte sie. »Mit zwanzig Millionen auf der Bank kann Borken es sich leisten, recht großzügig mit Bestechungsgeldern umzugehen, oder nicht?«
Reacher nickte bedächtig.
»Kennen Sie jemanden, der Bestechungsgeld annehmen würde?«, fragte er.
Sie zuckte die Schultern. »Die meckern alle wegen ihres Gehalts.«
Er schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte er. »Denken Sie an jemanden, der nicht meckert. Jemand, der Borkens Inhaberaktien im Hintergrund hat, macht sich keine Sorgen mehr um Geld.«
Sie zuckte wieder die Schultern.
»Es gibt auch welche, die nicht meckern«, sagte sie. »Manche finden sich einfach damit ab. So wie ich beispielsweise. Aber ich bin wahrscheinlich anders.«
Er sah sie an. Ging weiter.
»Sie sind anders«, wiederholte er. »Ganz bestimmt sogar.«
Er sagte das ohne Ausdruck, dachte darüber nach. Sie gingen zehn Meter weiter. Er ging langsamer, als er das üblicherweise tat, und sie hinkte neben ihm her. Er war in Gedanken verloren. Immer wieder hörte er Borkens hohe Stimme, wie er behauptete: Sie ist mehr als bloß die Tochter ihres Vaters.
Und hörte, wie ihre eigene Stimme verärgert die Frage stellte: Warum zum Teufel glaubt eigentlich jeder, dass alles, was mit mir passiert, bloß wegen meines verdammten Vaters geschieht? Dann blieb er wieder stehen und sah ihr gerade in die Augen.
»Wer sind Sie, Holly?«, fragte er.
»Sie wissen, wer ich bin«, sagte sie.
Er schüttelte den Kopf.
»Nein, das weiß ich nicht«, sagte er. »Zuerst dachte ich, Sie wären einfach irgendeine Frau. Dann waren Sie eine Frau namens Holly Johnson. Dann waren Sie FBI-Agentin. Dann waren Sie General Johnsons Tochter. Und dann hat Borken mir gesagt, dass Sie sogar noch mehr als das seien. ›Sie ist mehr als bloß die Tochter ihres Vaters‹, hat er gesagt. Als Sie vorher Ihren Coup gelandet haben, hat er sich fast in die Hose geschissen. Sie sind eine Spitzengeisel, Holly, drei Sterne. Also, wer zum Teufel sind Sie?«
Sie sah ihn an. Seufzte.
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte sie. »Angefangen hat das vor achtundzwanzig Jahren. Damals hat man meinen Vater ins Weiße Haus berufen. Die haben das damals mit vielversprechenden Typen getan. Er hat sich mit einem Politiker angefreundet, der Kongressabgeordneter werden wollte. Meine Mutter war damals mit mir schwanger, und seine Frau war auch schwanger und hat meine Eltern darum gebeten, Paten zu werden, und mein Vater hat sie gebeten, meine Paten zu werden. Also stand dieser junge Politiker neben meinem Taufbecken.«
»Und?«, fragte Reacher.
»Der Mann hat Karriere gemacht«, sagte Holly. »Er ist immer noch in Washington. Wahrscheinlich haben Sie ihn gewählt. Er ist jetzt Präsident.«
Reacher ging wie benommen weiter. Sah immer wieder zu Holly hinüber, die tapfer mit ihm Schritt hielt. Hundert Meter westlich von der Strafhütte gab es einen kleinen Felsvorsprung, auf dem keinerlei Bäume standen. Reacher und Holly blieben stehen und schwenkten in nördlicher Richtung ab, in die Richtung, aus der der Wind wehte.
»Wo gehen wir hin?«, fragte Holly. Ihre Stimme klang beunruhigt.
Reacher blieb plötzlich stehen. Er wusste, wo sie hingingen. Der Wind trug ihnen die Antwort entgegen. Ihm wurde kalt. Er bekam eine Gänsehaut und starrte die Werkzeuge an, die er in der Hand hielt, als ob er so etwas noch nie zuvor gesehen hätte.
»Sie bleiben hier«, sagte er.
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein«, sagte sie. »Ich komme mit, wohin auch immer Sie gehen.«
»Bitte, Holly«, sagte er. »Bleiben Sie hier, ich bitte Sie.«
Sein Tonfall überraschte sie, aber sie ging weiter, schüttelte den Kopf.
»Ich komme mit«, beharrte sie.
Er warf ihr einen düsteren Blick zu, und sie gingen weiter nach Norden. Er zwang sich weiterzugehen, auf ihr Ziel zu. Fünfzig Meter. Jeder einzelne Schritt erforderte einen bewussten Willensakt. Sechzig Meter. Er wollte kehrtmachen und wegrennen. Einfach wegrennen und nie mehr stehen bleiben. Irgendwie den Fluss überqueren und verschwinden. Siebzig Meter. Er blieb stehen.
»Bleiben Sie hier, Holly«, sagte er erneut. »Bitte.«
»Warum?«, fragte sie.
»Sie brauchen das nicht zu sehen«, sagte er mit kläglicher Stimme.
Sie schüttelte wieder den Kopf und ging weiter. Er holte sie ein. Sie rochen es, lange bevor sie es sahen. Schwach, süßlich, unvergeßlich. Einer der vertrautesten und schrecklichsten Gerüche in der langen, schrecklichen Geschichte der Menschheit. Der Geruch von frischem menschlichen Blut. Zwanzig Schritte nachdem sie es gerochen hatten, hörten sie es. Das wahnsinnige Summen und Brummen einer Million Fliegen.
Sie hatten Jackson zwischen zwei jungen Kiefern gekreuzigt. Man hatte ihm die Arme auseinandergezerrt und die Hände durch die Handflächen und die Handgelenke an die Bäume genagelt. Man hatte ihn gezwungen, sich auf Zehenspitzen zu recken und hatte seine Füße flach an die Baumstämme genagelt. Er war nackt, und man hatte ihn verstümmelt. Er hatte einige Minuten gebraucht, um zu sterben. Soviel stand für Reacher fest.
Jackson hing unbewegt da und starrte auf die wabernde Masse aus blauen, glänzenden Fliegen. Holly hatte ihre Krücke fallen lassen, und ihr Gesicht war kalkweiß. Ein gespenstisches, lebloses Weiß. Sie fiel auf die Knie und übergab sich. Drehte sich von dem schrecklichen Anblick weg und fiel nach vorn aufs Gesicht. Ihre Hände krallten sich blindlings in den Waldboden. Sie bäumte sich auf und schrie in die summende Stille des Walds hinein. Schrie und brüllte.
Reacher beobachtete die Fliegen. Seine Augen waren ausdruckslos. Sein Gesicht war ohne Bewegung. Bloß ein winziger Muskel unten an seinem Kinn verriet etwas. Er stand ein paar Minuten reglos da. Jetzt verstummte Holly neben ihm auf dem Waldboden. Er ließ die Brechstange fallen. Warf seine Jacke über einen niedrigen Ast. Trat direkt vor die Leiche und fing zu graben an.
Er grub in stummer Wut. Er rammte die Schaufel in die Erde, legte seine ganze Kraft hinein, durchhackte die Baumwurzeln mit wilden Schlägen. Wenn er auf große Steine traf, wuchtete er sie heraus und warf sie auf einen Haufen. Holly setzte sich auf und sah ihm zu. Sie sah die flammenden Augen in seinem ausdruckslosen Gesicht, sah die hervortretenden Muskelstränge an seinen Armen. Sie folgte dem gnadenlosen Rhythmus der Schaufel. Sagte nichts.
Von der Arbeit wurde ihm heiß. Die Fliegen begannen sich für ihn zu interessieren. Sie verließen Jacksons Leiche und summten um seinen Kopf. Er ignorierte sie. Arbeitete sich einfach keuchend zwei Meter tief in die Erde hinein. Dann lehnte er die Schaufel an einen Baum. Wischte sich mit dem Ärmel das Gesicht ab. Sagte kein Wort. Nahm die Brechstange und trat dicht vor die Leiche. Wischte die Fliegen weg. Stemmte die Nägel aus der linken Hand. Jacksons Körper kippte zur Seite. Der linke Arm deutete auf groteske Weise in die Grube hinunter. Die Fliegen stiegen in einer zornigen Wolke auf. Reacher ging zur rechten Hand herum. Stemmte die Nägel heraus. Die Leiche kippte nach vorn in das Loch. Er zog die Nägel aus den Füßen. Die Leiche fiel ins Grab. Die Luft war schwarz von Fliegen und von ihrem Summen erfüllt. Reacher ließ sich in das Loch gleiten und schob die Leiche zurecht. Überkreuzte die Arme vor der Brust.
Er kletterte wieder heraus. Ohne innezuhalten griff er sich die Schaufel und fing an, das Loch aufzufüllen. Er arbeitete ohne Pause. Die Fliegen verschwanden. Er arbeitete weiter. Zu viel Erde. Sie türmte sich hoch auf, als er fertig war, wie das bei Gräbern immer der Fall ist. Er stampfte den Hügel in ordentliche Form und ließ die Schaufel fallen. Beugte sich vor und hob die Felsbrocken auf, die er aus dem Loch geholt hatte. Reihte sie um den Hügel herum auf. Legte den größten davon auf den Hügel, wie eine Art Grabstein.
Dann stand er da, keuchend wie ein Wilder, mit Schmutz und Schweiß verschmiert. Holly beobachtete ihn. Dann sagte sie etwas, zum ersten Mal seit einer Stunde.
»Sollen wir ein Gebet sprechen?«, fragte sie.
Reacher schüttelte den Kopf.
»Dafür ist es viel zu spät«, entgegnete er mit leiser Stimme.
»Bei Ihnen alles okay?«, fragte sie.
»Wer ist der Maulwurf?«, fragte er zurück.
»Das weiß ich nicht.«
»Nun, dann denken Sie darüber nach, ja?«, sagte er zornig.
Sie sah ihn böse an.
»Glauben Sie, das habe ich nicht?«, sagte sie. »Was zum Teufel denken Sie denn, was ich die letzte Stunde getan habe?«
»Also, wer ist es dann?«, fragte er. Immer noch zornig.
Sie sagte eine Weile nichts. Wurde wieder stumm.
»Es könnte jeder Beliebige sein«, erwiderte sie schließlich. »In Chicago gibt es hundert Agenten.«
Sie saß auf dem Waldboden, klein, jämmerlich, besiegt. Sie hatte ihren Leuten vertraut. Das hatte sie ihm gesagt. Sie war voll naivem Vertrauen gewesen. Ich vertraue meinen Leuten, hatte sie gesagt. Er verspürte eine Aufwallung zärtlicher Gefühle für sie. Sie überwältigte ihn förmlich. Nicht Mitleid, nicht Sorge, nur qualvolle Zärtlichkeit für einen guten Menschen, dessen strahlend schöne neue Welt plötzlich schmutzig wurde und in Stücke ging. Er starrte sie an und hoffte, dass sie es bemerken würde. Sie sah ihn mit tränenerfüllten Augen an. Er streckte ihr beide Hände entgegen. Sie griff danach, und er zog sie auf die Füße und hielt sie an sich gedrückt. Ihre Brüste drückten gegen seine Brust, in der das Herz wie wild schlug. Ihre Tränen liefen über seinen Hals.
Dann waren ihre Hände plötzlich hinter seinem Kopf, zogen ihn näher heran. Sie hob ihr Gesicht und küsste ihn. Sie küsste ihn zornig und hungrig auf den Mund. Ihre Arme klammerten sich um seinen Hals. Er spürte ihren wilden Atem, kniete nieder und legte sie sanft auf die weiche Erde. Ihre Hände nestelten an seinen Hemdknöpfen. Und seine an den ihren.
Sie liebten sich nackt auf dem Waldboden, leidenschaftlich, hastig, gierig, als wollten sie sich damit gegen den Tod selbst auflehnen. Dann lagen sie, keuchend und ausgepumpt, ineinander verschlungen da und blickten zur Sonne auf, deren Licht durch die Blätter herunterstach.
Er streichelte ihr Haar und spürte, wie ihr Atem langsamer wurde. Stumm hielt er sie eine Weile an sich gedrückt und betrachtete die winzigen Stäubchen, die in den Sonnenstrahlen über ihrem Kopf tanzten.
»Wer hat gewusst, wo du am Montag hingehen würdest?«, fragte er leise.
Sie dachte nach. Gab keine Antwort.
»Und wer von ihnen hat damals über Jackson Bescheid gewusst?« , fragte er.
Keine Antwort.
»Wer ist nicht knapp bei Kasse?«, fragte er.
Keine Antwort.
»Wer ist neu?«, fragte er. »Wer hätte nahe genug an Beau Borken herankommen können, um sich kaufen zu lassen? Irgendwann in der Vergangenheit? Vielleicht bei der Untersuchung dieses Raubes in Kalifornien?«
Sie fröstelte in seinen Armen.
»Vier Fragen, Holly«, sagte er. »Auf wen passen sie?«
Sie ließ sich alle Möglichkeiten durch den Kopf gehen. Ein Ausscheideprozess. Ein Algorithmus. Sie durchsiebte die hundert Namen. Die erste Frage eliminierte die meisten von ihnen. Die zweite ein paar mehr. Die dritte Frage eliminierte eine Handvoll. Die vierte war die entscheidende. Wieder fröstelte sie.
»Da kommen nur zwei in Betracht«, sagte sie.