18
General Johnson verließ das Pentagon am Mittwochmorgen um sieben Uhr zwanzig nach Ostküstenzeit. Er trug keine Uniform, sondern einen leichten Straßenanzug, und er ging zu Fuß. Das war die von ihm vorgezogene Methode, in Washington voranzukommen. Es war ein warmer Morgen und schon um diese frühe Stunde schwül, aber er schritt gleichmäßig aus, schwang die Arme, hielt den Kopf hoch erhoben und atmete tief.
Er ging in nördlicher Richtung durch den dichten Staub am Randstreifen des George Washington Boulevard an dem großen Friedhof zu seiner Linken vorbei, durch den Lady Bird Johnson Park und über die Brücke des Arlington Memorial. Dann umrundete er im Uhrzeigersinn das Lincoln-Denkmal, an der Vietnam-Mauer vorbei, und bog rechts in die Constitution Avenue ein, mit dem Spiegelteich zur Rechten und dem Washington-Monument vor sich. Er ging am National Museum of American History vorbei, dann am National Museum of Natural History und bog nach links in die 9th Street. Genau dreieinhalb Meilen an einem herrlichen Morgen, ein schneller Spaziergang durch eine der großen Hauptstädte der Welt, vorbei an Sehenswürdigkeiten, um die sich die Touristen mit ihren Fotoapparaten drängen – doch er sah absolut nichts, nur den düsteren Schleier der Sorge, der vor seinen Augen hing.
Nachdem er die Pennsylvania Avenue überquert hatte betrat er das Hoover Building durch den Haupteingang. Trat vor die Empfangstheke und stützte sich mit beiden Händen, die Handflächen nach unten, darauf.
»Der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs«, sagte er. »Ich möchte den Direktor sprechen.«
Seine Hände hinterließen auf der Kunststofffläche zwei handflächenförmige feuchte Flecken. Der Agent, der herunterkam, um ihn nach oben zu führen, bemerkte sie. Johnson sagte im Fahrstuhl kein Wort. Harland Webster erwartete ihn an der Tür seines Büros. Johnson nickte ihm zu. Sagte immer noch nichts. Webster trat zur Seite und lud ihn mit einer Handbewegung zum Eintreten ein. In seinem Büro war es dunkel. Die Wände waren teils mit Mahagoni vertäfelt, und die Vorhänge waren zugezogen. Johnson setzte sich in einen Ledersessel, und Webster ging um ihn herum zu seinem Schreibtisch.
»Ich möchte Ihnen nicht in die Quere kommen«, sagte Johnson.
Er sah Webster an. Der war einen Augenblick lang damit beschäftigt, diesen Satz zu entschlüsseln. Dann nickte er vorsichtig.
»Sie haben mit dem Präsidenten gesprochen?«, fragte er.
Johnson nickte. »Sie halten das doch auch für richtig?«
»Natürlich«, meinte Webster. »In einer solchen Situation sollte sich niemand um Protokollfragen den Kopf zerbrechen. Haben Sie ihn angerufen oder waren Sie bei ihm?«
»Ich war bei ihm«, sagte Johnson. »Mehrere Male. Ich hatte mehrere lange Gespräche mit ihm.«
Persönlich, dachte Webster. Mehrere lange Gespräche. Schlimmer, als ich gedacht hatte, aber verständlich.
»Und?«, fragte er.
Johnson hob die Schultern. »Er hat mir gesagt, dass er Ihnen die persönliche Befehlsgewalt übertragen hat«, erwiderte er.
Webster nickte. »Kidnapping«, sagte er. »Das ist FBI-Zuständigkeit, ganz gleich, wer das Opfer ist.«
Johnson nickte langsam.
»Das akzeptiere ich«, sagte er. »Für den Augenblick.«
»Aber Sie sind beunruhigt«, meinte Webster. »Glauben Sie mir, General, wir sind alle beunruhigt.«
Johnson nickte wieder. Und dann stellte er die Frage, die ihn dazu veranlaßt hatte, dreieinhalb Meilen zu Fuß zu gehen.
»Irgendwelche Fortschritte?«
Webster zuckte die Schultern.
»Das ist jetzt bereits der zweite Tag«, sagte er. »Mir gefällt die Sache überhaupt nicht …«
Dann verstummte er. Der zweite Tag einer Entführung ist eine Art Schwelle. Jegliche Chance einer frühen, schnellen Lösung ist dahin. Die Situation fängt an sich zu verhärten. Sie fängt an, zu einer langen und komplizierten Operation zu werden. Die Gefahr für das Opfer wächst. Der beste Zeitpunkt, um einen Entführungsfall zu lösen und das Opfer zu befreien, ist der erste Tag. Am zweiten Tag fängt alles an schwerfälliger zu laufen. Die Chancen werden geringer.
»Irgendwelche Fortschritte?«, wiederholte Johnson seine Frage.
Webster sah weg. Der zweite Tag ist derjenige, an dem die Entführer gewöhnlich Verbindung aufnehmen. Das war immer die Erfahrung des Büros gewesen. Am zweiten Tag sitzt man bedrückt und niedergeschlagen herum, weil man seine erste und beste Chance verpasst hat und verzweifelt darauf wartet, dass die Kidnapper anrufen. Wenn sie am zweiten Tag nicht anrufen, rufen sie möglicherweise überhaupt nicht an.
»Kann ich irgendetwas tun?«, fragte Johnson.
Webster nickte.
»Sie können mir einen Grund nennen«, sagte er. »Wer würde Sie so bedrohen?«
Johnson schüttelte den Kopf. Dieselbe Frage hatte er sich seit Montagabend immer wieder gestellt.
»Niemand«, sagte er.
»Sie sollten es mir sagen«, meinte Webster. »Irgendetwas Geheimes, Verborgenes – was es auch ist, Sie sollten es mir am besten jetzt gleich sagen. Das ist wichtig – für Holly.«
»Das weiß ich.« Johnson nickte. »Aber da gibt es nichts. Gar nichts.«
Webster glaubte ihm, weil er wusste, dass es stimmte. Er hatte die komplette Akte, die das Büro über Johnson führte, durchgesehen. Ein gewichtiges Dokument. Es begann auf Seite eins mit kurzen biografischen Angaben über seine Urgroßeltern mütterlicherseits. Sie waren aus einem kleinen europäischen Fürstentum, das inzwischen schon lange nicht mehr existierte, nach Amerika ausgewandert.
»Wird Holly da durchkommen?«, fragte Johnson leise.
Im letzten Teil der Akte fand sich ein Bericht über den Tod von Johnsons Frau. Eine Überraschung, ein bösartiger Krebs, nicht mehr als sechs Wochen von Anfang bis Ende. Ein geheimes psychiatrisches Gutachten, vom Büro in Auftrag gegeben, war zu dem Schluss gelangt, dass der alte Knabe das wegen seiner Tochter durchstehen würde. Die Diagnose hatte sich als richtig erwiesen. Aber wenn er sie auch verlor, brauchte man kein Psychiater zu sein, um zu wissen, dass er damit nicht gut zu Rande kommen würde. Webster nickte wieder und legte einige Überzeugung in seine Stimme.
»Ja, ganz bestimmt«, sagte er.
»Und was haben Sie bis jetzt?«, fragte Johnson.
»Vier Männer«, sagte Webster. »Wir haben ihren Pick-up Truck. Sie haben ihn, kurz bevor sie Holly schnappten, stehen lassen. Ihn angezündet und einfach stehen lassen. Wir haben ihn im Norden von Chicago gefunden. Er wird im Augenblick auf dem Luftweg hierher nach Quantico gebracht. Unsere Leute werden ihn sich ansehen.«
»Ihn nach Spuren absuchen?«, fragte Johnson. »Obwohl er verbrannt ist?«
Webster hob die Schultern.
»Verbrennen ist ziemlich dumm«, sagte er. »Man kann damit in Wirklichkeit gar nicht so viele Spuren verwischen. Jedenfalls nicht vor unseren Leuten. Wir werden diesen Pick-up dazu benutzen, um sie zu finden.«
»Und was dann?«
Webster hob erneut die Schultern.
»Dann werden wir Ihre Tochter zurückholen«, sagte er. »Unser Geiselbefreiungsteam ist in Bereitschaft. Fünfzig Leute, die besten, die es auf der ganzen Welt für so etwas gibt. Sie warten bei ihren Hubschraubern. Wir werden losziehen und sie holen, die Jungs erledigen, die Ihre Tochter geschnappt haben.«
In dem dunklen, ruhigen Zimmer herrschte eine Weile Schweigen.
»Erledigen?«, fragte Johnson. »Was bedeutet das?«
Webster sah sich in seinem eigenen Büro um und senkte die Stimme. Sechsunddreißig Jahre Gewohnheit.
»Grundsatzregelung«, sagte er. »In einem bedeutenden Fall wie dem. Keinerlei Publicity. Kein Zugang für die Medien. Wir können das nicht zulassen. Wenn eine solche Geschichte ins Fernsehen kommt, probiert das jeder Spinner im ganzen Land. Also gehen wir in aller Stille vor. Abgesehen von einer Schießerei. Das ist in einer solchen Situation unvermeidbar. Ein wenig Begleitschaden hier und dort.«
Johnson nickte langsam.
»Sie werden sie exekutieren?«, fragte er halb abwesend.
Webster sah ihn bloß ausdruckslos an. Von den psychiatrischen Mitarbeitern des Büros wusste er, dass die Erwartung von tödlicher Rache dazu beitragen konnte, dass die Betroffenen sich im Griff behielten, ganz besonders, wenn es sich um Leute handelte, die an einen direkten Zugriff gewöhnt waren, wie etwa andere Agenten oder Soldaten.
»Grundsatzregelung«, sagte er wieder. »Mein Grundsatz. Und wie der Präsident schon gesagt hat, ich habe hier persönlich die Befehlsgewalt.«
Der ausgebrannte und von den Flammen geschwärzte Pickup wurde auf eine Aluminiumpalette gehoben und dort mit Nylontrossen verzurrt. Ein Hubschrauber der Luftwaffe vom Typ Chinook kam mit hämmernden Rotoren von dem Militärgelände auf dem O’Hare-Flughafen und schwebte darüber. Seine Rotoren peitschten den See zu wildem Wellengang. Der Hubschrauber ließ seine Kette herunter und hob den Pickup in die Luft. Flog einen Bogen über dem See und donnerte dann in westlicher Richtung davon, zurück nach O’Hare. Setzte seine Ladung unmittelbar vor der hochgeklappten Nase eines Galaxy-Transporters ab. Die Bodenmannschaft von der Air Force verstaute die Palette mit ihrer Last im Inneren des Flugzeugs. Dann schloss sich die Bugklappe, und vier Minuten später rollte die Galaxy auf die Startbahn. Wiederum vier Minuten später war sie in der Luft und arbeitete sich ächzend in östlicher Richtung auf Washington zu. Vier Stunden darauf brauste sie mit Kurs auf den Andrews-Luftwaffenstützpunkt über die Hauptstadt hinweg. Als sie landete, startete eine weitere ausgeliehene Chinook und wartete in der Luft. Die Galaxy rollte zu dem ihr zugewiesenen Standort, und der Pickup wurde mit Winden herausgezogen. Die Chinook stieß hinunter und schwang ihn in die Luft. Flog damit nach Süden, folgte der I-95 nach Virginia, vierzig Meilen bis Quantico.
Die Chinook setzte ihre Last sanft auf der geteerten Fläche vor dem Fahrzeuglabor ab. FBI-Techniker, deren weiße Mäntel in dem heftigen Rotorenwind flatterten, kamen gerannt und zerrten die Plattform durch das Rolltor ins Innere. Sie hievten das Wrack mit Winden von der Palette und zogen es in die Mitte der großen Halle. Dann rollten sie Bogenlampen heran, bauten sie im Kreis um das Wrack des Pickups herum auf und schalteten sie ein. Vielleicht eine Sekunde lang standen sie da und wirkten genauso wie ein Pathologenteam, das sich anschickt, eine Leiche zu sezieren.
General Johnson ging genau auf dem Weg zurück, den er gekommen war. Er ging die 9th Street hinunter, vorbei am National Museum of Natural History, vorbei am National Museum of American History, den Mund zu einem starren Oval geformt und schwer atmend. Er ging den ganzen Spiegelteich entlang und spürte, wie seine Kehle sich verengte und wie es ihn würgte. Dann bog er nach links in die Constitution Avenue und schaffte es bis zur VietnamMauer. Dort blieb er stehen. Eine kleine Menschenmenge stand davor, still und benommen, wie immer. Er sah sie an und sah dann sich in dem spiegelnden schwarzen Granit an. Er fiel nicht auf. Er war mit einem leichten grauen Anzug bekleidet. Es war okay. Also ließ er zu, dass seine Tränen ihm die Sicht beeinträchtigten, drehte sich um und setzte sich dicht an den Mauersockel und schluchzte und weinte, den Rücken gegen die goldenen Namen der jungen Männer gepresst, die vor dreißig Jahren gestorben waren.