Kapitel 46
Von: Katie
An: Rosie
Betreff: Neustart
Hi, Mum,
nur ein schneller Gruß, um dir für deinen ersten Arbeitstag viel Glück zu wünschen (nicht dass du es nötig hättest!). Ich bin sicher, du eroberst sie morgen alle im Sturm!
Alles Gute,
Katie
Sie haben eine Message von: RUBY
Ruby: Tja, Ms. Direktionsassistentin, was gibt’s zu berichten? Wie läuft die Arbeit?
Rosie: In Zeitlupe.
Ruby: Soll ich nachfragen, warum?
Rosie: Bist du bereit für einen Monolog? Wenn nicht, gebe ich dir jetzt die Gelegenheit, dich aus diesem Gespräch auszuklinken.
Ruby: Ob du’s glaubst oder nicht, ich bin ganz Ohr. Schieß los.
Rosie: Okay. Also, ich hab mich früh auf den Weg gemacht, um das Hotel in aller Ruhe ausfindig machen zu können, und bin eine Dreiviertelstunde auf und ab gewandert, weil ich das grandiose Grand Tower Hotel nicht finden konnte. Ich hab mich bei Ladenbesitzern und Kioskinhabern erkundigt, aber keiner wusste etwas von seiner Existenz.
Schließlich hab ich den Studiendirektor des Lehrgangs angerufen, absolut panisch. Ich wollte doch um Himmels willen nicht an meinem ersten Arbeitstag zu spät kommen! Der Mann hat sich bereit erklärt, den Hotelbesitzer anzurufen und die Adresse noch einmal zu überprüfen. Also setzte ich mich auf die Stufen des abbruchreifen Gebäudes (wobei ich mir mein neues Kostüm schmutzig machte) und versuchte, nicht darüber zu weinen, dass ich so spät dran war und so einen schlechten ersten Eindruck hinterlassen würde. Auf einmal öffnete sich die Tür hinter mir mit einem sehr lauten Geräusch, und diese Kreatur starrte mich an. Die Kreatur sprach mit einem breiten Dubliner Akzent, stellte sich als Cronin Ui Chellaigh, Eigentümer der Bruchbude, vor und bestand darauf, ich solle ihn Beanie nennen.
Zuerst war ich verwirrt über den Spitznamen – warum nennt sich jemand Böhnchen? Aber als der Tag voranschritt, wurde es mir nur allzu klar. Es waren nicht die rostigen Türangeln, die besagtes Geräusch von sich gegeben hatten, sondern Beanie höchstpersönlich.
Jedenfalls führte er mich in das alte, feuchte Gebäude und zeigte mir die Zimmer im Erdgeschoss. Dann fragte er mich, ob ich Fragen hätte, und ich wollte natürlich wissen, warum ich in diesem Gebäude war und wann ich das Hotel zu Gesicht bekommen würde. Worauf er mit stolzgeschwellter Brust antwortete: »Das is doch das Hotel! Hübsch, wa?«
Dann wollte er wissen, ob ich nach dem ersten Eindruck schon eine Idee hätte, wie man das Etablissement noch weiter verbessern könnte, und ich schlug vor, ein Schild mit dem Hotelnamen auf dem Gebäude anzubringen, damit die Gäste es leichter finden würden. (Obwohl es natürlich auch ein guter Marketingtrick ist, potenzielle Kundschaft im Ungewissen zu lassen.) Außerdem schlug ich vor, in den umliegenden Geschäften die Kunde von der Existenz des Grand Tower Hotel auszustreuen, damit auf diese Art gleich Werbung gemacht würde (oder jemand wenigstens verirrten Touristen den Weg weisen könnte).
Er blickte mir lang und durchdringend ins Gesicht, um zu sehen, ob ich es darauf anlegte, unverschämt zu werden. Was übrigens nicht der Fall war. Im Moment warte ich auf die Anlieferung des Hotelschilds.
Dann überreichte Beanie mir ein Namensschildchen und bestand darauf, dass ich es trage. Als Begründung gab er an, dass die Gäste, wenn sie sich beschweren wollten, doch einen Ansprechpartner brauchten. Ein durch und durch positiv denkender Mann, dieser Beanie. Das Problem mit dem Namensschild war nur, dass er am Telefon anscheinend meinen Namen nicht richtig verstanden hatte.
Daher laufe ich jetzt schon die ganze Woche als »Rosie Kann« herum. Beanie findet das unglaublich lustig. Das allein zeigt schon seine innere Reife und die Ernsthaftigkeit, mit der er seinen Job und die Leitung des so genannten Hotels betrachtet.
Es ist eines von den wunderschönen Häusern, die früher einmal echt grandios waren und die man einfach vernachlässigt hat. Unter den Dielen modert es wahrscheinlich vor sich hin, mit allem möglichen Zeug, das da sonst noch rumliegt und bestialisch stinkt.
Früher war das Gebäude backsteinrot, jetzt ist es dreckbraun. Es hat vier Stockwerke, und im Souterrain ist ein Table-Dance-Club, den Beanie ebenfalls sein Eigen nennt. Wenn man das Hotel betritt, gerät man zuerst an einen winzigen Tresen aus dunklem Mahagoni. Dahinter befindet sich eine chaotische Sammlung von Hüten, Schirmen und Mänteln, die von früheren Gästen vergessen wurden und jetzt fleißig Staub ansammeln.
Die Wände sind bis zur halben Höhe mit dunklem Mahagoniholz vertäfelt. Wahrscheinlich war der Rest früher mal in einem kräftigen Olivgrün gestrichen, aber jetzt erstrahlen sie in schimmligem Hellgrün. Kleine laternenartige Lampen verbreiten ein absolutes Nichts an Helligkeit. Man kommt sich vor wie in einem Burgverlies. Die Teppiche sehen aus, als wären sie in den Siebzigern verlegt worden, dreckig und muffig und reichlich mit Brandlöchern und schwarzen Kaugummi- und anderen Flecken versehen, deren Herkunft ich lieber nicht erfahren möchte.
Der lange Korridor führt in eine geräumige Bar, die den gleichen vergammelten Teppich, dunkles Holz und dazu im Paisleymuster bezogene Hocker und Stühle enthält. Wenn die Sonne durch die kleinen Fenster fällt, von deren Rahmen reichlich Farbe abblättert, sieht man die dicke Luft, die wahrscheinlich noch von dem Pfeifenqualm des alten Mannes geschwängert ist, der vor zweihundert Jahren hier Stammkunde war.
Der Speisesaal hat zwanzig Tische und eine sehr beschränkte Speisekarte. Hier liegt der gleiche Teppich, allerdings in der Variante Essensreste. Die Fenster sind mit braunen Samtvorhängen und Netzrollos bestückt, auf den Tischen liegen einstmals weiße, aber inzwischen total vergilbte Spitzendecken und rostfleckiges Besteck. Die Gläser sind angelaufen, aber die Wände weiß, sodass hier der einzig helle Raum ist. Allerdings fröstelt man hier selbst dann, wenn die Heizung auf Hochtouren läuft.
Und dann der Gestank. Es riecht, als würde irgendwo eine Leiche verwesen. Der Muff sitzt in den Möbeln, in den Wänden und inzwischen natürlich auch in meinen Klamotten. Insgesamt gibt es sechzig Zimmer, zwanzig auf jedem Stockwerk. Beanie hat mir stolz erklärt, dass die Hälfte davon sogar ein Bad hat. Du kannst dir vorstellen, wie ich mich darüber gefreut habe. Ich dachte, ich sollte am besten gleich alle TV-Stationen und Radiosender anrufen und für diesen einmaligen Service Reklame machen: Ein paar Zimmer haben tatsächlich ein Bad!
Zwei nette Frauen, Betty und Joyce – beide ungefähr hundert –, machen dreimal pro Woche die Zimmer sauber, was ich ehrlich gesagt ziemlich grenzwertig finde. Und wenn man bedenkt, wie langsam sie sich bewegen, würde es mich überraschen, wenn jedes Mal alle Zimmer an die Reihe kommen.
Ich hab mich auch gefragt, welche Kundschaft ein solches Hotel frequentiert, aber als ich meine erste Spätschicht hatte, wurde es mir schlagartig klar. Wenn der Club im Kellergeschoss zumacht, geht die Party einfach oben weiter. Das hat mich umso mehr motiviert, auf die Einstellung zusätzlicher Zimmermädchen zu dringen.
Das Grand Tower Hotel ist alles andere als luxuriös, und ich bin alles andere als die wunderbare Gastgeberin meiner Träume, die ihre Gäste im Paradies empfängt. Wenn jemand Schokolade auf dem Kopfkissen findet, dann höchstens, weil der vorherige Gast sie draufgespuckt hat. Der einzige Grund, aus dem jemand eine Duschhaube aufsetzen würde, wäre, um den Kopf vor dem gelben Wasser zu schützen, das aus der Leitung trieft.
Letzte Woche hat ein Radiosender angerufen, um anzufragen, ob das Grand Tower Hotel bei einem Gewinnspiel mitmachen möchte – entweder konnten die nicht genug Teilnehmer auftreiben, oder der schicke Name hat sie in die Irre geführt. Mir ist keine Ausrede eingefallen, also hab ich zugesagt. Es ging darum, dass die Leute einen Text einschicken sollten, in dem sie begründen, warum gerade sie es ganz besonders verdient haben, sich mal so richtig verwöhnen zu lassen. Dem Gewinner winkten ein Theaterabend, ein Einkaufsbummel und zwei Übernachtungen mit Frühstück in einem zentral gelegenen Hotel. Natürlich war es toll, dass die ganze Woche über im Radio für uns Werbung gemacht wurde, und wir haben auch ein paar zusätzliche Gäste gekriegt – die natürlich keine Ahnung hatten, wie es hier wirklich aussieht.
Als ich die Gewinnergeschichte im Radio hörte, hab ich fast geweint und gleich die Flitterwochensuite herrichten lassen. Die unterscheidet sich zwar in nichts von den anderen Zimmern, aber ich hab Beanie überredet, wenigstens ein entsprechendes Schild an die Tür zu hängen. Eine Stunde lang hat er mit schwarzem Filzstift und der Zunge zwischen den Zähnen hingebungsvoll gemalt, und ich hab echt mein Bestes gegeben, um das Zimmer aufzumotzen und neben Blumen und Sekt aus meinem Budget noch neue Bettwäsche gepresst – aber allzu viel war eben nicht zu machen.
Als die Leute erfuhren, dass sie gewonnen hatten, waren sie so aufgeregt, dass sie jeden Tag beim Hotel anriefen und tausend Fragen stellten, um sich zu vergewissern, dass auch bestimmt kein Irrtum vorlag. Aber als sie dann durch die Tür kamen, war die Enttäuschung groß – und nach einer Viertelstunde suchten sie das Weite.
Ruby, diese Leute hatten ihr Zuhause verloren, der Mann war arbeitslos und hatte sich beide Beine gebrochen. Und obwohl sie keinen Cent für ein Wochenende in diesem Hotel bezahlen mussten, wollten sie nicht dableiben! Das gibt dir einen ungefähren Eindruck davon, wie schauderhaft das Grand Tower Hotel ist.
Rosie: Ruby?
Rosie: Ruby, bist du noch da?
Rosie: Hallo? Ruby, hast du das alles mitgekriegt?
Ruby: Zzzzzzzzzzzzzzzz.
Rosie: Ruby!
Ruby: Was denn? Hab ich was verpasst? Tut mir Leid, ich muss wohl eingeschlafen sein, als du anfingst, von deinem Job zu erzählen.
Rosie: Tut mir Leid, Ruby, aber ich hab dich gewarnt.
Ruby: Keine Sorge, ich hab mir nur zwischendurch eine Tasse Kaffee gekocht und bin rechtzeitig zurückgekommen, um alles über die olivgrünen Wände und verwesenden Leichen zu erfahren.
Rosie: Tut mir Leid, aber es ist echt herb.
Ruby: Nicht alle Jobs sind so, wie man sie sich vorgestellt hat. Aber sag mal ehrlich – was wärst du lieber, Sekretärin bei Randy Andy Paperclip & Co. oder Direktionsassistentin beim Grand Tower Hotel?
Rosie: Oh, ganz sicher Direktionsassistentin beim Grand Tower Hotel.
Ruby: Na, da haben wir’s doch mal wieder, Rosie Kann, das Leben könnte viel schlimmer sein, oder?
Rosie: Vermutlich, ja. Aber ich hab da noch ein kleines Problem.
Ruby: Kannst du es mir in weniger als tausend Worten erläutern?
Rosie: Ich werde es versuchen! Alex kommt zu Julie Caseys Abschiedsfest, und er bringt Bethany mit, und sie haben übers Wochenende im Grand Tower Hotel ein Zimmer gebucht. Ich hab Alex gesagt, es wäre echt nett da … und sie haben extra ein Zimmer mit Aussicht bestellt. Im Grand Tower gibt es als Sonderwunsch aber eigentlich nur ein Zimmer mit Bad. Was die Aussicht angeht, haben wir momentan eine wunderschöne Metzgerei und einen sehr attraktiven Schrottplatz zu bieten.
Ruby: Ach du jemine ...
*
Sie haben eine Message von: ALEX
Alex: Hi, Rosie, du bist aber noch spät wach.
Rosie: Du auch.
Alex: Hier ist es aber fünf Stunden früher.
Rosie: Heute Abend ist Katies Abschlussball.
Alex: Oh, verstehe. Kannst du nicht schlafen?
Rosie: Bist du verrückt? Natürlich kann ich nicht schlafen. Ich hab das Kleid mit ihr ausgesucht, hab ihr beim Schminken und Frisieren geholfen und Fotos von ihr gemacht. Sie war total aufgeregt, wie sich das an so einem Abend ja auch gehört. Heute trifft sie ihre Freunde, die sie danach vielleicht jahrelang nicht mehr sieht. Mir kam es vor, als hätte jemand die Zeit um zwanzig Jahre zurückgedreht.
Ich weiß, sie ist nicht ich, sie ist ein eigener Mensch mit eigenen Ansichten, aber ich konnte nicht anders, ich hab mich selbst in ihr gesehen. Arm in Arm mit einem jungen Mann im Smoking. Voller Hoffnungen und Erwartungen. Ich war so verdammt jung damals – nicht dass mir das bewusst gewesen wäre. Und ich hatte eine Million Pläne. Ich wusste, was ich machen würde, ich hatte die nächsten Jahre meines Lebens genau geplant.
Aber ich hab nicht geahnt, dass schon wenige Stunden später alle meine Pläne über den Haufen geworfen werden würden. Ms. Neunmalklug war doch nicht ganz so schlau, wie sie es gedacht hatte.
Jetzt hoffe ich nur, dass Katie zur abgemachten Zeit heimkommt.
Alex: Sie ist klug, Rosie, und wenn du sie so erzogen hast, wie ich denke, dann brauchst du dir wirklich keine Sorgen um sie zu machen.
Rosie: Ich kann mir nichts vormachen, sie ist jetzt seit fast vier Jahren mit ihrem Freund zusammen, und ich glaube kaum, dass sie immer nur Händchen halten. Aber heute Abend, an dem Abend, der mein Leben verändert hat, wünsche ich mir, dass sie rechtzeitig nach Hause kommt.
Alex: Na, dann muss ich dich einfach ein bisschen ablenken, bis sie wieder da ist. In Ordnung?
Rosie: Wenn es dir nichts ausmacht.
Alex: Wie sieht es denn mit unserem Hotelzimmer für nächsten Monat aus? Ich hoffe doch, die Direktorin wird das beste Zimmer für uns reservieren!
Rosie: Na ja, eigentlich bin ich ja nur die Direktionsassistentin, und das Hotel ist nicht gerade …
Alex: Nicht gerade was?
Rosie: Na ja, nicht ganz so schick wie die Hotels, die ihr von euren Reisen gewohnt seid.
Alex: Es wird trotzdem was ganz Besonderes sein. Weil meine beste Freundin es leitet.
Rosie: Du solltest es nicht mit zu vielen Vorschusslorbeeren überschütten …
Alex: Ach, sei doch nicht albern, du bist immer viel zu sparsam mit den Lorbeeren, vor allem wenn es um dich selbst geht.
Rosie: Nein, Alex, ehrlich, ich möchte für dieses Hotel eigentlich überhaupt keine Verantwortung übernehmen. Weißt du, ich bin erst kurz da, ich hatte noch nicht die Gelegenheit, dem Ganzen meinen Stempel aufzudrücken. Ich befolge nur die Anweisungen …
Alex: Unsinn. Ich kann kaum erwarten, es endlich kennen zu lernen. Wäre doch lustig, wenn jemand im Restaurant vergiftet würde und ich müsste ihm das Leben retten! Weißt du noch, das war immer unser Plan, als wir klein waren.
Rosie: Klar weiß ich das noch, und vielleicht ist diese Möglichkeit gar nicht so weit hergeholt. Wollt ihr nicht lieber auswärts essen gehen? Es gibt so viele tolle Restaurants in Dublin, die ihr noch nicht kennt.
Alex: Vielleicht. Übrigens hab ich den Namen deines Hotels im Internet gar nicht gefunden.
Rosie: Ach ja, die Website wird gerade aktualisiert. Ich sag dir Bescheid, wenn du sie dir wieder anschauen kannst.
Alex: Super. Es wird ganz schön komisch sein, Ms. Rüsselnase Mundgeruch Casey wieder zu sehen.
Wurde auch Zeit, dass sie in Ruhestand geht. Die Kinder dieser Welt können gut auf sie verzichten.
Rosie: Sie heißt Julie, merk dir das, und bitte, sprich sie nicht mit diesem Spitznamen an. Und übrigens war sie die letzten Jahre total anständig zu mir, also sei bitte nett zu ihr.
Alex: Aber klar doch. Mach dir keine Sorgen, ich komme gelegentlich unter Leute, ich weiß einigermaßen, wie man mit ihnen umgeht.
Rosie: Natürlich, Mr.Supersozialchirurg.
Alex: Falls du tatsächlich immer noch so ein Bild von mir im Kopf hast, solltest du dich endlich mal von ihm befreien.
Rosie: Was? Auch das Bild, auf dem du nackt bist? Das kann ich doch nicht einfach wegschmeißen!
Alex: Tja, egal wie das Bild aussieht, vergrößere alles mal zehn.
Rosie: Herr des Himmels, Alex, misst er tatsächlich zehn Zentimeter?
Alex: Ach, sei doch still! Wie geht’s eigentlich deiner Mutter? Habt ihr schon die Testergebnisse vom Krankenhaus?
Rosie: Nein, noch nicht. Zurzeit ist Mum bei Stephanie, aber wenn sie zurückkommt, sind die Ergebnisse da. Anscheinend wissen sie einfach nicht, was ihr fehlt. Ich mach mir echt Sorgen. Neulich hab ich sie angesehen, und plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich sie seit Jahren nicht mehr richtig wahrgenommen habe. Meine Mutter ist alt geworden, ohne dass ich es bemerkt habe.
Alex: Sie ist doch erst fünfundsechzig, das ist noch jung.
Rosie: Ich weiß, aber aus irgendeinem Grund hatte ich ein Bild von ihr im Kopf, auf dem sie wesentlich jünger aussah. Als hätte sie sich für mich gar nicht mehr verändert, seit ich klein war. Aber wie gesagt – als ich sie neulich im Krankenhausbett angeschaut habe, sah sie richtig alt aus. Es war ein Schock. Jedenfalls hoffe ich sehr, dass sie jetzt endlich rausfinden, was los ist und was man dagegen tun kann. Es geht ihr nämlich gar nicht gut.
Alex: Sag mir Bescheid, sobald du was weist.
Rosie: Mach ich. Es ist anstrengend, an meinen freien Tagen immer nach Galway zu fahren. Sosehr ich Mum liebe, es ist einfach sehr weit. Meine Arbeitszeiten sind unmöglich, ich besuche Mum, ich helfe ihr, und in letzter Zeit hab ich eigentlich überhaupt keine Freizeit mehr. Und bin ständig müde.
Alex: Was macht Kevin eigentlich? Kann er nicht einmal in seinem Leben einspringen?
Rosie: Gute Frage. Na ja, um fair zu sein, muss ich erwähnen, dass er sich gerade ein Haus gekauft hat und mit seiner Freundin zusammenziehen will. Wenn er mehr Zeit hätte, würde er wahrscheinlich schon helfen.
Alex: Kevin hat tatsächlich beschlossen, sich auf eine Beziehung einzulassen? Schock! Aber du solltest wirklich mal mit ihm reden, dass er euch mehr helfen muss. Du kannst dir nicht alles aufhalsen.
Rosie: Na ja, ich mach ja auch nicht alles. Steph passt oft auf Mum auf, und sie wohnt noch weiter weg und hat zwei Kinder, das ist auch für sie nicht gerade leicht. Klingt komisch, wenn ich sage, dass wir auf Mum aufpassen, oder? Und es macht mir nichts aus, weil ich gern für Mum da bin. Sie ist allein, ich weiß, wie sich das anfühlt.
Alex: Wenn du Kevin um Hilfe bittest, heißt das ja nicht, dass du deine Mutter nicht mehr lieb hast oder ihr nicht helfen willst. Ich finde, du solltest unbedingt mit Kev darüber reden. Obwohl er auch von selbst drauf kommen müsste.
Rosie: Na ja, ich warte erst mal, bis er umgezogen ist und sich ein bisschen eingelebt hat, und wenn er sich dann immer noch nicht rührt, sprech ich ihn darauf an. Er hat Dad auch nicht halb so oft besucht, wie ich es richtig gefunden hätte, und ich weiß, dass er jetzt darunter leidet. Ich hab Kevin nie richtig verstanden, er ist schon sehr eigenbrötlerisch. Er ist zu Hause aus und ein gegangen und hat nie mit jemandem darüber gesprochen, was er tut. Aber als Dad gestorben ist, hatte er offensichtlich das Gefühl, jetzt könnte er alles kontrollieren. Seit Mum krank ist, hat er sich wieder zurückgezogen. Steph und ich haben schon oft versucht, mit ihm darüber zu reden, aber man kommt einfach nicht an ihn ran. Ich glaube, er ist einfach ein Egoist, weiter nichts. Warte mal grade, draußen hält ein Bus, ich schau mal schnell aus dem Fenster.
Alex: Ist Katie drin?
Rosie: Nein.
Alex: Oh. Sie wird …
Rosie: Oh, Gott sei Dank, da ist sie ja! Ich stell lieber schnell den Computer aus und hüpfe ins Bett. Ich möchte nicht, dass sie denkt, ich hab auf sie gewartet. Danke, lieber Gott, dass du mein Baby sicher nach Hause gebracht hast. Gute Nacht, Alex.
Alex: Gute Nacht, Rosie.