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Nicholas verließ früh das Haus und streifte durch die Straßen von London, während er einen inneren Kampf ausfocht, was mit seinem Zwillingsbruder geschehen sollte. Als er herausfand, was Christopher getan hatte, war sein erster Gedanke: Lass ihn schmoren! Doch dann sah er die Sache gelassener und fand es besser, der Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen und zu sehen, wohin sie das führte.

Er hatte Alexandra sein Wort gegeben, dass er alles tun würde, um seinen Zwillingsbruder frei zu bekommen. Die Tatsache, dass sie glaubte, es handele sich dabei um Nick, zählte nicht. Wenn er überhaupt noch eine Ehre besaß, dann war er an sein Wort gebunden. Selbst wenn er nicht an Alexandra dachte, konnte er die alte Gewohnheit, seinem Zwillingsbruder zu helfen, nicht so einfach vergessen. Sein Leben lang hatte Nick seinen Zwillingsbruder als die andere Hälfte von sich gesehen, auch wenn es die schwächere Hälfte war. Jetzt begriff er, dass es nicht länger so war. Seine andere Hälfte war Alexandra.

Nick war sich darüber klar, dass er in einer Zwickmühle steckte. Während er alle Alternativen durchdachte, kam ihm plötzlich eine Erleuchtung. Doch diese Entscheidung konnte er nicht treffen, das musste Christopher tun.

Später traf er sich im Kaffeehaus mit Neville Staines und Richter Stevenson. »Ich habe mehr Fäden gezogen als eine Näherin, aber es ist mir gelungen, eine Jury zusammenzustellen. Die Untersuchung ist für morgen Nachmittag anberaumt.« Zu Stevensons Information fügte Neville noch hinzu: »Hauptsächlich, weil es nur noch zwei weitere Zeugen gibt außer uns, du und Jeremy Eaton, der die Anklage gegen ihn erhoben hat.«

»Eaton hat sich schon wieder so weit erholt, dass er aussagen kann?«

»Er hat Glück gehabt - er ist nur an der Schulter verwundet worden - aber wie ich gehört habe, ist die Kugel nur wenige Zentimeter an seinem Herz vorbeigeflogen«, erklärte Stevenson.

Neville Staines sah Nick betroffen an. »Vielleicht solltest du überlegen, dir einen Anwalt zu nehmen, für den Fall, dass die Jury beschließt, dass es genügend Beweise gibt für eine Verhandlung.«

»Das habe ich heute Morgen bereits getan«, erklärte Nick. »Vaters Anwalt, Tobias Jacobs, hat mir jemanden empfohlen.«

»Guter Gott. Also findet die Untersuchung im Old Bailey um zwei Uhr im Raum des Großen Geschworenengerichtes statt. Soll ich deinem Bruder Bescheid sagen?«

»Das würde ich lieber selbst tun. Danke, Stevenson, Neville.«

Nick verließ das Kaffeehaus. Er wusste nicht, was er Kit sagen sollte, er wusste nur, dass er ihm höllische Angst machen musste. Er zahlte das übliche Bestechungsgeld, um seinen Bruder besuchen zu können, dann gab er auch dem Wärter Geld, damit er sie allein ließ.

»Was zum Teufel hast du gestern gemeint, als du behauptet hast, du seist Lord Hatton?«, wollte Kit wütend wissen.

Nick stellte fest, dass Kit eine Jacke von Weston trug, dazu passende Hosen und die polierten Stiefel, die er ihm mitgebracht hatte. »Du setzt dich besser, während wir deine Situation besprechen.« Er sagte ihm nicht, dass die Untersuchung für den morgigen Tag anberaumt war. »Neville Staines und

Richter Stevenson haben unermüdlich daran gearbeitet, dass eine Untersuchung eingeleitet wird, ehe man dich nach Newgate bringt.«

»Newgatel Das ist unmöglich, das Gefängnis ist ein Sumpf für den Abschaum von London! Ich würde dort verrückt werden!«

Flüchtig fragte sich Nick, ob sein Zwillingsbruder vielleicht schon verrückt war, doch er schob den Gedanken schnell wieder von sich. Kit war schwach, selbstsüchtig und ohne Gewissen. Worte wie Treue, Ehre und Integrität hatten für ihn nur wenig Bedeutung. »Wenn die Jury entscheidet, dass es genügend Beweise gibt, um eine Verhandlung anzuberaumen, wirst du nach Newgate verlegt werden, ob du dabei verrückt wirst oder nicht.«

»Du musst jemanden bestechen, Nick! Ich kann dort nicht hingehen!«

»Hast du schon einmal über die Tatsache nachgedacht, dass du wegen Mordes angeklagt bist und man dich schuldig sprechen könnte? Das Urteil wäre entweder lebenslänglich, oder du würdest gehängt.«

Kit sprang auf. »Wie kannst du mich nur so quälen? Ich habe geglaubt, du liebst mich!«

Ich liebe dich wirklich, Kit, ich mag dich nur nicht. »Wenn es zu einer Verhandlung kommt, habe ich für dich einen Anwalt, den besten Anwalt, den man mit Geld kaufen kann. Und es gibt nur einen einzigen Zeugen gegen dich.«

»Zu schade, dass Eaton nicht an seiner Verwundung gestorben ist!«, zischte Kit. »Du musst ihn für mich zum Schweigen bringen, Nick!«

»Indem ich ihn umbringe? Das glaube ich nicht.«

»Geh und bedrohe ihn... mache ihm Todesangst... Sage ihm, dass ich beim nächsten Mal mein Ziel nicht verpassen werde, es sei denn, er zieht seine Aussage zurück!« Kit fuhr sich mit den Fingern durch sein Haar, bis es zerzaust war.

»Nein. Wir müssen die Jury davon überzeugen, dass der Tod unseres Vaters ein Unfall war. Wir dürfen nicht zulassen, dass es zu einer Verhandlung kommt. Neville Staines wird als zuständiger Beamter eine Aussage machen müssen. Auch Richter Stevenson wird aussagen. Doch die beiden können nur sagen, was nach dem Schuss passiert ist.«

»Ich werde sie von meiner Unschuld überzeugen!«

»Indem du lügst?« Nick sah seinen Bruder an, bis Kit den Blick senkte. »Du wirst gar nicht aussagen. Es ist meine Aussage als Lord Hatton, die den Ausgang dieser Untersuchung entscheiden wird.«

Kit sank erleichtert auf das schmale Bett. »Jetzt verstehe ich, warum du gestern gesagt hast, du seist Lord Hatton.«

»Ich bin Lord Hatton, heute, morgen und immer.«

Kit starrte seinen Zwillingsbruder wütend an, dann begann sein Verstand langsam zu begreifen, welche Alternative sich ihm bot. »Ich habe dir gesagt, dass Hatton wie ein Mühlstein um meinen Hals ist. Ich werde froh sein, wenn ich davon befreit werde!«

»Und was ist mit Alexandra?«, fragte Nick ruhig.

»Auch von ihr! Vater hat sie als meine zukünftige Frau ausgewählt, nicht ich!«

»Wenn du durch meine Aussage freikommst, wäre es das Beste, wenn du England für einige Zeit verlassen würdest, Nicholas. Freiheit bringt Verantwortung mit sich. Ich werde dafür sorgen, dass du genügend Geld hast, zehntausend im Jahr, für den Rest deines Lebens.«

»Ich könnte nach Italien reisen!« Seine Furcht wurde durch Hoffnung ersetzt.

»Die Untersuchung findet morgen Nachmittag statt. Ich werde für dich einen Platz auf einem Schiff nach Italien buchen, das über Gibraltar fährt. Heute Abend werde ich nach Hatton fahren und deine Koffer packen.«

»Schaffst du es wirklich, dass ich freigelassen werde?« Kits Stimme klang eindringlich.

»Ich kann es dir nicht garantieren, aber ich verspreche dir, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht.« Er stand auf, um zu gehen. »Noch etwas, du solltest morgen auf jeden Fall die Uniform tragen.«

Als das Morgenlicht durch die Fenster drang, dachte Alex darüber nach, was sie bei der Untersuchung tragen sollte. Da sie nicht in der Lage wäre, mit Nicholas zu sprechen, wollte sie ihm durch ihre Anwesenheit eine Botschaft der Liebe und Hoffnung schicken. Sie wählte einen schlichten Rock und die helle gelbe Jacke. Er würde sie sofort erkennen und wissen, dass sie an seine Unschuld glaubte.

Sie dachte an die letzte Nacht. Ihr Ehemann war erst sehr spät nach Hause gekommen. Als sie ihn auf der Treppe gehört hatte, hatte sie so getan, als würde sie bereits schlafen. Sie hatte es heute Morgen vermieden, ihm zu begegnen, und ihr Zimmer erst verlassen, nachdem er gegangen war. Wäre sie gestern nicht zum Berkeley Square gegangen, hätte sie nicht erfahren, dass die Untersuchung für heute im Old Bailey angesetzt worden war. Sie war froh, dass sie bei ihrer Großmutter sitzen würde, falls das Urteil ungünstig ausfiel. Ungünstig? Was für ein sinnloses Wort. Es wäre verheerend. Alex, schiebe diesen Gedanken weit weg von dir!

Sie betrachtete ihre Hüte. Von Lady Hatton würde man erwarten, dass sie eine Haube trug. Sie wählte eine, die mit einer schwarzen Straußenfeder verziert war und warf dann einen Blick in den Spiegel. Sie riss sich die Haube vom Kopf und warf sie quer durch das Zimmer. Verflucht seien die Konventionen. Ich weigere mich, mein Haar zu bedecken!

Als Alexandra das Große Geschworenengericht betrat, stellte sie zu ihrem Entsetzen fest, dass der Raum bis zum letzten Platz mit ihren so genannten Freunden besetzt war. Sie klammerte sich an Dotties Arm.

»Schakale, das habe ich erwartet.« Dottie stieß die Herzogin von Rutland mit ihrem Stock an. »Machen Sie Platz auf der Bank, Euer Ehren.« Als sie sich gesetzt hatten, flüsterte Dottie Alex zu: »Keine Sorge. Wenn Nicholas erst einmal entlastet ist, wird die gehobene Gesellschaft den Hattons in den Hintern kriechen.«

Alexandra spürte die kritischen Blicke der Anwesenden. Sie hob das Kinn und warf in einer trotzigen Geste ihr Haar über die Schulter.

Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, betrat ein Friedensrichter mit einer Perücke den Saal, gefolgt von einem Gerichtsangestellten und der Jury. Dann kamen Jeremy Eaton, Lord Staines, Richter Stevenson und Lord Hatton. Alexandras Blick hing an der Tür. Als der Gefangene in seiner verblichenen Uniform den Raum betrat, keuchte sie leise auf.

»Bitte erheben Sie sich!«, befahl der Gerichtsangestellte. Nachdem alle seinem Aufruf gefolgt waren, sprach er weiter. »Wir sind hier zusammengekommen, um das Motiv und die Umstände des Todes von Lord Henry Hatton zu untersuchen, und herauszufinden, ob es ein Unfall war oder ob es sich um ein Verbrechen handelt.« Er räusperte sich. »Hinsetzen!«

Nicholas lauschte aufmerksam, als Jeremy Eaton als Erster aufgerufen wurde, um sein Zeugnis abzulegen. Eaton behauptete, dass er an jenem Tag einen heftigen Streit zwischen dem Angeklagten und seinem Vater gehört habe. Als der Streit eskalierte, sei ein Schuss gefallen und Henry Hatton für immer zum Schweigen gebracht worden. Er sei der Überzeugung, dass es kein Unfall, sondern vorsätzlicher Mord gewesen sei.

Nick war davon überzeugt, dass Eaton nicht wirklich gesehen haben konnte, was geschehen war. Eaton brachte keine weitere Verwirrung in die Sache, indem er behauptete, dass es in Wirklichkeit Christopher gewesen war, der sich an diesem Tag mit Henry Hatton gestritten hatte und nicht Nicholas. Dies verriet Nick, dass Jeremy sich weit mehr vor dem Zwillingsbruder fürchtete, der Hauptmann in der Armee gewesen war, als vor Lord Hatton.

Eaton beantwortete die Fragen, die ihm von der Jury gestellt wurden, und seine Antworten sprachen gegen den Angeklagten. Als er zum Duell im Green Park befragt wurde, behauptete Eaton, er sei dazu gezwungen worden. Es sei die deutliche Absicht des Gefangenen gewesen, ihn wegen des Mordes an Henry Hatton zum Schweigen zu bringen.

Lord Hatton betrachtete die grimmigen Gesichter der Jury und wusste, dass eine Menge Arbeit auf ihn zukommen würde.

Oberst Stevenson, der Friedensrichter für Bucks County, wurde als Nächster aufgerufen. Er sei davon überzeugt, dass es sich um einen Unfall gehandelt habe, jedoch sei er erst an den Ort des Geschehens gekommen, nachdem Henry Hatton bereits tot war. »Ich habe Nicholas Hatton gefragt, ob die Heylin-Pistole, die am Tatort gefunden wurde, ihm gehöre, und er bejahte es. Ich habe die Aussage der Hatton-Zwillinge, dass es sich um einen Unfall handelte, nicht angezweifelt.«

Neville Staines machte eine ähnliche Aussage und fügte noch hinzu, es habe sich seiner Meinung nach um einen Jagdunfall gehandelt, wie er es auf der Todesurkunde auch angegeben hatte. Er gab jedoch zu, dass sich seine Rolle auf die Geschehnisse nach der Tat beschränkte.

Die Zuhörer begannen zu flüstern und mit den Füßen zu scharren, doch als Lord Hatton in den Zeugenstand gerufen wurde, war es im Saal totenstill.

»Was ich hier sagen werde, ist die Wahrheit, die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ich war es, der an diesem Tag auf der Jagd meinen Vater erschossen hat, nicht mein Bruder Nicholas.«

Die Anwesenden keuchten auf und schwiegen dann wieder, damit ihnen kein einziges Wort von Lord Hattons Aussage entging.

»Seit wir Kinder waren, hat mein Zwillingsbruder mich beschützt und mich vor Strafe bewahrt. Ich war ein ängstlicher Junge und fürchtete mich vor dem Zorn meines Vaters. Mein Bruder war stets furchtlos, tapfer und treu. Immer wenn ich etwas Falsches getan hatte, nahm er ohne zu zögern die Schuld auf sich. Er hat sogar meine Hausaufgaben gemacht, damit ich das Lob meines Vaters bekam. Wie Sie sich vorstellen können, habe ich nie gelernt, auf meinen eigenen Füßen zu stehen, ich habe nie gelernt, mich dem Leben zu stellen.

An dem Tag hat mein Zwillingsbruder mir seine Pistolen geliehen. Als ich bei dem Jagdunfall meinen Vater erschoss, habe ich die Pistole auf den Boden fallen lassen und bin in Panik geraten. Und als Nicholas dann kam, habe ich in ihm meine Rettung gesehen. Ich habe ihn daran erinnert, dass es seine Pistole war, und ihn gebeten, zu behaupten, dass er Vater erschossen habe. Als er zögerte, habe ich damit gedroht, mich umzubringen, weil ich wusste, dass seine Liebe zu mir ihn dazu bringen würde, die Verantwortung auf sich zu nehmen. Ich habe mich benommen wie ein Feigling. Zu meiner unendlichen Schande war das nicht das letzte Mal.« Nicholas warf der Jury einen Blick zu, dann sah er Alexandra an und stellte fest, dass sie an seinen Lippen hing.

»Als das Testament verlesen wurde, erfuhren wir, dass Vater mir alles und Nicholas nichts hinterlassen hatte. Als mein Zwillingsbruder von der Gesellschaft gemieden wurde, ist er in die Armee eingetreten und später zum Range eines Hauptmannes aufgestiegen. Er hatte England gerade verlassen, als mein Cousin, Jeremy Eaton, begann, mich zu erpressen. Wenn ich ihm kein Geld aus meinem Erbe geben würde, drohte er mir, würde er zu den Behörden gehen und sagen, dass der Tod meines Vaters kein Unfall gewesen sei. Wie üblich bin ich in Panik geraten, und weil mein Zwillingsbruder nicht da war, um meine Rolle zu übernehmen, habe ich den leichtesten Weg eingeschlagen und Eaton bezahlt. Als er merkte, dass ich schwach und leicht zu erpressen war, begann er mich auszusaugen.«

Alle Blicke richteten sich auf Eaton.

»Als mein Zwillingsbruder aus dem Krieg zurückkehrte, habe ich ihm von Eatons Lügen und Drohungen erzählt. Und als Nicholas ihm dann bei Whites begegnete, hat er meinen Cousin der Erpressung beschuldigt, und Eaton hat ihn zu einem Duell herausgefordert. Dann ist er zu den Behörden gegangen und hat dort seine Mordgeschichte erzählt. Zweifellos hoffte er, Nicholas Hatton für immer zum Schweigen zu bringen.

»Gentlemen, ich bitte Sie, sehen Sie sich meinen Zwillingsbruder an. Er hat mit dem Tod unseres Vaters nichts zu tun, ich war es, der ihn versehentlich erschossen hat. Ich bin der Feigling.«

»Danke, Lord Hatton«, sagte der Friedensrichter. »Sie können sich wieder setzen.« Er hatte noch nie zuvor gehört, dass ein Peer des Königreiches zugab, ein Feigling zu sein, die Zeugenaussage war sehr gewichtig.

Auch die Jury musste das gedacht haben, denn nach einer kurzen Beratung kehrte sie zurück und reichte dem Friedensrichter eine schriftliche Erklärung, die dieser wiederum dem Gerichtsangestellten gab. Das Urteil lautete »Tod durch Unfall« und war nach der dramatischen Aussage von Lord Hatton für niemanden mehr überraschend.

Eine Woge der Erleichterung erfasste Alexandra. Sie sah, wie sich der Friedensrichter mit Staines, Stevenson und Nicholas unterhielt, dann verließen sie zusammen den Saal. Als Nächstes entdeckte sie ihren Ehemann, der auf sie zukam. »Danke, mein Lord.« Ihre Stimme klang eindringlich. »Ist er jetzt frei?«

»Jawohl. Sie sprechen darüber, Eaton wegen Erpressung anzuklagen.« Er wandte sich um und nahm die vielen Glückwünsche der Leute entgegen, die bei der Anhörung anwesend gewesen waren. Dann stellte er Alexandra als Lady Hatton vor. Alle gratulierten dem Bräutigam und wünschten der Braut viel Glück.

Unter diesen Umständen war es Alexandra nicht möglich, zu Nick zu gehen. Sie zwang sich. Zum ersten Mal seit Tagen zwang sie sich zu einem Lächeln und hatte einen guten Grund dafür. Nicholas war freigesprochen worden. Sie hatte es ihrem Ehemann zu verdanken, dass sein Zwillingsbruder freigesprochen worden war, und sie würde ihm immer dankbar dafür sein.

Lord Hatton küsste seine Frau auf die Wange. »Ich sehe dich zu Hause.« Dann verließ er den Saal.

Alexandra und Dottie nahmen eine Mietkutsche zum Berkeley Square. »Komm noch einmal Augenblick mit nach oben, Liebes. Du hast etwas vergessen. Die Kutsche wird auf dich warten.«

Oben angekommen, reichte Dottie ihr die Schachtel von Madame Martine mit dem hübschen neuen Kleid. »Das wirst du vielleicht heute Abend brauchen.« Dottie zwinkerte ihr viel sagend zu.

Während der kurzen Fahrt zur Curzon Street umklammerte Alex die Schachtel. Das Letzte, was sie tun würde, war, an diesem Abend das seegrüne Kleid anzuziehen, das sie in ihrer letzten Nacht für Nicholas getragen hatte. Unsere letzte Nacht... es war wirklich unsere letzte gemeinsame Nacht. Wie werde ich das je ertragen ?

Als sie den Kutscher bezahlte, warf sie einen Blick zum Himmel. Die Dämmerung brach bereits an, und bald würde es Nacht sein. Alex nahm schnell ein Bad, nichts war gefährlicher für Tagträume, als im warmen Wasser zu sitzen. In ein Handtuch gewickelt, öffnete sie den Schrank, um ein Kleid zu wählen. Sie erschauderte, als sie Nicks Kleidung beiseite schob und dann das Kleid aus cremefarbenem Faille herausnahm.

Alex kleidete sich an und bürstete ihr Haar. Sie hörte, wie ihr Mann mit Fenton sprach, dann vernahm sie seine Schritte auf der Treppe. Sie hatte das Gefühl, ihr Herz würde ihr aus der Brust springen, und ihr Mund war ganz trocken. Ihre Finger zitterten, als sie das bunte Band an dem Kleid mit der hohen Taille glatt strich. Wie kann ich das nur tun? Wie kann ich die Ehefrau für den Zwillingsbruder meines Geliebten spielen? Er hat das gleiche schwarze Haar, die gleichen grauen Augen, das gleiche Grübchen im Kinn, die gleiche tiefe Stimme. Alexandra, du musst einen Schritt nach dem anderen tun. Sie schluckte und trat in den Salon. Langsam, aber ohne zu zögern, ging sie zu ihrem Mann hinüber. »Kit... Flynn... ich möchte dir von ganzem Herzen danken. Was du heute getan hast, erfordert großen Mut.« Sie hob die Finger und legte sie an seine Wange. »Du hast dich einen Feigling genannt, doch in meinen Augen wirst du das niemals sein.« Lieber Gott, Nicks Duft hängt noch immer in meinem Kleid, weil es neben seiner Kleidung im Schrank gehangen hat, der Duft erfüllt meine Sinne.

Ihr Mann sah ihr tief in die Augen, dann senkte er den Kopf und legte seine Lippen sanft auf ihre. Sie nahm die Finger von seiner Wange und vergrub sie in seinem Haar. Dann fühlte sie die Wunde, die sie genäht hatte! Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie wusste, dass dies Nicholas war, und der Zwillingsbruder, den er heute gerettet hatte, war Christopher.

Sie fühlte sich verletzt und betrogen, aber auch unendlich glücklich, dass sie Nicholas geheiratet hatte. Sie konnte im ersten Augenblick nicht verstehen, was für ein Spiel er spielte, doch es war etwas, das auch sie spielen konnte.

Sie zog sich ein Stück von ihm zurück. »Wird Nick nach Hatton zurückkehren?«

»Nein. Er hat sich entschieden, Eaton nicht anzuklagen, weil er das Land verlassen will.«

»Ich denke, das ist eine sehr weise Entscheidung.« Sie wollte ihm zeigen, dass es ihr nicht das Herz brach, wenn Nick wegging. »Wirst du heute Abend mit mir essen?«

»Ja.« Er sah sie an, überrascht darüber, dass sie das Thema gewechselt hatte.

»Dann sollten wir dieses Essen vielleicht als unser Hochzeitsessen sehen.« In ihren Worten lag eine unterschwellige Einladung.

»Das sollten wir vielleicht tun, weil unser erstes gemeinsames Essen eine solche Enttäuschung war.« Seine Worte waren vorsichtig wie sein Blick.

»Mein... Appetit hat sich seither sehr gebessert.«

Alex sah, wie sich seine Nasenflügel blähten. War er zornig? War es Lust? »Vielleicht könnten wir im Bett essen?«

»Hast du denn schon einmal ein Essen im Bett genossen?«

Alex fragte sich, ob er sie absichtlich an die Intimitäten erinnern wollte, die sie miteinander geteilt hatten. Sie lächelte insgeheim. »Nicht, dass ich mich erinnere. Sollte ich es je getan haben, dann war es wohl so unwichtig, dass ich es vergessen habe.«

»Warum findest du nicht heraus, welche köstlichen Überraschungen Fenton für uns hat, während ich die Kerzen in meinem Schlafzimmer anzünde und das Bett aufdecke?«

Trotz allem war Nick erregt. Alexandra war eine geborene coquette, vielleicht konnte sie gar nicht anders als zu flirten. Er war dankbar, dass sie ihn seit der Hochzeit auf Armeslänge von sich fern gehalten hatte, weil sie glaubte, er sei Kit. Doch jetzt war er vollkommen aus der Ruhe gebracht. Er sah sie mit verwundert gerunzelter Stirn an, dann machte er sich auf die Suche nach Fenton.

Als sie in ihrem Schlafzimmer war, suchte Alexandra die schwarzweiß gestreiften Strümpfe, die sie bei Champagner Charlie getragen hatte. Sie zog sie an, befestigte sie mit schwarzen Strumpfbändern und bedeckte sie dann züchtig mit dem Saum ihres cremefarbenen Kleides.

Als er die Tür des Schlafzimmers öffnete, reckte Alex sich gerade über das Bett, um die Decke zurückzuschlagen. Er erhaschte einen Blick auf ihre Fußknöchel und erinnerte sich an jene Nacht, als sie nichts anderes getragen hatte als diese schwarzweißen Strümpfe. Seine Erregung wuchs, und er kämpfte unsinnigerweise dagegen an.

Alex senkte den Blick und erklärte schüchtern: »Ich habe keine Zofe.« Dann sah sie ihn an. »Du wirst mir helfen müssen, mich auszukleiden«, meinte sie kühner.

Nick wusste, er wäre verdammt, wenn er es tat und verdammt, wenn er es nicht tat. Das ist die Sache mit dem Zwilling. Sie weiß, dass Kit ihr Mann ist, doch weil wir einander so ähnlich sehen, tut sie so, als sei ich Nick. Doch dann kam ihm ein Gedanke, der wesentlich beunruhigender war. Weil wir Zwillinge sind, will sie vielleicht mit uns beiden schlafen! Er ging auf sie zu und öffnete langsam die Knöpfe ihres Kleides.

Mit einem neckenden Lächeln schob sie das Kleid über ihre Schultern, ließ es auf den Teppich fallen und trat dann mit katzenhafter Geschmeidigkeit heraus. Dann stellte sie einen Fuß auf das Bett, schob den Unterrock hoch, um ihre Beine zu enthüllen und löste das Strumpfband.

»Ladys tragen keine gestreiften Strümpfe.«

Sie lachte provozierend. »Wie kommst du denn auf die Idee, dass ich eine Lady bin?« Sie zielte mit dem Strumpfband auf ihn, und als sie es dann losließ und das Strumpfband ihn traf, leckte sie sich die Lippen. »Du vergisst, dass Hart Cavendish mich umworben hat«, forderte sie ihn heraus.

Jetzt war Nicholas nicht nur eifersüchtig auf seinen Zwillingsbruder, sondern auch noch auf den Herzog von Devonshire wütend. Er trat einen Schritt vor, griff nach ihrem Bein und zog ihr den Strumpf aus. Dann hob er ihr den Unterrock über den Kopf und warf ihn achtlos beiseite.

»Du bist ungestüm\ Was werde ich heute Nacht sonst noch für herrliche Geheimnisse erfahren, mein liebster Lord?«

Er zog sie in seine Arme, und sein Mund presste sich hart und besitzergreifend auf ihre sanften Lippen. Er zwang sie, ihre Lippen zu öffnen und schob die Zunge tief in die feuchte, heiße Höhle. Er gab ihren Mund erst wieder frei, nachdem er sie ausgiebig geküsst hatte.

Alex fuhr mit den Fingern in sein schwarzes Haar, dann legte sie die Lippen an sein Ohr. »Glaubst du nicht auch, es ist an der Zeit, dass ich die Fäden aus deiner Wunde ziehe?«

Nick zwinkerte überrascht mit den Augen, dann stöhnte er auf und zog sie noch einmal in seine Arme. »Verdammt, du Satansbraten! Du hast es genossen, mich zu quälen.«

»Wann wolltest du mir denn verraten, dass du nicht Lord Hatton bist?«

Er hielt sie auf Armeslänge von sich, dann sah er mit seinen bleigrauen Augen tief in ihre Augen. »Ich bin Lord Hatton. Denn wenn ich das nicht wäre, wärst du auch nicht Lady Hatton. Du darfst niemals den Fehler machen, mich Nicholas zu nennen, nicht einmal, wenn wir allein sind. Nenne mich Flynn.«

Seine heißen, hungrigen Lippen bedeckten ihre, noch bevor sie ihm antworten konnte. Dann gab es nichts mehr zu sagen, denn ihre Kommunikation verlief auf einer wesentlich bedeutsameren, intimeren Ebene.

Zwei Stunden später lag sie in den Armen ihres Geliebten, befriedigt und matt. »Ich liebe dich, Flynn Hatton«, murmelte sie an seinem Herzen.