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17

 

Eine Woche später, als Hart Cavendish Alex Sheffield abholte, war sie wieder als junger Mann gekleidet. »Und wohin führt dich deine zügellose Neugier heute Abend, alter Mann?«, neckte er sie. »Darf ich ein Gasthaus namens The Noble Rot vorschlagen?«

»Meine Neugier ist heute Abend nicht zügellos, sondern lasterhaft«, erklärte Alex beiläufig. Sie musste einen weiteren Artikel für den Political Register schreiben.

»Prostitution ist kein Thema, für das eine Lady sich interessiert.«

»Das sollte es aber sein! Jede Frau sollte es sich zur Pflicht machen, zu erfahren, worunter andere Frauen zu leiden haben. Prostitution ist etwas, das verboten werden sollte.«

Hart warf den Kopf zurück und lachte laut auf. Er griff in der Kutsche nach ihrer Hand. »Alex, mein Liebling, wenn eine Dirne hört, dass du eine solche Meinung hast, wird sie dir die Augen auskratzen. Dirnen sind Dirnen, weil sie es so wollen.«

»Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe!« Guter Gott, ich werde schon genauso wie meine Großmutter! »Dirnen werden zu Dirnen, weil sie keine andere Wahl haben. Und außerdem, wenn du mich weiterhin mit Alex, mein Liebling, anredest, werden die Leute noch denken, du seist einer jener Männer, die sich von Jungen angezogen fühlen.«

Er hob ihre Hand an die Lippen und knabberte sanft an ihren Fingerspitzen. »Ah, aber zu diesem hier fühle ich mich hingezogen. Sexuell hingezogen«, neckte er sie keck.

»Hör auf«, befahl sie ihm ungeduldig.

»Du hast doch gesagt, dass du heute Abend lasterhaft bist, Liebling.«

Sie betrachtete ihn prüfend, und ihr Schalk kam zum Vorschein. »Ich möchte mit dir eine Wette eingehen.«

»Nun, ich bin ein Mann, der Wetten liebt.«

»Du wagst es nicht, mich den ganzen Abend lang mit Liebling anzureden.«

»Das werde ich tun, wenn der Preis, den ich dafür bekomme, die Sache wert ist... wenn du mir zum Beispiel erlaubst, dich zu küssen.«

Ihre Mundwinkel zogen sich hoch, dann erklärte sie schelmisch: »Du kannst mich so oft küssen, wie du möchtest... wenn du es in der Öffentlichkeit tust.«

»Ich glaube, dass dich ungeheuerliche Dinge erregen. Ich werde mich daran halten, dich in der Öffentlichkeit Liebling zu nennen, die Küsse werden privat sein.«

»Kuss. Einzahl«, korrigierte ihn Alex.

Diesmal zogen sich Harts Mundwinkel hoch. Er klopfte mit seinem Stock gegen das Dach der Kutsche, und als der Kutscher die Trennwand beiseite schob, erklärte Hart: »In den Mollies Club.«

Als sie am Piccadilly aus der Kutsche stiegen, bat Hart den Kutscher, auf sie zu warten. Er nannte ein Codewort, damit sie eingelassen wurden und hielt ihr dann die Tür auf. »Erlaube mir, Liebling.«

Alex zog ihren Zylinder aus und reichte ihn dem Portier, dann warf sie Hart einen anbetenden Blick zu. »Danke, Liebling.« Sie war enttäuscht, als das Gesicht des Portiers unbewegt blieb.

Der Club war voller Gentlemen in Abendkleidung und Damen in kostbaren aber auffälligen Kleidern. Der Lärmpegel war außergewöhnlich hoch. Die Paare drängten sich um die Spieltische, sie lachten, tranken und flirteten auffällig. »Dem lauten Lachen nach zu urteilen, scheinen sich alle zu amüsieren.«

Hart lachte laut auf.

»Was ist denn so verdammt komisch?«, zischte sie.

»Du, Liebling. Was möchtest du trinken, Rumpunsch?«

»Ich werde Champagner trinken... Liebling«, fügte sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hinzu. Als sie an ihrem Glas nippte und ihr die Perlen in der Nase kitzelten, sah sie sich in dem nur schwach erleuchteten Raum um. Die meisten Frauen waren stattlich. Die Federn auf ihren Perücken ließen sie größer erscheinen als ihre Partner. Einige von ihnen waren spindeldürr und ohne Formen. Alex bewunderte gerade einen mit Diamanten besetzten Halsreif einer Frau in einem schwarzen Kleid, als sie ihren Adamsapfel entdeckte. Sie beugte sich zu Hart und murmelte: »Ich vermute, dass die Frau an dem Roulette-Tisch ein Mann ist.«

»Was hast du doch für lasterhafte Gedanken, Liebling.« Seine Heiterkeit war so groß, dass er sich beinahe an seinem Brandy verschluckt hätte.

Ein Paar kam von der Tanzfläche und ging an ihrem Tisch vorbei. »Guten Abend, Hart.« Alex war erstaunt, als sie Harts Bruder erkannte, den Grafen von Carlisle. Seine Begleiterin war jedoch nicht Harts Schwester Dorothy, sondern eine sehr hübsche Frau mit einem geschminkten Gesicht und zierlichen Händen und Fesseln. »Seine Lordschaft mit einer Prostituierten! Sie ist noch so jung, es ist unerhört.«

»Sieh dir doch all die Frauen einmal genauer an, Alex.«

Alex' Augen weiteten sich. Sie war schockiert.

»Du bist die einzige Frau hier, Alexandra.«

Sie war entsetzt. »Ich will hier weg! Das ist nicht, was du mir zeigen wolltest, Hart. Du hast mich absichtlich betrogen!«

»Die Hälfte von ihnen sind Prostituierte. Männliche Prostituierte.«

So schnell sie konnte begab sich Alex zum Ausgang.

Hart folgte ihr. »Liebling, sei doch nicht böse«, bat er.

Als sie gingen, zogen sie die Blicke aller auf sich. Mit hochroten Wangen zischte sie: »Nenn mich nicht so!«

Auf dem Weg zur Kutsche murmelte sie verdrießlich: »Ich bin in die eigene Falle gelaufen. Das ist abscheulich!«

»Warum ist es abscheulich, wenn sich Männer wie Frauen kleiden, wenn es für dich vollkommen akzeptabel ist, wie ein Mann herumzulaufen?«

Sie blieb stehen und sah zu ihm auf. »Du wolltest mir eine Lektion erteilen? War das deine Absicht, als du mich an einen solchen Ort gebracht hast?«

Er legte den Arm um sie, senkte den Kopf und gab ihr einen Kuss. »Ja, Liebling. Und es gibt noch so viele andere Lektionen, die ich dir gern erteilen würde.«

Sie schmeckte den Brandy auf seinen Lippen. »Keinen weiteren Kuss mehr, bis du deinen Teil des Handels erfüllt hast.«

Hart seufzte und öffnete ihr die Tür der Kutsche. »In die Waterloo Road«, befahl er dem Kutscher. Er setzte sich neben sie und kapitulierte. »Du hast gewonnen, Alex. Ich werde dich zum >Endspurt< mitnehmen.«

»Was ist ein >Endspurt<?«

»Das ist der Ort, an dem sich die Prostituierten von London nach Theaterschluss treffen.«

Sie fuhren über die Brücke von Westminster und stiegen in der Nähe der Stelle aus, an der die neue Brücke über die Themse gebaut wurde. »Behalte einen klaren Kopf«, warnte Hart seinen Kutscher.

Obwohl das Wetter kühl war, standen in jedem Hauseingang spärlich bekleidete Dirnen. Die Fenster der Gebäude waren verschlossen. Hart legte besitzergreifend eine Hand in Alex' Rücken und führte sie durch eine schmale Tür. Im ersten Augenblick war sie vom Licht der Gaslampen geblendet, und begriff dann, dass sie sich in einem Gin Palast befand.

An einem Ende des Raumes stand eine lange Reihe von Tischen mit Sitzen, die aussahen wie eine gepolsterte Couch. Jeder der Sitze wurde von einer hölzernen Trennwand abgeschirmt. Am anderen Ende des Raumes entdeckte sie eine erhöhte Plattform, auf der die Prostituierten hin und her liefen und alles taten, um die Aufmerksamkeit der Männer auf sich zu lenken. Sie hoben die Röcke, um ihre weiblichen Reize zu zeigen, und machten schlüpfrige Bemerkungen. Der Raum war erfüllt von Lachen, blauem Dunst, dem Geruch nach billigem Parfüm und dem Gestank ungewaschener Körper. Alex sah fasziniert zu, als eine Dirne den Mann, der sie erwählt hatte, zu einem Tisch mit Getränken führte. Dann bemerkte sie, dass Hart und sie wegen ihrer eleganten Kleidung besondere Aufmerksamkeit genossen.

Ein junges Mädchen mit burgunderrotem Haar hatte sich Alex ausgewählt. »Wie wäre es, wenn ich deine Ente lutsche, bis sie quakt, Liebling?«

Alex warf Hart einen entsetzten Blick zu.

Hart, der seine Belustigung nicht länger verbergen konnte, zuckte nur mit den Schultern. »Du weißt doch, was man über Rothaarige sagt!«

Alex hatte sich schnell wieder gefasst. »Nein, das weiß ich nicht, aber ich würde behaupten, dass es bei weitem nicht so ungeheuerlich ist wie das, was man von Herzogen sagt!« Sie nahm an, dass der Brandy sein Urteilsvermögen beeinflusst und er sie deswegen hierher mitgenommen hatte.

Als Mitternacht vorüber war, war Alex erstaunt über die vielen Männer, die in den Gin Palast kamen. Die meisten schienen Stammkunden zu sein. »Die Anzahl der Männer hier, die dem Adel angehören, ist einfach abscheulich.«

Hart griente sie an. »Da hast du sicher Recht, Alex.«

Nun, ich werde ganz sicher einen Artikel über diese zügellosen Ausschweifungen schreiben! Als die Stunden vergingen, zogen die Gentlemen der gehobenen Gesellschaft ihre Jacken, Westen und Krawatten aus und rekelten sich auf den Sitzen. Die Dirnen saßen entweder rittlings auf ihrem Schoß oder knieten zwischen ihren Schenkeln. Das hat mir wirklich die Augen geöffnet über die Männer der Gesellschaft, ich werde diese Erfahrung niemals vergessen! »Finden diese brutalen Kerle es wirklich unterhaltsam, die Mädchen mit Gin abzufüllen, bis sie sturzbetrunken zu Boden fallen?«

Eine Menschenmenge hatte sich um einige Frauen versammelt, die bewusstlos auf dem Boden lagen. Ein Mann beugte sich hinunter und flößte einer der Frauen eine hellgelbe Flüssigkeit ein. »Was gibt er ihr da zu trinken?«, fragte Alex alarmiert.

»Eine Mischung aus Senf und Essig, denke ich. Das Ergebnis löst bei diesen Idioten, die mehr Geld besitzen als Verstand, große Belustigung aus.

Plötzlich begann die junge Prostituierte sich zu winden, und ein großer Jubel brandete auf, als ihr nur spärlich bekleideter Körper zu zucken begann. Alexandra lief aus dem Raum und übergab sich. »Bitte, bring mich nach Hause«, bat sie Hart, der ganz blass geworden war.

Während die Kutsche nach Mayfair holperte, kamen ihr Nick Hattons Worte wieder in den Sinn. London besitzt eine Unterwelt, der ich dich niemals ausgesetzt sehen möchte. Lasterhaftigkeit und Boshaftigkeit sind in der beau monde an der Tagesordnung. Alex saß zusammengesunken in einer Ecke der Kutsche. In diesem Augenblick verabscheute sie sowohl Hart Cavendish als auch sich selbst und ihre eigene lüsterne Neugier.

In den nächsten Tagen blieb Alexandra zu Hause. Sie arbeitete angestrengt an einem Artikel für die Zeitung, in dem sie die erbärmlichen Bedingungen in den Slums anprangerte und die entsetzliche Armut, die schon junge Mädchen im Alter von zwölf Jahren in die Prostitution trieb. Dann verurteilte sie den Adel, nicht nur, weil er sich dieser Situation gegenüber blind stellte, sondern sie stillschweigend duldete und sogar noch ausnutzte. Sie lud die Öffentlichkeit ein, sich ein Bild von den Ausschweifungen in den Gin-Palästen der Stadt zu machen.

Alexandra musste ihre Gefühle zuerst wieder unter Kontrolle bringen, ehe sie eine Skizze zu ihrem Artikel machen konnte. Als sie damit fertig war, war sie davon überzeugt, dass sie sogar die Herzen der härtesten Politiker berühren würde.

Alex sah aus dem Fenster ihres Schlafzimmers und beobachtete die ersten Schneeflocken des Jahres, die sie melancholisch machten. Sie beschloss, mit Dottie Tee zu trinken, da sie in letzter Zeit nicht viel Zeit mit ihrer Großmutter verbracht hatte. Es war still im Haus geworden, seit Rupert ausgezogen war, und Alex musste zugeben, dass sie ihn vermisste.

Dottie stand an dem Tisch in der Eingangshalle und sah die Post durch, die gerade gekommen war. »Grieves und Hawks, Goggin Brothers, Huntsman und Sons, alles Schneider aus der Savile Row, und alles, dem Himmel sei Dank, Rechnungen, für die jetzt Rupert zuständig ist! Verflucht sei dieser Junge, aber man sollte glauben, dass er wenigstens seine Post abholt, wenn er uns schon sonst nicht mit seinem Besuch beehrt.«

»Ich habe ihn auch vermisst.«

»Ihn vermisst? Dann würde ich dir raten, ihn beim nächsten Mal mit einer noch größeren Schaufel zu schlagen.«

Alex lachte. Sie fühlte sich besser. »Ich bringe ihm gern seine Post in die Clarges Street. Er hat als frisch gebackener Ehemann jetzt sicher viel zu tun, nehme ich an.«

Dottie öffnete eine Einladung und warf die anderen Briefe zurück auf den Tisch. »Er hat viel zu tun, Geld auszugeben. Nun, da wir gerade vom Teufel reden - oder von der Schwiegermutter des Teufels - hier ist eine Einladung zum Essen bei den Hardings. Ich fürchte, Annabelle wird für mich unverdaulich sein, selbst bei meinem eisernen Magen.«

»Eiserner Magen? Wie plastisch ausgedrückt.«

»Das ist das Geheimnis meiner Langlebigkeit, ein eiserner Magen und ein gefühlloses Herz.«

»Dottie, du hast kein gefühlloses Herz!«

»Natürlich nicht, Liebling. Ich setze mich selbst herab und freue mich, wenn die anderen behaupten, es sei nicht so.« Dottie kritzelte ihre Absage unter die Einladung. »Bei dem Essen wird uns die Neuigkeit mitgeteilt werden, dass Olivia schwanger ist, und es wird erwartet, dass wir diese Neuigkeit mit vor Überraschung weit aufgerissenen Augen begrüßen und gratulieren. Die Männer werden Hardings Zigarren rauchen, und du weißt doch, wie sehr ich einen Mann mit Zigarre verabscheue ... es sieht aus, als würde er an einem Hundehaufen saugen! Du kannst die Briefe deines Bruders abliefern und gleichzeitig auch die Absage mitnehmen.«

Dottie und Alex vermuteten, dass Olivia schwanger war. Wenn es stimmte, bestand noch immer die Möglichkeit, dass Rupert der Vater des Kindes war und dass er Olivia deswegen geheiratet hatte. Alex entschied sich, zu Fuß durch den Schnee zur Clarges Street zu gehen. Sie wollte rechtzeitig zum Abendessen wieder zurück sein und nahm deshalb Sara nicht mit. Sie zog einen warmen Samtumhang über und nahm die Briefe vom Tisch in der Eingangshalle. Die Lampen in der Curzon Street wurden bereits angezündet. Alex hob das Gesicht und lachte erfreut, als die Schneeflocken auf ihre Wimpern fielen. Sie klopfte an der Tür des Hauses in der Clarges Street, die von einer ihr unbekannten Zofe geöffnet wurde.

»Es tut mir Leid, Ma'am. Lady Longford ist nicht zu Hause.

Sie macht einen Besuch bei Lord und Lady Harding, wird aber zum Abendessen zurück sein.«

»Oh, eigentlich wollte ich Rupert besuchen. Ich bin seine Schwester.«

»Seine Lordschaft ist beschäftigt, Ma'am. Möchten Sie warten?«

»Ja, danke.« Alex schüttelte den Schnee von ihrem Umhang, den sie dann auf den Garderobenständer in der Eingangshalle hängte. Die Zofe verbeugte sich höflich und verschwand. Mit den Briefen in der Hand wartete Alex in der Halle und fragte sich, mit wem Rupert wohl beschäftigt war, denn sie hörte Männerstimmen aus dem Salon.

»Ich dachte, wir würden heute Abend zu Champagner Charlie gehen. Wir sind schon seit Monaten nicht mehr dort gewesen. Sie wird glauben, dass wir vom Angesicht der Erde verschwunden sind.«

Aber das ist doch Christophers Stimme. Sie trat einen Schritt näher zur Tür. Dann hörte Alex, wie ihr Bruder aufstöhnte. »Nicht zu Charlie. Können wir nicht zu Whites gehen oder zu Watier?«

»Bei Whites habe ich in letzter Zeit so viel Geld gelassen, dass ich zu einem leichten Ziel geworden sind. Bei Charlie könnte sich mein Glück wenden, lass es uns einmal versuchen.«

»Nun ja, solange wir nur spielen und sonst nichts... dort tun...«

»Du kannst nur für dich selbst sprechen. Was zum Teufel ist nur mit dir los? Du willst mir doch nicht etwa sagen, dass deine Frau dich an einer kurzen Leine hält?«

»Eigentlich nicht, Kit. Sie schert sich einen Teufel darum, wohin ich gehe und was ich tue, solange ich sie befriedige, bevor ich gehe - und nachdem ich zurückkomme.«

»Und du beklagst dich?«, fragte Kit.

»Eine allnächtliche Pflicht kann sehr ermüdend sein. Wir können uns ja bei Charlie treffen.«

»Warum kann ich nicht einfach auf dich warten?«

»Ich weiß nie, wie lange es dauern wird, sie ist einfach unersättlich.«

Kit lachte laut auf. »Himmel! Und sie muss zufrieden gestellt werden!«

Alexandra wäre am liebsten im Boden versunken, als die beiden Männer aus dem Salon kamen und ihr dabei fast die Tür ins Gesicht geschlagen hätten.

»Alex, wie nett, dich zu sehen. Wie geht es dir, Zwerg?«, fragte Kit liebevoll.

»Ich... mir ist kalt. Ich habe einen Spaziergang im Schnee gemacht.« Ihre hochroten Wangen straften ihre Worte Lügen. Sie vermied den Blick ihres Bruders und versuchte, einen Scherz zu machen. »Ich habe dir deine Post gebracht, Rupert. Du musst den Leuten, die dir Mahnungen schicken, deine neue Adresse mitteilen.«

Niemand lachte. »Nun, ich wollte gerade gehen. Werde ich die Freude haben, dich in der nächsten Woche bei der Eröffnung der neuen Oper im Covent Garden zu sehen?«, wollte Kit wissen.

»Vielleicht«, gestand sie ausweichend.

Christopher griff nach ihrer Hand und zog sie an seine Lippen. »Unerreichbare Frauen sind unwiderstehlich. Gute Nacht, Alexandra.«

Als sie mit ihrem Bruder allein war, begann sie schnell zu reden. «Wir haben dich seit der Hochzeit nicht mehr gesehen.«

Rupert, der seine Post durchsah, erklärte spöttisch: »Du wirst schon bald eine Einladung zum Essen bekommen.«

»Ja.« Alex hielt den Umschlag hoch. »Ich wollte gerade den Hardings unser Bedauern mitteilen.«

Rupert riss einen Brief auf, dann runzelte er die Stirn. »Das hier ist nicht für mich, der Brief ist für Dottie.«

Alex steckte ihn in ihre Tasche, dann sah sie Olivia, die gerade nach Hause gekommen war.

»Oh, hallo, Alexandra. Wolltest du gehen?«

»Eigentlich ja«, antwortete Alex schnell.

»Tut mir Leid, dass wir dich nicht zum Essen einladen können, aber Rupert und ich haben schon etwas anderes vor.« Olivia warf Rupert einen schwülstigen Blick zu.

Alex bemerkte, dass ihr Bruder den Blick kühl erwiderte. »Das verstehe ich«, murmelte sie. Eigentlich verstehe ich es gar nicht. Ich habgeglaubt, dass Rupert dich so liebt, wie du bist... Warum sonst hätte er dich geheiratet?

Ehe Alex zum Berkeley Square zurückkehrte, hinterließ sie dem Butler Dotties Absage. Als sie in die Curzon Street einbog, dachte sie über die Unterhaltung zwischen Rupert und Kit Hatton nach. Offensichtlich wollten sie an einen Ort gehen, der Charlies hieß, um dort zu spielen. Sie hatte noch nie davon gehört, doch sie nahm an, dass es dort noch mehr zu spielen gab als Faro. Trotz ihrer Abscheu vor dem, was sie im Gin Palast gesehen hatte, war ihre Neugier groß, und sie wollte sofort dorthin gehen, um sich ein Bild zu machen. Zuerst jedoch musste sie herausfinden, wo Champagner Charlie war.

Sobald sie zum Berkeley Square zurückgekehrt war, suchte sie nach Sara. »Hast du schon einmal von einem Ort gehört, der Champagner Charlie heißt?«

Sara presste die Lippen zusammen.

»Ich verspreche dir, dass ich dich nicht zwingen werde, mit mir dorthin zu gehen.«

»Es heißt Kings Place Vaulting Akademie und ist in der Pall Mall.«

»Du weißt wirklich viel, Sara. Ich werde Dottie bitten, deinen Lohn zu erhöhen.«

Sara griente. »Die Lady hat gesagt, ich soll Ihnen mitteilen, dass sie heute Abend in ihrem Bett essen wird. Sie hat ein Buch gefunden über Lord Nelsons berüchtigte Affäre mit Lady Hamilton und hat die Absicht, es zusammen mit ihrem Sherry-Auflauf zu genießen.«

 

Am nächsten Morgen schrieb Alex ihren Artikel um. Sie beklagte die fehlende Moral im Land und empfahl notwendige Reformen. Nach dem Essen zog sie ihre Männerkleidung an und lieferte den Artikel mit den Skizzen im Büro des Political Register ab. Für ihre Bemühungen erhielt sie sieben Schilling und wusste, dass das ein guter Preis war.

»Der verdammte Regent hat alle Karikaturen von sich verboten, indem er Karikaturisten wie Cruickshank bezahlt hat. Die Leute wollen Geschichten über Prinny. Zeichnungen, die seine Erhabenheit lächerlich machen, würden die Auflagen steigern. Sehen Sie zu, was Sie tun können.«

Alex wusste, dass es leicht verdientes Geld wäre. Sie versprach dem Herausgeber, William Cobett, eine Karikatur zukommen zu lassen. Jetzt, wo sie Geld in der Tasche hatte, würde sie zu Champagner Charlie gehen und spielen. Es war jedoch nicht das Spiel, das sie anzog, sondern das, was sonst noch dort vorging. Pall Mall war eine vornehme Gegend, und sie war sicher, dass sie dort nichts Schlimmes entdecken würde.

Alex legte eine gespielte Lässigkeit an den Tag, als sie am späten Nachmittag Champagner Charlies Club betrat. Das Erste, was sie bemerkte, war die luxuriöse Umgebung. Außerdem sahen die Frauen, denen sie begegnete, ganz und gar nicht so aus wie die Prostituierten, die sie auf den Straßen von London oder im Gin Palast gesehen hatte. Sie waren wunderschön und gut zurechtgemacht und die meisten lachten und sahen glücklich aus.

Zwei Frauen, die sich miteinander unterhielten und offensichtlich über einen Spaß lachten, sahen zu dem jungen Mann hin, der gerade gekommen war. Sie schienen sich einig zu sein, und die jüngere von ihnen näherte sich Alex und lächelte ihn strahlend an. »Hallo, Liebling. Du bist kein Stammkunde, aber ich hoffe, das wird sich ändern. Mein Name ist Reggie, willkommen bei Charlie.«

»Das ist ein Jungenname«, platzte Alex beunruhigt heraus.

»Nun, wenn man aus Charlotte Charlie machen kann, kann aus Regina auch Reggie werden.«

»Ah, ja, mein Name ist Alex...« Sie hielt sich gerade noch zurück, denn beinahe hätte sie Sheffield hinzugefügt.

»Sicherlich hat uns ein gemeinsamer Freund empfohlen, wie?«

»Ja, ja«, gab Alex nervös zu. »Kit Hatton.«

Wieder erhellte ein Lächeln Reggies Gesicht. »Du kennst die Zwillinge, die Doppelschwanz-Brüder? Nun, jeder Freund von Harm und Hazard ist ganz sicher auch mein Freund!«

Die Doppelschwanz-Brüder? Alex war sprachlos. Als Reggie nach ihrer Hand greifen wollte, versteckte Alex sie schnell hinter dem Rücken, denn ihre Hände waren schlank und weiblich. »Ich bin gekommen, um zu spielen«, erklärte Alex schnell. Und als ihr die doppelte Bedeutung aufging, fügte sie schnell hinzu: »Karten zu spielen, aber vielleicht sehen wir uns ja später.«

»Das hoffe ich, Liebling, aber ich will dich warnen. Wenn erst einmal der Abend kommt, ist es hier ziemlich voll, und ich bin vielleicht nicht mehr zu haben.«

»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Alex.

Das Kartenzimmer war genauso luxuriös eingerichtet wie der große Empfangssaal, nur gab es dort keine Spiegel. An den Wänden hingen Bilder von Nymphen in verlockenden Posen. Zweifellos verleiht das dem Haus ein gewisses Flair, dachte Alex zynisch, als sie sich an den Tisch setzte, an dem vingt-et-un gespielt wurde. Der Kartenausteiler war eine äußerst attraktive Frau, die nicht mehr ganz jung war. Alex war darüber erfreut, wenigstens wurden ältere Frauen in diesem Club nicht diskriminiert.

Sie reichte dem Austeiler fünf ihrer schwer verdienten Schillinge, und als sie dafür nur einen einzigen Chip erhielt, versuchte sie, nicht zu erröten. Glücklicherweise hatte Alex sofort Glück und verzehnfachte die Anzahl ihrer Chips. Sie spielte weiter, und wann immer einer der sechs Männer am Tisch verlangte, dass die Karten neu gemischt werden sollten, sah sie sich in dem Raum um. Es war noch immer Nachmittag, aber bereits jetzt war der Raum über die Hälfte voll von Männern, die über zu viel Geld zu verfügen schienen. Die meisten spielten nachlässig und genossen den üppig fließenden Alkohol, und weil Alexandra sich auf das Spiel konzentrierte und ihre Sinne beisammen hielt, hielten sich ihre Verluste in Grenzen, und ihr Stapel mit Chips wuchs ständig.

In dem Raum gab es keine Uhr, aber sie hatte schon einige Stunden gespielt und glaubte, dass es etwa sechs Uhr sein musste, als eine Frau den Raum betrat. Sie war wunderschön, mit champagnerfarbenem Haar, das zu einem kultivierten französischen Knoten frisiert war. Sie trug ein tief ausgeschnittenes zobelfarbenes Abendkleid, und um den Hals und an den Gelenken glänzten Topase. Alex hatte eine Idee, wer sie war, bevor sie Freundlichkeiten mit den Männern austauschte, die sie Charlie nannten. Alex verspürte einen Anflug von Neid, gemischt mit Eifersucht, weil sie annahm, dass diese Frau Nick Hatton kannte... sehr wahrscheinlich im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein junges Mädchen in einem mit Rüschen besetzten kurzen Rock wurde mit lautem Jubel begrüßt, als sie zu einem Sideboard ging und einen Nachttopf daraus hervorholte. Alex starrte ungläubig auf das Mädchen, das ihn zum Spieltisch trug, an dem sie saß. Die Blondine reichte ihn einem Gentleman, der rechts neben Alex saß und sofort aufstand und sich erleichterte. Alex blickte in den Topf und entdeckte ein Paar Augen, das auf den Boden gemalt war. Ein Auge war geschlossen, als zwinkere es ihr vielsagend zu. Sie stand sofort auf und hätte dabei beinahe ihren Stuhl umgeworfen. Der Kartenausteiler löste ihre Chips ein und schob ihr den Gewinn zu. Alex nahm das Geld und floh.

Als sie durch die belebte Eingangshalle eilte, wurden ihre Schritte langsamer, und sie schalt sich, weil sie ein solcher Feigling war. Sie war hierher gekommen, um etwas über die Prostituierten zu erfahren, die in diesem hochklassigen Club arbeiteten, und falls sie nicht mit einer der Frauen, die hier arbeiteten, eine Unterhaltung begann, würde sie gar nichts erfahren. Sie nahm all ihren Mut zusammen, setzte sich auf einen Divan in einem Alkoven und sah sich nach Reggie um. Endlich entdeckte sie sie. Sie trug jetzt ein Kleid aus weißem Musselin, dessen Vorderteil ganz geöffnet war. Darunter trug sie ein dazu passendes Korsett, weiße Strümpfe und entzückende schwarze Strumpfhalter. Als Alex ihr zuwinkte, schenkte Reggie ihr ein strahlendes Lächeln und ging auf sie zu.

»Hattest du Glück heute Abend, mein Schatz?«

»Außerordentlich viel Glück. Ich habe dreißig Pfund gewonnen!«

Reggie lachte. »Oooh, damit kannst du dir fünf Minuten meiner Zeit kaufen, Liebling.«

»Erlaubst du dir einen Spaß mit mir oder meinst du das wirklich ernst?«, fragte Alex entgeistert.

Reggie setzte sich, schlug die Beine übereinander und streichelte Alex' Oberschenkel. »Jetzt erlaube ich mir einen Spaß mit dir.«

Alex griff nach ihrer Hand und hielt sie fest. »Wie viel bekommst du dafür, wenn... du weißt schon... wenn du einen Mann glücklich machst?«

»Das ist ganz verschieden. Normalerweise bekomme ich einhundert Guineen, es sei denn, du willst die ganze Nacht über bleiben - dann kostet es fünfhundert.«

Alex starrte sie mit offenem Mund an, schloss ihn aber schnell wieder. »Gefällt dir deine Arbeit hier?«

»Nun, es ist ganz sicher besser, als eine verdammte Dienstmagd für einen Hungerlohn zu sein. Eigentlich bin ich ja auch in Diensten, aber meine Arbeitsbedingungen sind besser als die eines jeden anderen in London. Sollen wir in mein Zimmer gehen, Liebling?«

»Ah... ich bin ein wenig knapp.«

»Oooh, Liebling, mach dir deswegen keine Sorgen, Männer gibt es in allen Formen und Größen. Deswegen musst du nicht schüchtern sein.«

»Nein, nein, ich meine, ich bin ein wenig knapp bei Kasse«, erklärte Alex zögernd.

»Oh, ich verstehe.« Reggie lacht gut gelaunt. »Nun, Liebling, komm wieder, wenn du genug Geld zusammengekratzt hast.«

Benommen ging Alex zum Berkeley Square zurück. Ihre Gedanken über Prostituierte und deren Schicksal waren vollkommen auf den Kopf gestellt worden. Offensichtlich gab es verschiedene Arten von Dirnen. Auch unter ihnen herrschte eine Hackordnung, und die intelligenteren standen an der Spitze des Spieles und profitierten von den Früchten ihrer Arbeit.