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3

 

Um die Mittagszeit waren die meisten Gäste bereits angekommen. Obwohl Alexandra die Leute aus der Nachbarschaft kannte, entdeckte sie noch viele unbekannte Gesichter. Ihre Großmutter stellte sie ihrer Freundin, Lady Spencer, vor, und erst als ein großer, attraktiver junger Mann mit hellem Haar und tiefblauen Augen ihre Hand an seine Lippen zog, begriff sie, wer die beiden waren. Hart Spencer Cavendish war der Enkel von Lady Spencer, der Freundin ihrer Großmutter.

»Ich kann meinen Augen nicht glauben, Dottie. Alexandra ist das Abbild meiner Tochter Georgiana. Mit siebzehn war sie eine genauso große, schlanke Schönheit, mit den gleichen rotgoldenen Locken.«

»Dann ist es nicht verwunderlich, dass mein Vater sich in sie verliebt hat«, erklärte Hart Cavendish galant. Er starrte Alexandra an, und es war offensichtlich, dass dieser langbeinige Rotschopf ihn bezauberte. »Würden Sie mir erlauben, Sie zu begleiten?«

»Mit Freuden, Eure Hoheit.«

»Bitte, Sie müssen mich Hart nennen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass Rupert eine so be/aubernde Schwester hat.«

Alexandra hätte ihn am liebsten mit einer Million Fragen überschüttet. Hier war ein junger Mann, der ganz sicher eine ungewöhnliche Kindheit gehabt hatte. Er war in dem berüchtigten Devonshire-Haus aufgewachsen, mit diesem Kindergesindel, das sein Vater mit Georgiana und seiner Geliebten Elizabeth Foster in die Welt gesetzt hatte. Diese skandalöse menage a trois faszinierte Alexandra ungemein. Sie sah Hart Cavendish voller Verlangen an, sie sah ihn nicht als Mann, sondern als einen unerschöpflichen Quell von Skandalen und Klatschgeschichten, mehr als genug, um ein ganzes Buch zu füllen. Dinge, die er wahrscheinlich über seine Mutter und seine Königliche Hoheit, den Prinzen von Wales, wusste!

»Werden Sie kommen und uns heute Nachmittag bei dem Rennen zusehen?«, lud Hart sie ein.

Alexandra hatte die Absicht, selbst bei dem Rennen mitzumachen, in Reithosen und Stiefeln, doch jetzt wurde ihr klar, dass sie vor Hart Cavendish nicht als unverbesserlicher Satansbraten dastehen wollte, noch nicht. Er war sein ganzes Leben lang von solchen Frauen umgeben gewesen. Offensichtlich bewunderte er sie und wollte Freundschaft mit ihr schließen, und Alexandra begriff, dass es weise war, die Freundschaft mit einem Herzog zu pflegen. Er war ihr entree zu der beau monde.

»Ich würde Ihnen gern bei dem Rennen zusehen«, erklärte Alexandra begeistert und lief nach oben, nicht um Hosen anzuziehen, sondern ihr hübschestes Kleid aus mit Blütenzweigen besticktem Musselin, mit grünen Bändern, die von der hohen Taille herabwehten und die Aufmerksamkeit auf ihre Brüste lenkten.

Kurze Zeit später bot Christopher Hatton Hart Cavendish seinen neuen Vollbluthengst für das Rennen an.

»Ich muss wirklich sagen, Kit, das ist sehr sportlich von dir.«

»Nicht wirklich«, wehrte Kit ab. »Er ist mir noch zu fremd. Ich bleibe bei meinem Jagdpferd. Es ist besser, wenn man den Teufel kennt, den man reitet, sage ich immer.«

Nicholas, der damit beschäftigt war, sein eigenes Pferd, Slate, zu satteln, stellte fest, dass sein Zwillingsbruder eine Möglichkeit gefunden hatte, sein Gesicht zu wahren, und er war froh darüber. Das Pferd, das zu schlagen war, war ganz sicher Renegade, jetzt konnte er selbst versuchen, zu gewinnen, ohne sich zurückhalten zu müssen.

Die Rennstrecke, die sie ausgesteckt hatten, führte durch den großen Park von Hatton, um den See herum, zum Ufer des Flusses Crane, durch die Wiesen von Hatton Grange und dann durch die Wälder von Longford, sie endete an den Ställen, wo sie auch begann. Die Wiese und der Stallhof waren voller fröhlicher Gäste, die Wetten abschlössen.

Alexandra hörte, wie sich Henry Hatton mit einer Gruppe älterer Männer unterhielt. Sie erkannte John Eaton, einen Cousin von Lord Hatton, der Finanzberater war, und sie kannte auch den pensionierten Oberst Stevenson, der unter dem Generalmajor Arthur Wellesley, jetzt bekannt als Lord Wellington, in Indien gedient hatte und von dem man in letzter Zeit so viel in den Nachrichten hörte. Ihre Unterhaltung drehte sich nur um den Krieg, denn Wellington hatte gerade erst die Schlacht von Victoria in Spanien gewonnen, die ihn näher an Frankreich gebracht hatte, als er es je gewesen war.

»Kein Grund, sich Sorgen zu machen«, erklärte der Oberst. »Wellington hat der Macht Napoleons auf der Halbinsel ein Ende gemacht. Er wird auch die Franzosen schlagen - einen besseren General hat es noch nie gegeben!«

Plötzlich entdeckte Alexandra ihre Großmutter inmitten der Männer. »Verdammte Kriegstreiber, ihr alle! Der arme Kerl mit der Hakennase wird verteufelte Mühe haben, die Franzosen zu schlagen, wenn die Horse Guards ihm Idioten schicken wie General Lightthume und Oberst Fletcher! Er braucht mehr Männer mit eisernen Hoden wie Sir Rowland Hill!«

»Ah, ich habe mir doch schon immer gedacht, dass Sie eine Whig sind, eine Anhängerin der liberalen Partei, Lady Longford«, erklärte einer der Männer. Dotties überdeutliche Sprache wurde aufgrund ihres Alters und großen Reichtums von allen akzeptiert.

»Whigs und Tories, sie pinkeln alle in den gleichen Pott! Solange sie Geld verdienen, ist es ihnen egal, ob England den Bach runtergeht.«

Henry Hatton griente. »Ich habe nichts dagegen, einen Gewinn mit dem Krieg zu machen. Eaton wird dir gern verraten, wie du einige lukrative Verträge mit der Regierung abschließen kannst.«

Dottie verzog das Gesicht. »Was für eine Menge Mist! Ich würde nicht im Traum daran denken, meine Investitionen zu ändern. Sie haben mir über die Jahre tausendfachen Gewinn eingebracht.«

Alexandra entging nicht Lord Hattons berechnender Blick. »Willst du nicht heute Nachmittag Tee und einen Schluck Brandy mit mir trinken, Dottie? Es gibt da eine bestimmte Sache, über die ich gern mit dir reden möchte.«

Alexandras Neugier war geweckt, doch in diesem Augenblick fühlte sie, wie die Erde unter den Hufschlägen der näher kommenden Pferde bebte. Sie bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menschenmenge und beobachtete den Höhepunkt des Rennens. Zwei Pferde führten Kopf an Kopf weit vor allen anderen. Eines war schwarz, das andere grau. Nick Hattons Pferde waren schon immer grau gewesen, so lange sie sich erinnern konnte. Das Pferd, auf dem er jetzt ritt, hatte er selbst gezüchtet. Wenn Alexandra eine Million Pfund besessen hätte, hätte sie sie ohne Zögern auf den Grauen gesetzt, doch mit dem Pferd hatte das nur wenig zu tun. Es war der Mann, der den Grauen ritt, auf den sie ihr Geld gesetzt hätte.

Die Pferde waren jetzt genau zu sehen. Sie waren einander ebenbürtig, und ihre Muskeln unter dem seidigen Fell drängten mit brutaler Kraft nach vorn. Die Tiere waren gleich gut, sie lagen Kopf an Kopf, und es sah so aus, als würde das Rennen unentschieden enden, doch Alexandra wusste es besser. Sie hob den Blick zu dem Mann auf dem Grauen und sah, dass er den Mund zu einem Lächeln verzog, ein Lächeln, das ihr verriet, wie sehr Hazard Hatton das Rennen genoss. Ein Schauer rann über ihren Rücken, als sie erkannte, dass seine männliche Kraft die Kraft des Tieres unter ihm dominierte und sich zu Nutzen machte. Dann stürmte sein Pferd im Triumph über die Ziellinie, vor dem schwarzen Vollbluthengst, den Hart Cavendish ritt.

Alexandra war gefesselt von dem Anblick, den Nick bot. Ihr Herz schlug genauso schnell wie das seine. Nick einfach nur zu beobachten, erregte und begeisterte sie, er besaß eine tiefe, unvergängliche Lust am Leben, und er war mehr als jeder andere Mann, dem sie je begegnet war. Das Leinenhemd klebte an seinem Körper, und die Adern an seinem Nacken pulsierten vor Lebensfreude. Sie wusste, dass er nicht unbedingt gewinnen wollte, er konnte es nur nicht ertragen, zu verlieren. Auch wenn er ein Zwilling war, für Alexandra gab es keinen anderen Mann auf der Welt, der so war wie er.

Sie sah, wie Hart Cavendish ungläubig den Kopf schüttelte, dann lachte er laut auf, als er Nick Hatton gratulierte. Alexandra mochte den jungen Mann mit dem hellen Haar sofort, weil er so freundlich war. Mindestens ein halbes Dutzend junger Frauen drängten sich an Alexandra vorbei, um dem Gewinner zu gratulieren und mit den jungen Männern zu flirten, die an dem Rennen teilgenommen hatten. Während die Pferde zurück in die Ställe geführt wurden, drehte sich die ganze Unterhaltung um die Wetten, darum, wer gewonnen hatte und wer bezahlen musste. Jeremy Eaton, ein Cousin zweiten Grades der Zwillinge, hatte sich selbst dazu ernannt, die Geldangelegenheiten zu regeln, und niemand widersprach ihm, da sein Vater Finanzberater war.

»Wenn ich Renegade geritten hätte, hätte ich dich geschlagen«, behauptete Kit seinem Bruder gegenüber.

»Das wäre sehr gut möglich gewesen«, gab Nick großzügig zu.

Alexandra, die die Unterhaltung der Zwillinge mit angehört hatte, fragte sich, ob Nick sich wohl zurückgehalten und Kit hätte gewinnen lassen. Die Hatton-Zwillinge verband ein enges Band, das manchmal schwer zu beschreiben war.

Als Kit und Rupert ihre Pferde den Stallburschen der Hattons übergaben, schlugen sie vor, im See zu schwimmen, um sich abzukühlen. Die anderen jungen Männer stimmten ihnen zu, und die jungen Frauen begannen zu kichern und zu flüstern, sie hatten vor, den Männern zu folgen und sie zu beobachten.

Alexandra ging zu den Ställen, weil sie wusste, dass Nicholas sein eigenes Pferd versorgen und es nicht dem Stallburschen überlassen würde. Sie sah, wie er den Vollblüter und den Grauen vorsichtig beruhigte und wunderte sich über seine besondere Beziehung zu Pferden. Als sie ihm deswegen eine Frage stellte, griente Nick sie an.

»Mr. Burke sagt, es sei das irische Blut meiner Mutter. Ihre Familie hat auch Pferde gezüchtet, und sie hat die uralten geheimen Rituale praktiziert, die als Pferdeflüstern bekannt sind.«

»Ich habe noch nie etwas über Pferdeflüstern gehört«, gestand Alexandra bezaubert.

»Man lernt das natürliche Verhalten eines Tieres und behandelt es mit Freundlichkeit, anstatt es mit brutaler Kraft zu dominieren.«

»Es scheint wie ein Wunder zu wirken.«

Nicks Lächeln wurde breiter. »Eine ganze Menge Mythen ranken sich um das Pferdeflüstern, doch ich bezweifle, dass es dabei um Magie geht. Ich nehme an, Freundlichkeit wirkt am besten bei Menschen und auch bei allen anderen Lebewesen.«

Sie sah, wie sich seine Muskeln bewegten, als er Slate abrieb. Er hatte wundervolle Hände, und einen Augenblick lang stellte sie sich vor, wie es wohl sein würde, wenn er sie auf ähnliche Art berührte. Bei diesem Gedanken wurde sie schwach. Alexandra sehnte sich danach, ihn zu zeichnen, seine männliche Schönheit auf Papier zu bannen, damit sie ihn immer ansehen konnte, wenn sie den Wunsch danach verspürte. Und sie gab offen zu, dass sie diesen Wunsch in letzter Zeit immer öfter verspürte.

»Wenn du deine alte Reitkleidung getragen hättest, hättest du mir helfen können. Warum hast du dieses hübsche Kleid angezogen?«

»Ich habe mich entschieden, mich an diesem Wochenende wie eine junge Dame zu benehmen und nicht wie ein Satansbraten.«

Seine grauen Augen blitzten belustigt auf. »Ich habe mich schon gefragt, warum du nicht darauf bestanden hast, an dem Rennen teilzunehmen. Das ist eine nette Abwechslung« - er betrachtete anerkennend ihr Kleid -, »aber wie lange wirst du das aushalten können?«

»Bis ich mich langweile, nehme ich an. Du wirst feststellen, dass ich nicht mit an den See gegangen bin, um die Männer zu beobachten, die zur Erbauung der weiblichen Zuschauer ihre Hemden auszogen und im Wasser plantschten.« Alexandra hoffte, dass ihre Worte ihm jegliches Misstrauen nehmen würden, die er ihrer Pläne wegen hatte, die hauptsächlich ihn betrafen.

»Ich frage mich, ob du wirklich langsam erwachsen wirst?« Er betrachtete sie, sein Blick ruhte einen Augenblick auf ihren Brüsten, dann auf ihrem Mund, bis er schließlich ihre kecken Locken betrachtete.

Alexandra glaubte, dass in seinem Blick ein Anflug von Bedauern lag, so als wolle er gar nicht wirklich, dass sie erwachsen wurde.

 

Als Alexandra in ihr Zimmer kam, schob sie als Erstes die Chippendale-Bank am Fuß des herrlichen Bettes weg. Dann rollte sie voller Erwartung den grünen chinesischen Teppich zur Seite. Jawohl! Das Loch ist noch immer da. Es war an der falschen Stelle in die Decke gebohrt worden, ungefähr dreißig Zentimeter von der Mitte des Raumes entfernt. Als der herrliche Kronleuchter schließlich richtig befestigt worden war, konnte man das Loch von unten nicht mehr sehen.

Alexandra kniete sich hin und spähte durch das Loch. Von der fünf Meter hohen Decke hatte sie eine wundervolle Aussicht auf das Zimmer unter ihr. Sie holte ihren Skizzenblock und die Zeichenkohle, warf ein Kissen vom Bett auf den Boden und machte es sich dort gemütlich, während sie auf ihr Modell wartete. Sie brauchte nicht lange zu warten. Nachdem er die beiden Pferde versorgt hatte, brauchte Nick dringend ein Bad. Sie drückte ihr Auge an das Loch und sah, wie er die kupferne Badewanne hinter einem Wandschirm hervorzog. In wenigen Minuten brachten zwei Diener Eimer mit dampfendem Wasser, um die Wanne zu füllen.

Alexandra lag flach auf dem Boden und hielt den Atem an, während Nick begann, sich auszuziehen. Wie gebannt beobachtete sie, wie er ein Kleidungsstück nach dem anderen ablegte. Sie war so gefangen von der Szene, die sich unter ihr abspielte, dass sie ihren Skizzenblock vergaß. Alexandra hatte noch nie zuvor einen nackten Mann gesehen, und sie seufzte auf, zufrieden darüber, dass der erste Mann, den sie so sah, Nicholas Hatton war.

Sein stolzer Kopf, die breiten Schultern und der kräftige Rücken sahen aus wie aus Bronze gegossen. Von hinten gesehen waren seine Hüften schmal, sein Po klein und fest, und seine Beine kräftig und muskulös. Als er sich umwandte, um in das Wasser zu steigen, erkannte sie, dass sein Bauch hart und flach war, doch ihr Blick ging tiefer, mit einer unersättlichen Neugier, die sie nicht leugnen konnte. Zwischen seinen Beinen entdeckte sie ein Nest aus dunklen Locken, das sein Glied zum Teil verbarg. Der Blick, den sie von oben erhaschte, ehe er in das Wasser eintauchte, war zwar nur kurz, doch verriet er ihr, dass seine Größe beachtlich war. Auch wenn der modische Schnitt der engen Hosen nicht viel der Fantasie überließ, so war doch das Glied eines Mannes wesentlich größer als sie es vermutet hatte. Sie fragte sich, ob das allgemein so war oder ob das nur für Nicholas galt.

Für einen Künstler ist sein Körper absolute Perfektion, überlegte sie. Doch dann gewann ihre angeborene Ehrlichkeit die Oberhand. Wem zum Teufel mache ich eigentlich etwas vor? Für eine Frau ist sein Körper absolute Perfektion! Mit rasendem Puls sah sie ihm zu, wie er sich wusch und sein Haar einseifte, dann tauchte er unter, um sich die Seife abzuwaschen, ehe er aus der Wanne stieg und sich mit einem Handtuch abrieb. Plötzlich erinnerte sich Alexandra wieder an ihren Skizzenblock. Sie setzte sich auf und zeichnete mit schnellen Strichen die schlanke, klassische Gestalt des Mannes auf das Papier, die sie so eingehend betrachtet hatte. Sie blickte auf das Blatt und stellte fest, dass dieser nackte Mann in der Tat ein herrliches Geschöpf war.

Noch einmal sah sie durch das Loch und beobachtete, wie er zum Schrank hinüberging. Sie fühlte einen Anflug von Bedauern. Wenn er doch nur nackt bliebe und sich für sie ruhig verhielt. Sie wünschte, er würde sich auf das Bett legen, damit sie jede Einzelheit seines herrlichen Körpers einfangen könnte. In ihrer Phantasie sah sie sich und ihn zusammen auf dem Bett liegen. Mit einem leisen Aufstöhnen rollte sie auf den Rücken, während die Sehnsucht in ihr wuchs. Sie hob die Hand an ihre Brust, die bei diesen Gedanken zu prickeln begann, und berührte ihre hart werdende Brustwarze. Erstaunt über die Reaktion ihres Körpers, fuhr sie sich mit den Fingerspitzen über den Brustkorb, der sich mit ihrem heftigen Atem hob und senkte. Ihre Handfläche ruhte schließlich flach auf ihrem Bauch und sie drückte fest zu, um den Schmerz zu lindern, der sie mit Sehnsucht erfüllte. Unfähig, ihre lebhafte Vorstellungskraft zu zügeln, gab sich Alexandra ihrer lustvollen Fantasie hin.

Am Abend legte Alexandra ihr Kostüm für den Maskenball bereit. Sie hatte zwei verschiedene Kostüme mitgebracht, damit sie ihren einfachen, aber trickreichen Plan ausführen konnte. Sie zog ein weißes Hemd an, das ihrem Bruder Rupert gehörte und wählte dazu eine rehbraune Hose, deren Steg unter den Fuß reichte, damit sie fest saß. Dann schlüpfte sie in die hohen Lederstiefel. Es war gut, dass ihre Beine genauso lang waren wie Ruperts, denn sonst hätte seine Kleidung ihr nicht so gut gepasst.

Als sie die Weste aus Goldbrokat zuknöpfte, presste diese ihre Brüste fest an ihren Körper, und sie wusste, dass die dunkelrote Jacke mit den Schulterpolstern den Rest ihrer weiblichen Rundungen verbergen würde. Es fiel ihr nicht schwer, die Krawatte kunstvoll zu binden, dann versteckte sie ihre kurzen Locken unter der braunen Perücke ihres Bruders. Die Verwandlung war erstaunlich. Selbst ohne Augenmaske hätte man vermutet, dass sie ein junger, modisch gekleideter Mann war.

Obwohl Alexandra nicht wusste, wie Nick gekleidet sein würde, war sie sicher, dass Kit und Rupert identische schwarzweiße Harlekinkostüme gewählt hatten, um die Leute glauben zu machen, sie seien die Hatton-Zwillinge. Sie lächelte, schüttelte den Kopf und fragte sich, wie ihr Bruder nur annehmen konnte, dass die Leute glaubten, er sei Nick Hatton, wo doch seine Schultern so ungewöhnlich schmal waren.

Sie ging nach unten und wusste, dass sie den Test bestanden hatte, als ihre eigene Großmutter sie nicht erkannte. Dottie war in ihrem Kostüm als Nonne leicht zu erkennen, sie hielt das Hörrohr an ihr Ohr, weil ihr ältester Freund und Geliebter, Neville, Lord Staines, der als Friar Tuck verkleidet war, bei ihr war. Der Ballsaal war voller Frauen, die es kaum erwarten konnten, zu tanzen. Alexandra glaubte, Olivia Harding entdeckt zu haben, doch die vielen Variationen mittelalterlicher Frisuren und elisabethanischer Rüschen verwandelten die meisten der eher uninteressanten Frauen in verlockende Fremde. Eine oder zwei Frauen in gepuderten Perücken trugen rote Bänder um den Hals und hatten einen köstlichen französischen Akzent, während eine andere Frau, als Japanerin verkleidet, einen wunderschön bestickten Kimono und einen Fächer aus Elfenbein in der Hand trug.

Die Bibliothek von Hatton Hall war als Kartenzimmer hergerichtet worden, und Alexandra gesellte sich zu den Männern, die sich um die Spieltische drängten. Ihr Blick ging von Rittern zu Piraten, zu Männern in Militäruniformen, während sie herauszufinden versuchte, ob Nicholas sich als Horse Guard verkleidet hatte oder als Husar. Es stellte sich heraus, dass Letzterer Hart Cavendish war, der sie nicht erkannte, und der andere war Olivia Hardings Bruder Henry, der ihr überaus deutlich erklärte, dass von ihm, nämlich von Alexandra, erwartet wurde, dass sie kostümiert war.

Dottie betrat den Raum und gesellte sich zu einer Gruppe von adligen Gästen, zu denen Lady Hortense Mitford, Gräfin Lavinia Bingham und die Herzogin von Rutland gehörten, führende Köpfe der Gesellschaft. George Bingham stand sofort auf und bot Lady Longford seinen Stuhl an. »Dorothy, meine Liebe, möchten Sie sich nicht setzen?«

Dottie hob ihr Hörrohr. »Mist? Haben Sie Mist gesagt, George? Da bin ich vollkommen einer Meinung mit Ihnen, Mist wirkt Wunder im Küchengarten. Natürlich bin ich nicht beleidigt, aber ich denke, Mist ist kein sehr gutes Thema auf einer Gesellschaft, mein Junge!«

Lady Hortense und Gräfin Lavinia schnappten hörbar nach Luft, während Lord Staines vergeblich versuchte, seine Belustigung zu verbergen. Die Herzogin von Rutland sprang sofort in die Bresche und wechselte das Thema. »Haben Sie die Frisur von Annabelle Harding gestern Abend im Theater gesehen? Sie hatte wahrhaftig ein Nest mit einem schwarzen Vogel auf dem Kopf!«

Das Hörrohr ging nach oben. »Sie hatte schwarzen Kot auf dem Kopf? Ich wette, das war eine Verbesserung gegenüber dem Schlachtschiff, das sie zum Marine-Zapfenstreich von Prinz William getragen hat.«

Das deutliche Bild, das Dottie mit ihren Worten zeichnete, ließ die Augenbrauen der Herzogin von Rutland hochschnellen, bis sie beinahe an ihren Haaransatz reichten. Sie begrüßte die Ankunft ihrer Freunde, Lord und Lady Brougham, in dem Kreis, in der Hoffnung, dass sie die Unterhaltung wieder auf eine respektable Ebene bringen würden. Die Gräfin wurde jedoch enttäuscht, als Lady Brougham erklärte: »Wie ich gehört habe, will der Prinz von Wales Prinzessin Charlotte mit einem gigantischen Ball ehren.«

Lady Longford stieß Lady Brougham mit ihrem Hörrohr an. »Ich weiß, wen Sie damit meinen«, erklärte sie vertraulich. »Der Herzog von Cumberland ist dafür bekannt, dass er gigantische Bälle besitzt! War es nicht sogar Ihre Schwester, die uns erzählt hat, dass sie die Größe von Schwaneneiern haben?«

Die Herren fanden das äußerst komisch, die Damen nicht. George Bingham stieß seinen alten Freund an. »Ich beneide dich, Neville, es gibt da einige Spielchen, die ich gern mit einer tauben Nonne spielen würde!«

Alexandra schloss die Augen und betete um Geduld, dann seufzte sie erleichtert auf, als ihre Großmutter das Spielzimmer verließ und sich auf die Suche nach anderen Matronen aus der Gesellschaft machte, um sie mit ihrer verdorbenen Lustigkeit zu quälen.

Eine Gestalt in einem schwarzen Umhang betrat den Raum. Die schwarze Ledermaske und der Schlapphut waren so unheimlich, dass Alexandra niemals den Straßenräuber als Nicholas entlarvt hätte, wenn sie nicht mit angehört hätte, wie er Hart Cavendish verriet, wer er war. Die beiden Freunde setzten sich an den Tisch, an dem Faro gespielt wurde, eines von Nicks bevorzugten Glücksspielen. Alexandra setzte sich auf einen leeren Stuhl neben ihm und nahm lässig die ausgeteilten Karten entgegen.

Sie spielten natürlich um Geld, und Alexandra setzte alles, was sie bei dem Pferderennen gewonnen hatte. Sie sah, wie Nicks lange Finger liebevoll mit den Karten spielten, und bei der Erinnerung an ihre imaginäre Affäre am Nachmittag mit diesem attraktiven Kerl, rann ein Schauer über ihren Körper. Seine schwarze Kleidung machte alles nur noch schlimmer, sie gab seinem dunklen, dominanten Äußeren noch einen Anflug von Gefahr. Seine Nähe machte es ihr unmöglich, sich auf die Karten zu konzentrieren, und sie verspielte ihr Geld. Ehe sie sich versah, waren ihre Taschen leer.

Sie blickte Nick an und sagte mit gespielt heiserer Stimme: »Auf ein Wort, Sir?« Sie schob den Stuhl zurück, stand auf und verließ den Raum.

Nick Hatton murmelte eine Entschuldigung und folgte dem jungen Mann. Als er seine schwarze Ledermaske hob, sah sie, wie seine grauen Augen abschätzend die von Weston geschneiderte Jacke und die Hoby Stiefel betrachtete und daraus schloss, dass sein Partner wohlhabend genug sein musste, um seine Spielschulden zu bezahlen.

»Ich kann nicht zahlen«, erklärte Alexandra mit ausdrucksloser Stimme.

»Ich nehme einen Schuldschein von Ihnen an«, entgegnete Nick.

Alex schüttelte den Kopf. »Es müssten schon Pistolen im Morgengrauen sein!«

Nick betrachtete sie eingehend, er wusste, dass sich jemand einen Spaß mit ihm erlaubte, aber er wollte verdammt sein, wenn er ahnte, wer dieser Kerl war.

Alex hob die Hand und zog die braune Perücke vom Kopf, dann schüttelte sie ihre rotgoldenen Locken.

»Gütiger Himmel, Satansbraten! Du hast mich aber ganz schön übertölpelt!«

Alexandra stimmte in sein Lachen ein, dann setzte sie die Perücke wieder auf und versteckte ihr kurzes Haar darunter. Mit teuflischem Schalk im Blick gestand sie ihm: »Ich werde jetzt in den Ballsaal gehen und mit den Debütantinnen tanzen, bis ihre Herzen höher schlagen. Ich wette mit dir, dass ich es sogar schaffen werde, eine Ohrfeige zu bekommen.«

Nick schüttelte den Kopf, als er ihr nachsah. Sie war wirklich die lebhafteste und lustigste Frau, die er kannte. Wenn sie erst einmal zur Frau herangewachsen war, würde sie großen Schaden anrichten. Sein Blick ruhte auf ihrem wohlgerundeten Po und den langen Beinen in der Männerhose, und sein

Mund wurde trocken bei den erotischen Gedanken, die sie in ihm weckte. Warum um alles in der Welt hatte sein Vater ausgerechnet diese Frau für Christopher ausgewählt und sie damit für ihn unerreichbar gemacht? Die Worte seines Vaters im Sommerhaus der Hardings kamen ihm wieder in den Sinn. »Das ist für dich äußerst spannend, nicht wahr, du Grünspecht? Du begehrst alles, was ihm gehört!« Nicholas wusste, dass er nichts begehrte, was seinem Zwillingsbruder gehörte. Nichts, bis auf Alexandra Sheffield!, spottete die innere Stimme. Tagträume sind etwas für Kinder, sagte er sich und ging zurück in das Kartenzimmer.

 

Alexandra hatte nicht die Absicht, in den Ballsaal zu gehen. Stattdessen ging sie in ihr Zimmer, um sich ihr »richtiges« Kostüm anzuziehen. Sie hatte keine Eile, denn sie wusste, es würde mindestens eine Stunde dauern, bis Nick des Faro-Spiels müde war. Sie zog die Sachen ihres Bruders aus und betrachtete sich im Spiegel. Dann zog sie schwarze seidene Strümpfe an, die ihre langen, schlanken Beine betonten. Wenn sie die schwarzen, hochhackigen Schuhe dazu anzog, würde das äußerst provozierend und skandalös aussehen.

Als Nächstes streifte sie ein Wams aus schwarzem Samt über, das sich so eng an ihre Brüste schmiegte, dass sie darunter nichts anderes tragen konnte. Mit einer Bürste kämmte sie sich das Haar zurück und zog die schwarze seidene Kapuze über den Kopf, bis nichts mehr von ihrem roten Haar zu sehen war. Sie lachte fröhlich auf, als sie sah, wie ihre Ohren sick keck unter der Kapuze abzeichneten.

Sie malte sich die Lippen rot an und drückte mit Zeichenkohle einen schwarzen Punkt auf ihre Nasenspitze. Dann zeichnete sie Schnurrhaare in beide Mundwinkel. Als Nächstes zog sie die mit grünen Steinen besetzte Augenmaske über, durch die ihre grünen Augen katzengleich leuchteten. Schließlich befestigte Alexandra den langen, schwarzen Schwanz an ihrem Hinterteil, hängte den Schwanz über den Arm und zog schwarze Handschuhe über.

Die Wirkung war absolut fabelhaft. Sie posierte vor dem Spiegel, drückte den Rücken durch, dann übte sie einen katzenartigen Gang. Sie war begeistert von ihrem Spiegelbild und ziemlich atemlos angesichts des Wagemuts, den sie brauchen würde, um ihr Schlafzimmer zu verlassen und sich unter die Menschenmenge zu mischen. Sie erinnerte sich, dass auch ihre Großmutter, Lady Longforcf, dieses Kostüm früher einmal getragen hatte. Sie muss zu ihrer Zeit auch ein kleiner Satansbraten gewesen sein, überlegte Alexandra, und sie beschloss augenblicklich, genauso viel Mut zu haben wie es sich Dottie jemals erträumt hatte.