6
Alexandra riss die Augen auf und sah einen nackten Mann und ein riesiges schwarzes Tier über ihr aufragen.
»Alex, was zum Teufel tust du in meinem Bett?« Seine Worte trafen sie wie eiserne Pfeile, sie waren voller Wut und Zorn.
Sie hatte Angst. Sie hatte sich nichts dabei gedacht, in seinem Zimmer auf ihn zu warten. Jetzt erst begriff sie, dass sie in seinem Bett aufgewacht war. »Ich... ich muss eingeschlafen sein, als ich auf dich gewartet habe.«
»Wieso hast du auf mich gewartet? Das ist der Trick einer Dirne! Du besitzt, verdammt, nicht mehr Verstand als ein fünfjähriges Kind!« Lebhafte Erinnerungen an die vergangene Nacht im Stall erfüllten ihn. Es war schwer genug gewesen, ihr im Heu zu widerstehen, hier in seinem Bett war es beinahe unmöglich. Wut war die einzige Verteidigung gegen Alexandras Verlockung.
Der Trick einer Dirne? Alexandra war entsetzt. Würde er ihr eine weitere Lektion erteilen? Sie war sich keiner Schuld bewusst und hatte sich lediglich danach gesehnt, ihn zu trösten und seinen Kummer mit ihm zu teilen. Wie hatte sie nur vergessen können, wie gefährlich er war, wenn sie ihm zu nahe kam? Um ihre Angst vor ihm zu verbergen, ließ sie ihrem Zorn freien Lauf. »Nun, du bist ja schließlich Experte, wenn es um Dirnen geht! In meiner Ignoranz habe ich geglaubt, deine Freundin sein zu können.«
»Eine Dame kommt nicht in das Zimmer eines Mannes und wartet auch nicht in seinem Bett auf ihn, Alex. Das schadet ihrem Ruf.«
»Wenn du dir so große Sorgen um meinen Ruf machst, warum stehst du dann vollkommen nackt vor mir?«, forderte sie ihn heraus.
Nick stieß einen Fluch aus, dann ging er zu seinem Schrank und zog seinen Morgenrock an. Er zündete eine weitere Kerze an und stellte sie auf den Nachttisch, damit er ihr Gesicht sehen konnte. »Alex, du musst doch wissen, dass heute beim Abendessen deine Verlobung mit Kit bekannt gegeben werden sollte.«
»Davon weiß ich nichts.« Sie log, obwohl sie über die Pläne ihrer Großmutter und Henry Hattons genau Bescheid wusste.
Er übte sich in Geduld. »Du kannst doch nicht leugnen, dass Dottie und mein Vater sich schon immer einig waren, dass du Christopher heiratest und Lady Hatton wirst.«
»Die Wünsche meiner Großmutter sind allgemein bekannt, wie kann ich sie also leugnen? Aber du weißt, dass ich ein Jahr lang meine Freiheit in London genießen möchte, bevor ich mich mit einem Ehemann auf dem Land vergrabe.«
»Durch den schrecklichen Unfall von heute hast du ein Jahr Freiheit. Kit kann nicht heiraten, bevor ein Trauerjahr vergangen ist. Aber dir scheint nicht klar zu sein, dass dein leichtsinniges Benehmen deine Zukunft ruinieren kann. Christopher ist jetzt Lord Hatton. Glaubst du etwa einen Augenblick, dass mein Zwillingsbruder, wenn er dich in meinem Bett entdeckt, dich je zu Lady Hatton machen würde ?« Nick zog seine Reithose an. »Ich werde dich jetzt nach Hause bringen, Alex.«
»Ich finde den Weg nach Hause auch alleine!«, fuhr sie ihn an. »Ich brauche keinen Vater und auch keinen Aufpasser, ich bin kein Kind mehr!«
»Dann höre um Himmels willen auf, dich wie ein Kind zu benehmen.« Er warf den Morgenmantel auf das Bett und zog Hemd, Jacke und Stiefel an. »Und sprich nicht so laut«, ermahnte er sie, als er nach ihrer Tasche griff und zur Tür ging.
»Hast du sonst noch irgendwelche Befehle?«, fragte sie schroff.
»Kein einziges verdammtes Wort mehr, Alex!« Der wütende Ton in seiner Stimme sagte ihr, dass er mit seiner Geduld am Ende war.
»Bleib hier, Leo«, befahl er dem Hund, dann schob er sie durch die Tür.
Obwohl sie den stahlharten Griff seiner Hand auf ihrem Arm fühlte, gehorchte sie seinem Befehl und schwieg, während er sie den Flur entlang und die dunkle Treppe hinunterzog in Richtung Hatton Park. Als sie ein Dickicht ereichten, das die beiden Ländereien voneinander trennte, rebellierte Alex und grub die Hacken in die weiche Erde. »Ich weigere mich, einen weiteren Schritt zu machen, ehe wir nicht miteinander geredet haben, Nicholas.«
Er stand drohend vor ihr, entschlossen, sie sicher nach Hause zu bringen, ohne dass irgendjemand wusste, dass sie bis kurz vor Mitternacht zusammen gewesen waren. »Dann lässt du mir keine andere Wahl.« Er hob sie hoch und warf sie über seine Schulter, dann ging er weiter.
Alexandra traten vor Enttäuschung die Tränen in die Augen. So hatte sie sich das nicht vorgestellt. Alles, was sie gewollt hatte, war, ihn in der Stunde seiner Not zu trösten und ihm die Wärme und Zärtlichkeit einer Frau zu geben. Alles, was er wollte, war, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Seine Worte und Taten machten deutlich, dass sie für ihn nichts als ein Ärgernis war. Seine offene Ablehnung bewirkte, dass ihr Herz wehtat. Er betrachtete sie nicht einmal als Frau. Nick Hatton brauchte niemanden, auch sie nicht.
Während er mit großen Schritten vorausschritt, wurde Nicholas klar, dass seine Gefühle für Alexandra vollkommen unpassend waren. Das heftige Verlangen, sie zu beschützen, rührte von der Zuneigung, die er schon immer für sie gefühlt hatte. In letzter Zeit hatte sich seine Zuneigung in Sehnsucht verwandelt, auch wenn er das noch so sehr leugnete. Er hatte die Verantwortung für den Tod seines Vaters auf sich genommen. Das würde Christopher davon abhalten, Alexandra auf irgendeine Weise zu berühren. Nick machte sich keinerlei Illusionen. Die Damen der Gesellschaft, die ihn noch gestern für ihre Töchter umworben hatten, würden wie wilde Bestien über ihn herfallen. Er würde verleumdet, ausgestoßen und zur persona non grata erklärt werden. Er war ein gefundenes Fressen für die Klatschgesellschaft, die Skandale liebte. Während er Alexandra besitzergreifend umfasste, war er sicher, das Richtige getan zu haben.
Nick stellte Alexandra vor ihrer Tür ab, ohne jemanden im Herrenhaus von Longford aufzuwecken. Als sie sicher im Haus war, ging er durch den Wald zurück, der ihre Ländereien voneinander trennte. Als er an der Bibliothek vorbeikam, in der sein Vater in einem Eichensarg aufgebahrt lag, sprach Nicholas ein leises Gebet, dann ging er in sein Zimmer hinauf.
Leo begrüßte ihn mit wedelndem Schwanz, und Nick kraulte ihm liebevoll den Kopf, dankbar für die Zuneigung des Tieres. Er kleidete sich aus und kletterte in sein Bett, während der Hund sich zufrieden auf dem Teppich ausstreckte. Nick verschränkte die Arme hinter dem Kopf und dachte daran, was geschehen war. Langsam entspannte er sich und fiel in einen Traum.
Nick entkleidete sich und riss das Fenster weit auf. Er stützte die Arme auf das Fenstersims, atmete tief ein und warf einen letzten Blick auf die Sterne. Als ersieh nackt auf sein Bett setzte, wurde ihm bewusst, dass er nicht allein war. »Alex«, murmelte er mit rauer Stimme. »Ich wusste, dass du kommen würdest!« Zärtlich legte er die Hände auf ihre Schultern, als sie aus dem Bett aufstand.
»Ich... ich muss eingeschlafen sein, während ich auf dich gewartet habe.«
»Du weißt, du solltest nicht hier sein, mein Liebling. Du solltest an deinen Ruf denken, nicht an mich.«
»Nick, du bist wichtiger für mich als alles andere in meinem Leben.«
Er spürte, wie sie seine Wange berührte und legte seine Hand auf ihre, weil er sich nach körperlichem Kontakt sehnte.
»Nick, ich weiß, dass du es nicht getan hast. Du hast die Verantwortung übernommen, wie du immer Verantwortung für alles in Hatton Hall übernimmst. In meinem Herzen weiß ich, dass du deinen Vater nicht erschossen hast.«
»Still, Alexandra, niemand darf das wissen.« Er griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuss in ihre Handfläche. »Es wird so viel besser sein. Ich muss nicht die Last des Schuldgefühls tragen. Christopher wird das schaffen, wenn es niemanden gibt, der mit dem Finger auf ihn zeigt oder hinter seinem Rücken flüstert.«
»Ganz gleich, wie stark du bist, ich konnte es nicht ertragen, dass du heute Abend allein warst. Lass mich bleiben, Nick, erlaube mir, dich zu trösten.«
Er zog sie in seine Arme und ihre Wange presste sich an sein Herz. Er konnte nicht leugnen, wie sehr er sich nach ihrer Liebe sehnte. Seine Hand streichelte über ihre seidigen Locken, und der Duft ihres Haares erfüllte seine Sinne und raubte ihm fast den Verstand. Er wusste, dass Alexandra noch unberührt war. Er löste ihre Arme und griff nach seinem Morgenmantel, um seine Nacktheit vor ihr zu verbergen. Als sie sich dann wieder in seine Arme schmiegte, stellte er sich vor, dass der schwarze Samt, der seine Nacktheit verhüllte, eine ausreichende Barriere darstellen würde, um sie vor seinem heftigen Verlangen zu schützen, doch Nicholas hatte nicht mit Alexandras unwiderstehlicher Anziehungskraft gerechnet. Sie hob ihm die Lippen entgegen, und sein Mund legte sich sanft auf ihren. Die Gefühle, die sie in ihm weckte, waren so berauschend, dass sein Kuss eindringlicher wurde. Als sie ihre Lippen öffnete, schob er seine Zunge in die heiße Wölbung ihres Mundes und genoss ihren Geschmack und den warmen, sinnlichen Duft ihrer Haut.
»Nicholas, bitte, lass mich dich lieben.«
Ihrer geflüsterten Bitte konnte er nicht widerstehen. Er sank mit ihr auf das Bett, öffnete den samtenen Morgenmantel und zog sie an sich. Sie liebkosten einander, und schließlich entkleidete er sie langsam, erforschte ihren Körper und genoss es, sie zu fühlen. Er streichelte und schmeckte sie, bis sie vor Verlangen aufschrie. Da sie noch unberührt war, durfte er ihr ihre Jungfräulichkeit nicht nehmen. Er schob ihre schlanken Schenkel auseinander und fuhr mit den Lippen über ihre warme, seidenweiche Haut.
Mit einem Ruck wachte Nick auf. Sein hart aufgerichtetes Glied pulsierte schmerzhaft, und sein Körper war mit einem leichten Schweißfilm bedeckt. Er erinnerte sich an jede Einzelheit, selbst ihr Duft nach Jasmin hing noch in den Laken. Himmel, er hatte Alexandra wirklich mit seinem Mund geliebt! Er warf die Decke zurück und empfand Abscheu für seine Lust. Was zum Teufel war nur mit ihm los? Sein Vater war tot, und dennoch war sein einziger Gedanke der, eine Frau zu lieben, die die Braut seines Bruders werden sollte. Er ging zum Fenster und sog die kalte, frische Luft ein. Als er wieder klar denken konnte, hoben sich seine Mundwinkel zu einem sehnsüchtigen Lächeln. »Gott sei Dank war es nur ein Traum, du Lüstling«, flüsterte er spöttisch.
In der folgenden Woche fand Nick Hatton seine Vermutungen bestätigt. Beileidsbezeugungen für Christopher, den neuen Lord Hatton, trafen von allen Seiten ein, während Nicholas kaum eine Karte erhielt. Er war erleichtert, dass die Beileidsbezeugungen, mit denen sein Bruder überschüttet wurde, dessen Laune verbesserten und ihm dabei halfen, sich zusammenzunehmen und die Rolle des leidtragenden, aber pflichtschuldigen Sohnes zu spielen. Obwohl Nick wusste, dass sein Bruder innerlich davor zurückschreckte, stimmte Kit zu, zusammen mit seinem Zwillingsbruder, dem Cousin seines Vaters, John Eaton, und Eatons Sohn Jeremy den Sarg zu tragen.
Die Beerdigung, der die reichen Familien der umliegenden Gebiete beiwohnten, gab der gehobenen Gesellschaft die Möglichkeit, Henry Hatton die letzte Ehre zu erweisen und sich bei dem neuen Baron einzuschmeicheln. Gleichzeitig konnten sie bei diesem Anlass ihre Neugier über den jüngeren Zwillingsbruder befriedigen, der am Tag vor seinem einundzwanzigsten Geburtstag seinen Vater erschossen hatte. Bei einem Unfall, natürlich.
Der Juli ging in den August über, als der Anwalt des verstorbenen Henry Hatton von London nach Hatton Hall reiste, um das Testament zu verlesen. Mr. Burke führte Tobias Jacobs in die Bibliothek, wo kurz darauf auch die Hatton-Zwillinge erschienen.
Der Anwalt stellte sich vor und versuchte, sein Erstaunen darüber zu verbergen, dass die beiden Männer sich sehr ähnelten. Während er sich noch fragte, welcher der Zwillinge wohl der Erbe sein mochte, deutete er auf die schwere, ledergebundene Akte und fragte: »Darf ich mir die Freiheit erlauben, den Schreibtisch Ihres Vaters zu benutzen?«
»Meinen Schreibtisch«, korrigierte ihn Christopher. Er deutete lässig auf den Schreibtisch aus Mahagoni. »Bitte, bedienen Sie sich.«
Jacobs räusperte sich. »Danke, Lord Hatton.«
Die Zwillinge setzten sich und warteten geduldig, während eisernes Schweigen den Raum erfüllte. Jacobs schob seine Papiere hin und her und räusperte sich ein paarmal, ehe er die Stimme wiederfand.
»Lord Hattons letzter Wille unterscheidet sich in vielen Dingen von der Norm. Ich werde Ihnen alles erklären. Für einen Mann seines Reichtums und seiner Stellung ist es üblich, dass er diejenigen bedenkt, die ihm ein Leben lang gedient haben. Als ich ihn darauf aufmerksam machte, dass er dies übersehen hatte, versicherte mir Ihr Vater, dass dies nicht der Fall sei. Er bestand darauf, der Dienerschaft einen angemessenen Lohn zukommen zu lassen, und ich konnte ihn nicht davon überzeugen, für Sie zusätzlich noch eine bestimmte Summe vorzusehen.« Jacobs räusperte sich erneut und blickte über seine Brille zu Christopher Hatton. »Sie können das natürlich auch nachträglich noch richtig stellen.«
Der Anwalt griff nach einem weiteren Schriftstück und las vor:
»An meinen geliebten Sohn und Erben, Christopher Flynn Hatton, gebe ich meinen Titel als Baron weiter. Christopher vererbe ich auch das Herrenhaus und den großen Park von Hatton, mit allen Besitztümern und dem Land.« Jacobs holte tief Luft, ehe er weitersprach. »An Christopher übergebe ich auch alle meine Finanzen, die ich in der Barclays Bank hinterlegt habe und alle Investitionen, die in meinem Namen von John Eaton, meinem Finanzberater und einzigen Treuhänder dieses Testaments getätigt worden sind.«
Jacobs räusperte sich noch einmal, während er nach einem weiteren Blatt Pergament griff. Seine Hand zitterte ein wenig, und das Papier raschelte.
»Christopher vererbe ich auch die Pferdezucht von Hatton Grange, seinen Viehbestand und alle dazugehörigen Ländereien.«
»Sie irren sich, Jacobs«, unterbrach ihn Christopher. »Ich glaube, mein Vater hat Hatton Grange meinem Bruder hinterlassen.«
Nick saß wie erstarrt da, eine kalte Hand schien nach seinem Herzen zu greifen. Ehe Jacobs den Mund aufmachte, wusste er bereits, was der Anwalt sagen würde.
»Nein, Lord Hatton, das ist kein Fehler. Ihr Vater hat Hatton Grange Ihnen hinterlassen, seinem Erben.« Tobias Jacobs ließ das Pergament fallen und hob entschuldigend beide Hände. »Es ist üblich, dass, wenn der ältere Sohn den gesamten Besitz von seinem Vater erbt, der jüngere das mütterliche Erbe bekommt, das sie mit in die Ehe gebracht hat. Ich rede hier von dem Stadthaus in der Curzon Street in London, das ein Teil der Mitgift von Kathleen Flynn war. Doch wieder einmal ist der verstorbene Lord Hatton von dem konventionellen Weg abgewichen. Er hat auch das Haus in der Curzon Street seinem Erben Christopher hinterlassen.«
Wieder blickte Jacobs über den Rand seiner Brille, dann ging sein Blick zum Testament. »Dies sind die Worte Ihres Vaters: >Ich hinterlasse meinen Landbesitz und meinen persönlichen Besitz meinem erstgeborenen Sohn, Christopher Flynn Hatton« Er stand vom Schreibtisch auf und sah von einem Zwilling zum anderen. »Ich werde Sie jetzt allein lassen. Wenn ich zurückkomme, werden gewisse gesetzliche Formulare, Dokumente und Übertragungsurkunden von Ihnen unterschrieben werden müssen, Lord Hatton.«
Als die Zwillinge allein waren, brach Christopher in lautes Lachen aus. »Der Alte hat mich also doch nicht gehasst!«
»Nein, Kit, er hat dich geliebt.« Auf seine eigene, merkwürdige Art.
»Und gegen dich hat er ganz sicher etwas gehabt. Bis zu seinem Ende hat er dich für den Tod unserer Mutter verantwortlich gemacht. Ich kann es noch nicht begreifen... er hat mir alles hinterlassen und dir gar nichts!«
»Mein Name erscheint nirgendwo in dem Testament. Er hat ihn nicht erwähnt, so als gäbe es mich gar nicht.« Nick war benommen, obwohl er plötzlich begriff, dass sein Vater noch vom Grab aus Unfrieden stiftete. Was er getan hatte, hatte er mit der Absicht getan, das gute Verhältnis zwischen seinen Söhnen zu zerstören. Zu Lebzeiten war es ihm nicht gelungen, einen Keil zwischen die beiden zu treiben, daher war das Testament die letzte Möglichkeit, dies nachzuholen. Nick biss die Zähne zusammen. Niemals würden die teuflischen Methoden seines Vaters dazu führen, sie beide auseinander zu bringen.
»Wenn das Herrenhaus, Hatton Grange und das Haus in der Curzon Street jetzt mir gehören, wo zum Teufel wirst du dann leben?«, fragte Kit.
»Vielleicht bei Champagner Charlie«, antwortete Nick leichthin.
Kit brüllte vor Lachen. »Ich mache doch nur Spaß! Das Herrenhaus von Hatton läuft vielleicht auf meinen Namen, aber es wird auch immer dein Zuhause sein, Nick.«
»Danke, ich werde dein großzügiges Angebot annehmen.«
»Und ich werde dir natürlich auch ein monatliches Taschengeld zahlen.«
Nicholas, ein Meister im Verbergen seiner Gefühle, zuckte innerlich bei den Worten seines Bruders zusammen. Du willst mir ein Taschengeld zahlen? Das ist doch sicher nicht dein Ernst, Christopher? Welche Beleidigung! Der Löwe erhob sein stolzes Haupt und starrte seinen Bruder voller Verachtung an. »Ich bin ein erwachsener Mann, Kit. Gib mir nicht die Rolle eines Bettlers, während du den großmütigen Lord des Herrenhauses spielst, der Almosen verteilt.«
»Verdammt, Nick! Kannst du denn nicht wenigstens einmal so tun, als würdest du meine Eitelkeit befriedigen? Ich habe einfach nur gedacht, dass du auch einmal meine Hilfe brauchen wirst, anstatt umgekehrt.«
Ich habe viel zu viel Stolz und du viel zu wenig. Gott helfe uns beiden, dachte Nick grimmig. Es war so ungerecht. Obwohl er hart gearbeitet hatte, um die Pferdezucht der Hatton Grange zu einem finanziellen Erfolg zu machen, sollte er jetzt nicht an diesem Erfolg teilhaben. Erst im letzten Monat hatte er ein Dutzend edle Wallache an die Horse Guards verkauft und somit dazu beigetragen, Hattons Taschen zu füllen. Kit hatte noch nie einen Finger gerührt, um ihm bei der Arbeit auf der Grange zu helfen, und würde jetzt den gesamten Gewinn bekommen. Die einzigen Pferde auf der Grange waren die Zuchtstuten und die Fohlen, die in diesem Frühjahr zur Welt gekommen waren. Nick hatte sie alle selbst gezüchtet und war sehr stolz darauf. Er hatte Hatton Grange als sein Land angesehen. Dort wollte er sein Haus bauen, wenn er einmal heiratete. Ein spöttisches Lächeln umspielte seinen Mund bei dem Gedanken an eine Ehe. Wer zum Teufel würde einen mittellosen Zweitgeborenen heiraten?
Ein leises Klopfen an der Tür der Bibliothek schreckte Nicholas aus seinen Gedanken. Tobias Jacobs trat räuspernd ein. »Störe ich, Lord Hatton?«
»Natürlich nicht«, antwortete Christopher und ging auf den Schreibtisch zu. »Lassen Sie uns die gesetzlichen Dinge klären.« Er las die Papiere, die Jacobs vor ihm ausbreitete und unterschrieb die Dokumente.
»Ich werde Kopien der Eigentumsurkunden einreichen, damit sie in Ihrem Namen registriert werden können, und hiermit überreiche ich Ihnen die Originale, damit Sie diese in Verwahrung nehmen können.« Die Urkunden, die er Kit überreichte, trugen die offiziellen roten Siegel. »Sobald es Ihnen genehm ist, sollten Sie auf der Barclays Bank vorsprechen, mein Lord. Auch dort werden Sie Ihre Unterschrift leisten müssen. Es wäre ebenfalls ratsam, John Eaton aufzusuchen, der Sie wegen der Investitionen der Hattons beraten wird. Als einziger Treuhänder des Testamentes wird er sicher auf Ihren Besuch warten.«
»Wissen Sie, Jacobs, ich bin ein wenig enttäuscht, dass ich nicht zusammen mit John Eaton als Treuhänder angegeben worden bin«, beklagte sich Kit.
»Ich bin sicher, dass Ihr Vater Sie damit nicht beleidigen wollte, mein Lord. Als der verstorbene Lord Hatton sein Testament machte, waren Sie noch keine einundzwanzig Jahre alt, und er schenkte Eatons Urteil, was die Finanzen der Familie betraf, vollstes Vertrauen.«
Nick runzelte die Stirn. »Ich nehme an, dass John Eaton als Treuhänder bereits eine Kopie des letzten Willens unseres Vaters besitzt?«
»Das nehmen Sie richtig an, Sir«, antwortete Jacobs.
Nicholas fragte sich, wer alles wusste, dass er im Testament seines Vaters nicht erwähnt worden war. Dies würde seinen Ruf als schwarzes Schaf nur noch bestätigen.
Als ihre Geschäfte beendet waren, griff Christopher zur Karaffe mit dem Whiskey und bot Jacobs einen Drink an. Der Anwalt lehnte schnell ab. »Ich gebe mich niemals dem starken Alkohol hin, Lord Hatton. Ich bin sicher, Sie verstehen, dass Männer in meiner Stellung zu jeder Zeit die volle Kontrolle über ihren Verstand behalten müssen.«
Belustigt zog Kit die Augenbrauen hoch und hob das Glas. »Ich weiß ganz sicher zu schätzen, dass Männer in meiner Stellung das nicht nötig haben.«
Jacobs schien ganz und gar nicht belustigt zu sein. Er suchte seine Papiere zusammen, zurrte die Riemen seiner ledernen Mappe fest und ging zur Tür. »Ich wünsche Ihnen einen guten Abend, Lord Hatton.« Mit einer leichten Verbeugung verließ er das Zimmer.
»Humorloser alter Sack! Sein Verstand ist so ausgetrocknet wie eine verdammte Wüste.«
Wohl eher wie dein Hals in letzter Zeit. Nick wusste, wenn er seiner Missbilligung Ausdruck verliehe, würde Kit doppelt so viel trinken.
Kit zwinkerte seinem Zwillingsbruder zu und hob sein Glas in einem respektlosen Toast. »Ich trinke darauf, der Erste zu sein!«
Nicks Mund verzog sich zu einem sarkastischen Lächeln. Dann sagte er ernst: »Es ist schamlos von Vater, dass er Mr. Burke oder Meg Riley in seinem Testament nicht erwähnt hat. Das musst du sofort richtig stellen.«
»Muss ich das?« Christopher trank sein Glas leer und griente.
»Ein Erbe anzutreten, macht durstig. Da meine Anwesenheit in der Barclays Bank notwendig ist, werden wir morgen nach London reisen und feiern. Ich werde Rupert einladen, damit er mit uns kommt. Ich habe definitiv das Bedürfnis, die Trübsal von Hatton Hall abzuschütteln.«
»Nicht morgen. Ehe du nach London reist, solltest du John Eaton aufsuchen.«
»Warum zum Teufel sollte ich das tun?« Kit strich sich das Haar aus der Stirn.
»Es gibt geschäftliche Angelegenheiten zu besprechen.« Nick zwang sich zur Geduld. »Du musst wissen, wie er das Geld der Hattons angelegt hat. Du musst auch wissen, wie viel Geld noch da ist und welche Zinsen er für dein Geld bekommt. Ich glaube nicht, dass Vater jemals über diese Angelegenheiten mit dir gesprochen hat...«
»Die Geschäfte sind mir völlig egal. Wenn du daran so interessiert bist, kannst du ja hingehen und mit ihm reden!«
»Sei nicht so dumm. Es wäre höchst unmoralisch, wenn Eaton deine Investitionen mit mir besprechen würde. Ich habe keinen Penny bekommen. Wie würde es aussehen, wenn ich dein Erbe mit ihm besprechen würde?«
»Du bist derjenige, der dumm ist. Du wirst ganz einfach zu Eaton gehen und dich ihm als der charmante und wohlhabende Lord Hatton vorstellen. Du kümmerst dich um die Geschäfte und ich mich um das Vergnügen!«
Nicholas hielt seine Gedanken und Gefühle zurück, bis er sich in die Abgeschiedenheit seines Zimmers zurückgezogen hatte. Dort ließ er seinem Ärger freien Lauf. Ein großes, gähnendes Loch schien sich in seinem Innern auszubreiten und bis zu seinem Herzen zu reichen. Wieder einmal trauerte er, diesmal um den Verlust seiner Träume und seiner Zukunft. Ein Kratzen riss ihn aus seinen Gedanken, und er ging zur Tür, um Leo reinzulassen.
Im Spiegel erblickte er sein Gesicht. Die grauen Augen, die ihn anstarrten, waren voller Entrüstung. Plötzlich begann er über sich selbst zu lachen. Er war noch immer Nicholas Hatton, und die Geschehnisse der letzten beiden Wochen hatten ihn nicht verändert. Er war der jüngere und stärkere der Zwillinge. Sein Leben lang hatte er dem Schicksal eine Nase gedreht, und auch jetzt würde er damit nicht aufhören. Weder der Tod seines Vaters, noch das Testament konnten daran etwas ändern. Er allein hatte sein Leben im Griff, niemand konnte ihm seine Zukunft nehmen, am allerwenigsten ein toter Mann.
Nicholas goss Wasser in die Schüssel und zog sein Hemd aus. Voller Stolz betrachtete er seinen nackten Körper. Seine Schultern waren zweifellos breit genug, um sich allen Hindernissen in den Weg zu stellen. Er war im Sternzeichen des Löwen geboren und besaß Stolz im Überfluss. Er blickte hinunter zu dem Wolfshund und sprach mit ihm. »Denk daran, es gibt keine ängstlichen Löwen. Sie sind mutig und wild und ertragen alles mit stoischer Würde. Der Löwe steht auf der Bühne des Lebens im Mittelpunkt und senkt niemals sein stolzes Haupt.«
Leo bellte zustimmend, und Nick legte den Kopf zurück und lachte. Als er schließlich in seinem Bett lag und die Arme hinter dem Kopf verschränkte, fühlte er sich, als sei ihm eine große Last von den Schultern genommen worden. Er schwor sich, seine Träume zu vergessen und seine Zukunft zu planen. Plötzlich sah er Alexandra vor sich. Zum ersten Mal gestand er sich ein, dass er nach ihr verlangte und mit dem Gedanken gespielt hatte, sie zu umwerben und vielleicht für sich zu gewinnen. Diesen Traum musste er jedoch vergessen, denn Alexandra würde niemals ihm gehören. Mehr als alles in der Welt fürchtete sie sich davor, die Frau eines mittellosen Mitgiftjägers zu werden. Ihre Zukunft gehörte Kit. Sie war dazu bestimmt, Baroness Hatton zu werden.