An der Front in Frankreich hatte die Royal Horse Artillery keine Zeit, das Weihnachtsfest zu feiern. Die Männer von Hauptmann Nicholas Hatton verfolgten Soults Armee, während andere Divisionen die einfachere Aufgabe erhalten hatten, Bayonne zu belagern.
Langsam aber sicher eroberten sie einen Hügel nach dem anderen und zwangen den Feind, sich zurückzuziehen. Das Gelände bestand aus schwierigen Gebirgspässen und wilden Flüssen, und einige von Nicks Männern ertranken. Er nahm sich seiner Soldaten an so gut er konnte, aber mittlerweile hatte er das Kommando über ein Bataillon von tausend Mann und konnte sich nicht länger um jeden Einzelnen kümmern.
Mit jedem Sieg wurde Nick sicherer, dass das Ende in greifbare Nähe rückte. Er ermunterte seine Männer und verstärkte ihre sinkende Moral. »In jedem Dorf, durch das wir ziehen, entdecke ich mehr und mehr Deserteure aus der Armee des Feindes. Ich kann ihre rasierten Köpfe schon von ferne erkennen. Die Hälfte von ihnen ist barfuß, und eine Armee ohne Stiefel steht kurz vor der Niederlage!
Unsere Pfadfinder nehmen an, dass es mehr als fünftausend Deserteure in der ganzen Gegend gibt. Marschall Soult hat seine letzten Verteidiger zusammengeholt. Er weiß, dass das Ende kurz bevorsteht!«
Die Männer begannen ihm zu glauben. Soults Truppen zogen sich so schnell zurück, dass sie nicht einmal mehr die Zeit hatten, ihre Magazine zu zerstören. Immer öfter drehte sich die Unterhaltung der Soldaten um den Sieg und darum, was sie tun würden, wenn der Krieg vorüber und Napoleon besiegt worden war. Die meisten wollten die Armee verlassen und nach England zurückkehren. Zu Nicks Erstaunen wollten einige Berufssoldaten werden. Ein weiterer Krieg tobte in den Vereinigten Staaten, und der amerikanische Kontinent war für viele von ihnen faszinierend. Nicholas Hatton wünschte sich nichts sehnlicher, als nach Hause zurückzukehren. Wenn der Krieg vorüber war, würde er sein Offizierspatent zurückgeben und die Armee verlassen.
Anfang des neuen Jahrs ging Alex in die Coutts Bank. Dottie war noch immer auf dem Land bei Neville Staines, und Alex beschloss, sich um Dotties finanzielle Schwierigkeiten zu kümmern. Sie erfuhr, dass ihre Großmutter sich fünftausend Pfund geliehen hatte und bereits mit dreihundert Pfund Zinsen im Rückstand war. Sie zahlte das Geld ein, das sie bei Champagner Charlie verdient hatte. Schweren Herzens wurde ihr bewusst, dass "sie noch lange dort auftreten musste, wenn sie den ganzen Kredit und nicht nur die Zinsen abbezahlen wollte. Alex wusste, dass sie gar keine andere Wahl hatte. Dottie hatte die Urkunde für das Herrenhaus von Longford als Sicherheit für den Kredit hinterlegt.
Als sie wieder zu Hause war, war sie überrascht zu hören, dass Kit Hatton ihr eine Nachricht hinterlassen hatte. Es erstaunte sie, dass er sie für den heutigen Abend ins Theater einlud. Er entschuldigte sich dafür, dass er ihr nicht schon früher Bescheid gesagt hatte, doch schien er es kaum erwarten zu können, dass sie ihn begleitete. Sie schrieb ihm schnell ein paar Zeilen, in denen sie seine Einladung annahm und ließ diese dann von einem Lakai zur Curzon Street bringen.
Sie sahen sich ein Stück von Sheridan an, und Alex genoss diesen Abend sehr. Nach der Vorstellung lud Kit sie zum Abendessen ein.
»Ich bin über Weihnachten nach Hatton Hall gefahren, aber es war so trübselig, allein dort herumzulaufen, dass ich es gar nicht erwarten konnte, zurückzukommen.«
Alex fühlte sich geschmeichelt, dass er ihr seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Sie sah den Grund dafür darin, dass er sie zusammen mit Hart Cavendish gesehen hatte. Kit nahm an, dass Hart sich in Konkurrenz zu ihm um ihre Hand bemühte. Sie verbarg ihre Belustigung, machte allerdings auch keine Anstalten, ihn von seiner Vermutung abzubringen. »Ich nehme an, du hast Rupert in letzter Zeit nicht sehr oft gesehen?«
»Nun, während der Weihnachtstage war er mit seiner neuen Familie beschäftigt, aber um ehrlich zu sein, die Ehe hat ihn gar nicht verändert. Sie hat ihn nicht davon abgehalten, mit mir auszugehen. Ich beginne langsam, die Ehe in einem ganz anderen Licht zu sehen.«
Alex beobachtete ihn eindringlich, um zu sehen, ob er seine Worte spöttisch gemeint hatte, aber seine grauen Augen schauten ernst. Ihr Blick ging zu seinen dunklen, dichten Augenbrauen, den hohen Wangenknochen, dann zu seinem kantigen Kinn mit dem tiefen Grübchen. Er ist wirklich einer der bestaussehenden Männer; die ich je in meinem Leben gesehen habe. Wenn ich doch die Ehe in einem anderen Licht sehen könnte.
Ein paar Stunden später in ihrem Traum spielte dieses Gesicht mit den dunklen, dichten Augenbrauen eine überragende Rolle. Er war Alex so nahe, dass sie die Wärme seines Körpers fühlen und den blauen Schatten an seinem kantigen Kinn erkennen konnte. Sie streckte einen Finger aus und legte ihn in das tiefe Grübchen, und dabei rann ihr ein wohliger Schauer über den Rücken. Aber der Mann, der ihre Träume beherrschte, war nicht Kit Hatton, sondern sein Zwillingsbruder Nicholas.
Nick Hatton hatte nur sehr wenig Zeit zu schlafen, geschweige denn zu träumen. Wellington hatte seinen Truppen den Befehl gegeben, weiter vorzurücken, und ihnen versichert, dass ihre nördlichen Verbündeten kurz davor standen, Paris einzunehmen.
Hauptmann Hatton sprach über die Einnahme des nächsten Stützpunkts mit seinen Leutnants. Mont de Marsan war außerordentlich wichtig, denn es diente dem Feind als großes zentrales Lager. Den ganzen Tag über hatte es heftig geschneit, und sie konnten ihr Vorrücken vor dem Feind verbergen. Am späten Nachmittag hatte das Bataillon sein Ziel erreicht und Mont de Marsan erobert. Doch noch ehe Nick die Möglichkeit hatte, den Sieg zu feiern, gab es eine ungeheure Explosion, während Pulverdepots in die Luft flogen und beißender, schwarzer Rauch aufstieg und der Himmel von orange roten Flammen erhellt wurde. Die Anzahl der Todesfälle war groß.
Die Toten lagen zerfetzt am Boden, und die Überlebenden hatten schreckliche Wunden erlitten.
Hatton befahl, ein Feldlazarett zu errichten. Er sammelte die Verletzten ein und brachte sie zur Behandlung, und die ganze Zeit über fluchte er gegen den Gott des Krieges. Die starken Verbrennungen seiner Männer machten ihn ganz krank. Es dauerte nur wenige Tage, bis sie von Wellington den Befehl erhielten, weiterzuziehen. Der große Mann, der unter einer schweren Erkältung litt, ritt durch den Märzsturm, um General Hill die Nachricht von der Stellung von Marschall Soults Truppen zu überbringen. Sie erstürmten die Position des Feindes und zwangen ihn, sich nach Toulouse zurückzuziehen.
Wellington war gnadenlos. In weniger als zwei Wochen hatte er seine Generäle mit ihren Truppen um sich versammelt und ihnen befohlen, Toulouse anzugreifen. Soult entschied sich, zu bleiben und zu kämpfen. Der darauf folgende blutige Kampf hinterließ Verwundete und Sterbende auf beiden Seiten. Hauptmann Nicholas Hatton fühlte eine ungeheure Befriedigung, als er seine Männer kämpfen sah und feststellte, dass sie die defensive Taktik anwandten, die er ihnen beigebracht hatte. Erst spät am Tag wurde es Briten und Franzosen klar, dass Soults Widerstand nutzlos war. Die geschlagene Armee floh.
Nick wandte sich schnell im Sattel um und entdeckte einen Dragoner, der auf ihn zugeritten kam, um ihn mit hoch erhobenem Säbel zu enthaupten. Nick feuerte seine Pistole ab, doch der Franzose griff ihn an und warf ihn aus dem Sattel. Nick war durch den Fall für einen Augenblick benommen, und als er wieder auf die Beine kam, hörte er, wie Slate schrie. Entsetzt starrte er auf den Grauen, der sich am Boden wand, durch ein klaffendes Loch in seinem Bauch drangen die Gedärme. Blitzschnell zog Nick seine zweite Pistole und schoss dem Pferd eine Kugel in den Kopf.
Ehe Nick nach den Zügeln eines der herrenlosen Pferde auf dem Schlachtfeld griff, legte er liebevoll die Hand auf Slates noch immer warme Flanke. Der dicke Kloß in seinem Hals drohte ihn zu ersticken. Er sah sich um und stellte fest, dass der Kampf vorüber war. Die Schlacht war gewonnen, jedoch konnte er sich über den Sieg nicht wirklich freuen. Die Opfer waren hoch, und der Feind war geflohen und hatte Hunderte verwundete Männer zurückgelassen.
Es war bereits Mitternacht, als er sich nach den Männern in seinem Bataillon erkundigte. Während er erschöpft in der Dunkelheit lag, konnte er lange nicht einschlafen. Nick haderte mit einem blutrünstigen und rachsüchtigen Gott. Als ich hierher kam, wurde mir alles genommen, bis auf Slate. Du warst erst zufrieden, als du mir auch ihn noch nahmst! Nick war kurz davor, wahnsinnig zu werden. Dann spürte er, wie eine Veränderung in ihm stattfand. Langsam senkte sich eine große Ruhe über ihn, und seine Gelassenheit kehrte zurück. Die Widrigkeiten des Krieges hatten ihn Dinge gelehrt, die er sonst nirgendwo hätte lernen können. Obwohl er zynischer geworden war, so war doch sein Glaube an sich selbst und an seine Fähigkeiten unerschütterlich, und sein Selbstwertgefühl hatte zugenommen. Er schloss die Augen und träumte von zu Hause und von Alexandra.
»Die zusätzlichen fünf Schillinge in der Woche, die Sie mir seit Weihnachten geben, bedeuten einen himmelweiten Unterschied, Mistress.« Sara machte einen höflichen Knicks.
»Nenn mich doch bitte Alex, und du sollst dich vor mir nicht verbeugen, Sara. Ich bin keine Heilige.« Alex hatte ihr eine Lohnerhöhung versprochen, als sie noch glaubte, dass ihre Großmutter eine reiche Witwe war. Daher hatte sie keine andere Möglichkeit gesehen, als Sara ein wenig von dem Geld zu zahlen, das sie bei Champagner Charlie verdiente.
»Ich wollte nur, dass Sie wissen, wie sehr ich das zu schätzen weiß. Ich bin jetzt in der Lage, für meine Mutter einige Dinge zu kaufen, die für sie Luxus bedeuten und die sie in ihrem ganzen Leben noch nicht bekommen hat.«
»Wie geht es deiner Mutter, Sara?«
»Es ging ihr gut, als ich sie das letzte Mal gesehen habe. Für Maggie war der Winter allerdings nicht so gut. Es geht ihr ziemlich schlecht. Aber heute liegt schon der Frühling in der Luft, deshalb hoffe ich, dass es ihr bald besser gehen wird.«
»Du hast Recht, der Frühling liegt in der Luft. Warum machen wir nicht einen Spaziergang und besuchen die beiden, Sara?«
»Oh, können wir das? Ich werde ihr etwas Tee mitnehmen, er ist so teuer.«
Alex dachte über die hohen Preise der importierten Luxusgüter nach und dankte insgeheim Neville Staines dafür, dass er die Rechnungen vom Berkeley Square bezahlte. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Neville sich schnell von seiner Krankheit erholen möge. Dottie war vor zwei Wochen zurückgekehrt und hatte berichtet, dass er sich recht gut erholt habe, aber erst gestern war sie zu ihm zurückgekehrt, für ein paar Tage nur, wie sie sagte, um ganz sicher zu sein.
Ein blasser Sonnenschein spiegelte sich in den Fensterscheiben der Häuser, an denen sie vorübergingen. Das schöne Wetter hatte die Händler auf die Straße gelockt. Alte Frauen, die Frühlingsblumen verkauften, führten Alex in Versuchung, ihr Geld auszugeben, jedoch widerstand sie ihrem Wunsch, weil sie Saras Mutter lieber etwas Nützliches kaufen wollte. Sie betraten eines der Geschäfte, wo Sara zwei Unzen Tee kaufte und Alex einen Topf Honig erstand. Dann griff sie nach einem weiteren Topf Honig für Maggie Field.
Als sie sich langsam den heruntergekommenen Straßen näherten, warnte Sara: »Es ist besser, diese Sachen zu verstecken, oder sie werden uns von dem ersten Kerl gestohlen, der an uns vorüberläuft.« Sie steckte das Päckchen mit dem Tee in die Tasche, und Alex folgte ihrem Beispiel. Die Häuser schienen noch heruntergekommener zu sein als Alex sie in Erinnerung hatte, und an diesem warmen Tag lag ein unglaublicher Gestank über der ganzen Gegend.
Als sie bei Saras Mutter angekommen waren, erklärte Alex, dass sie beim letzten Besuch die Kleidung ihres Bruders getragen habe. Alle lachten darüber, und als die ältere Frau dann den Tee und den Honig sah, den die beiden ihr mitgebracht hatten, war sie überwältigt. Alex trat ein wenig zur Seite, um Sara und ihrer Mutter ein wenig Privatsphäre zu gönnen. Sie tat so, als hätte sie nichts gesehen, als Sara ihrer Mutter einige Schillinge in die Hand drückte. Sie blieben eine halbe Stunde, dann verabschiedeten sie sich und klopften an die Tür auf der anderen Seite des Flurs.
»Ich habe gehört, dass sie gesagt hat, wir sollen hereinkommen«, meinte Sara. Sie drückte die Klinke herunter und die beiden jungen Frauen traten über die Schwelle. »Hier ist Sara. Geht es dir besser?«
Maggie lag auf einem schmalen Sofa, und sie bemühte sich, sich aufzusetzen. Als sie sah, dass Sara nicht allein war, verschwand ihr Lächeln, und ihre tief eingesunkenen Augen weiteten sich entsetzt. »Nein... nein... bring sie hier weg«, keuchte sie.
„Es ist schon in Ordnung, Mrs. Field. Ich war schon einmal hier mit Sara. Damals hatte ich die Kleidung meines Bruders an.« In einer unbewussten Geste berührte Alex ihr Haar, während Maggie darauf starrte, als könne sie ihren Augen nicht glauben. »Ich habe Ihnen ein wenig Honig mitgebracht.«
»Alexandra... geh weg von mir«, keuchte Maggie.
»Sie hat Angst davor, dass sie Sie mit ihrer Schwindsucht anstecken könnte«, erklärte Sara.
»Sie kennt meinen Namen!« Alex war überrascht. »Maggie, kennen Sie mich oder vielleicht meine Großmutter?«
»Nein!« Die ablehnende Antwort kam zu schnell. Zu schmerzlich.
Maggie Field, du kennst mich. Margaret Field... Margaret... Alex schlug eine Hand vor den Mund, dann glitt die Hand hinunter auf ihr Herz.
»Ihr Name ist Sheffield... Margaret Sheffield, nicht wahr?«
Die Frau sank auf das Sofa zurück. »Geh weg... Sieh mich nicht an!«
Alex trat einen Schritt zurück. »Es tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht aufregen.«
»Wir gehen besser«, meinte Sara.
Alex nickte und folgte ihr aus der Wohnung.
»Ihr Gesicht ist so weiß wie ein Laken. Kennen Sie Maggie?«
»Ich habe sie früher einmal gekannt.« Alex presste die Lippen zusammen. Sie konnte sich nicht überwinden, mit Sara über die Sache zu reden, und musste zuerst einmal ihre verwirrten Gefühle ins Reine bringen.
Nachdem Alex die Slums verlassen hatte und Mayfair erreichte, wurden ihre Gedanken klarer. Als sie am Berkeley Square angekommen waren, wandte sie sich an Sara. »Ich komme nicht mit rein, ich muss noch irgendwo hin.«
Sara zögerte. »Möchten Sie, dass ich mit Ihnen komme?«
»Nein.« Alex schüttelte den Kopf. »Aber trotzdem danke.« Sie ging weiter zur Curzon Street und bog dann um die Ecke in die Clarges Street. Sie wurde von dem ihr bekannten Diener in das Stadthaus ihres Bruders eingelassen. »Ist mein Bruder zu Hause?«
»Das bin ich, Alex, aber nicht mehr lange.« Rupert, gekleidet in sein Ausfahrjackett, kam gerade die Treppe hinunter.
»Du willst ausfahren, das passt perfekt zu meinem Plan.« »Aber leider passt du nicht in meine Pläne. Ich will nämlich zum Frühjahrstreffen im Four-In-Hand-Club.«
»Sie werden wohl ohne dich auskommen müssen«, entschied Alex. »Du musst mich irgendwo hinfahren, Rupert.«
»Muss ich das wirklich, Miss Herrschsucht? Würdest du mir vielleicht sagen, was los ist?«
»Das kann ich dir nicht sagen... es ist etwas, das ich dir zeigen muss.«
Olivia kam aus dem Salon. »Hallo, Alexandra.« Sie sah von einem zum anderen. »Wenn du mit deiner Schwester ausfahren willst, Rupert, dann werde ich auch mitkommen. Eine Ausfahrt in der Kutsche ist das beste Mittel, damit das Baby endlich kommt.«
Alex blickte entsetzt auf Olivias gewölbten Leib. »Nein, du kannst in deinem Zustand ganz unmöglich in einer offenen Kutsche durch die Stadt fahren. Komm, Rupert!«
Während er seiner Schwester durch die Haustür folgte, brachte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: »Du wirst jeden Tag Dottie ähnlicher.«
»Ich fasse das als Kompliment auf.«
Ein Stallknecht reichte Rupert die Zügel, und Alex kletterte ohne Hilfe in die Kutsche.
Als ihr Bruder die Bremse löste, befahl sie: »Nach St. Giles.«
»St. Giles?«, rief Rupert ungläubig. »Ich werde mit meinen Pferden nicht nach St. Giles fahren! Hast du den Verstand verloren?«
»Dann steig aus, ich werde allein fahren.«
Rupert starrte sie an, doch sie hielt seinem Blick stand. »Ich würde dich nicht darum bitten, Rupert, wenn es nicht wirklich notwendig wäre.«
Er sah den Blick in ihren Augen, der ihm sagte, dass er gar keine andere Wahl hatte. »Ich sehe, du meinst es ernst.«
»Ich habe noch nie in meinem Leben etwas ernster gemeint.«
Er bog vorsichtig um die Ecke und warf seiner Schwester einen Blick zu. »Ich habe deinen Artikel im Political Register über die Kletterjungen gelesen.« Er warf einen Blick auf die Straße, dann sah er sie an. »Es ist bewundernswert, eine so ehrenwerte Sache zu unterstützen, Alex, solange du es dir nicht zur Gewohnheit machst.«
Alex hielt den Mund, obwohl es ihr schwer fiel.
Rupert lenkte seine Pferde in die Oxford Street. »Sieh mal, wenn dies hier eine deiner fehlgeleiteten Missionen ist, um einen heruntergekommenen armen Teufel zu retten, dann solltest du vielleicht wissen, dass die Nächstenliebe zu Hause beginnt.«
»Und was willst du damit sagen?«
»Ich denke, es ist an der Zeit, dass du erfährst, dass Dottie nicht die reiche Witwe ist, wie du immer geglaubt hast. Du kannst ihr Geld nicht für die Nächstenliebe verschwenden, denn sie hat nichts mehr.«
»Ich kenne ihre finanziellen Schwierigkeiten. Jeder von uns muss damit umgehen, wie er es für sich selbst am besten findet.«
»Verurteilst du mich etwa, weil ich des Geldes wegen geheiratet habe?«
»O Gott, Rupert, natürlich nicht!« Sie streckte die Hand aus und legte sie auf seine Hand. »Ehe das Jahr vorüber ist, werde ich das Gleiche tun.«
»Verdammt, Alex! Kit Hatton zu heiraten, ist nicht das Gleiche. Ihr kennt euch von Kindheit an. Es war abgesprochen, dass ihr beide einmal heiraten würdet.«
»Bieg in diese Straße hier ein.«
»Sie ist viel zu schmal... Guter Gott, kein Wunder, dass es hier so stinkt... das ist die Rookery. Alex, es war absolut nicht notwendig, mir das hier zu zeigen, du hättest es mir auch einfach nur erzählen können.«
»Halt hier an.«
Rupert fuhr langsamer, die Pferde blieben stehen, als er die Zügel anzog. Er zog die Bremse des Phaetons an, dann hob er resigniert beide Hände, als Alex aus der Kutsche stieg und ihm bedeutete, ihr zu folgen.
Ohne an Maggies Tür zu klopfen, drückte sie die Klinke herunter und betrat die Wohnung. Sie lief zu dem Sofa hinüber und kniete sich vor die Frau, die einen Hustenanfall hatte.
Ihr Bruder war gleich hinter ihr. Er versuchte, seine Abscheu zu verbergen. »Wer ist diese Person?«
»Es ist unsere Mutter, Rupert.«
Erschrockenes Schweigen erfüllte den Raum. Dann trat er einen Schritt zurück. »Du irrst dich, Alex«, murmelte er. »Unsere Mutter ist Mitte vierzig, diese Frau hier ist mindestens schon sechzig.«
»Ich irre mich nicht, Rupert. Ich hole eine Decke und möchte, dass du sie in die Kutsche trägst. Ich werde sie mit nach Hause nehmen.«
Auf dem Weg zurück saß Alex mit ihrer Mutter hinten, daher konnte sie auch keine der Fragen beantworten, die Rupert ihr stellen wollte. Maggie, oder Margaret, wie Alex sie nannte, schien keine Kraft mehr zu haben, um sich zu wehren, als man sie von dort wegbrachte, wo sie lebte. »Bitte, mach dir keine Sorgen. Ich möchte, dass du wieder gesund wirst. Du kannst nicht länger allein leben, jemand muss sich um dich kümmern.«
Als die Kutsche auf dem Berkeley Square anhielt, stieg Alex aus und sprach mit Rupert. »Ich denke, du solltest sie ins Haus tragen.«
»Alex!« Sein Gesicht war kreidebleich, und seine Stimme klang besorgt. »Weiß Dottie etwas von all dem?«
»Noch nicht«, antwortete Alex und wollte nicht daran denken, dass auch ihre Zweifel überhand nahmen.
»Ich werde nicht in dieses Haus gehen! Sie wird mich für die ganze Sache verantwortlich machen... sie wird über mich herfallen!«
»Dottie ist gar nicht zu Hause, sie ist auf dem Land.«
»Was soll ich nur tun, wenn die Hardings das herausfinden?«, murmelte er.
»Du brauchst nicht einmal mit ihnen darüber zu reden. Es ist unsere Sache, ganz allein unsere Sache, Rupert.«
Er trug die zerbrechliche Kranke nach oben, und Alex bat ihn, sie in das hübsche Schlafzimmer zu bringen, in dem er bis zu seiner Hochzeit mit Olivi^ geschlafen hatte. Er versuchte, die Dienerschaft, die ihn mit offenem Mund anstarrte, nicht zu beachten, doch Hopkins folgte ihm nach oben und reichte ihm eine Nachricht.
»Ein Lakai hat dies hier abgegeben, mein Lord. Sie werden zu Hause gebraucht.«
Als Rupert die Nachricht las, breitete sich Erschrecken auf seinem Gesicht aus. »Es ist Olivia... das Baby... ich muss nach Hause. Du wirst mich entschuldigen müssen, Alex.«
Nachdem Rupert gegangen war, nahm Alex Sara beiseite und erklärte ihr, dass Maggie Field ihre Mutter war. Die Zofe war erstaunt über diese Neuigkeit, doch sie war dankbar, dass die Frau, die es ihr möglich gemacht hatte, die Rookery zu verlassen, von ihrer Tochter gerettet worden war. »Was kann ich tun, um zu helfen? Vielleicht sollte ich sie baden?«
»Das Bad kann warten, Sara. Ich denke, sie braucht zuerst etwas Nahrhaftes. Würdest du bitte nach unten gehen und den Koch bitten, etwas warme Brühe und vielleicht etwas Brot und Käse bereitzustellen? Ich werde Ruperts Bett frisch beziehen, und werde mich dann um einen Arzt kümmern.«
Sie hörten, wie unten eine Tür zugeschlagen wurde, dann ertönte eine Stimme. Dottie war nach Hause gekommen, und sie war nicht gerade gut gelaunt. Alex ging nach unten, um sie zu begrüßen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
»Gott sei Dank bin ich wieder in einer vernünftigen Umgebung. Die Nichte von Lord Staines ist gekommen, und bis es mir gelang, sie zu vertreiben, herrschte dort ein kaum kontrollierbares Chaos!«
Hopkins kümmerte sich um Dotties Gepäck und warf Alex einen vorwurfsvollen Blick zu, der ihr sagte: Sie sind daran schuld, wenn Ihre Großmutter der Schlag trifft!
»Wenn ich etwas nicht ertragen kann, dann sind das undankbare Menschen, Parasiten, die sich als weibliche Verwandte verkleiden und wie die Geier niederstoßen, wenn es Gerüchte um eine tödliche Krankheit gibt. Das weckt in einem den Wunsch, ihr Nest zu suchen und ihre Eier zu zerdrücken!« Dottie ging die Treppe hinauf.
Alex folgte ihr. »Wie geht es Lord Staines?«, fragte sie.
Dottie bedachte sie mit einem eindringlichen Blick. »Er ist vielleicht nicht mehr so gesund, wie er einmal war, doch ich versichere dir, er ist noch lange nicht bereit, den Löffel abzugeben.« Sie entdeckte Sara, die sie betroffen ansah. »Warum stehen denn alle hier herum?« Sie hob den Kopf, als sie ein quälendes Husten aus Ruperts Zimmer hörte. Dottie ging hinein und blieb dann wie angewurzelt stehen.
Alex rang die Hände. Das Gesicht ihrer Großmutter sah aus, als sei es aus Stein gemeißelt. Alex leckte sich über die Lippen und öffnete den Mund.
»Lass uns allein«, befahl Dottie, und der Ton ihrer Stimme duldete keinen Widerspruch.
Lange, quälende Minuten lang senkte sich Schweigen über die beiden Frauen, dann flüsterte Margaret: »Verzeihst du mir, Mutter?«
Im nächsten Augenblick nahm Dottie ihre Tochter in den Arm und drängte die Tränen zurück. »Es gibt nichts zu verzeihen, mein Liebes, bis auf die Tatsache, dass du nicht schon viel früher zu mir gekommen bist.«