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16

 

Ein paar Tage vor der Hochzeit bot Alexandra an, Rupert dabei zu helfen, seine persönlichen Sachen zu packen, damit sie in das Haus in der Clarges Street geschickt werden konnten. Sara half ihr, und die beiden Verschwörerinnen sortierten Ruperts Garderobe und suchten Sachen heraus, die Alex für den verheirateten Viscount zu schäbig fand. Als sie damit fertig waren, hatte Alex einen Stapel Männerhemden, Krawatten, Hosen und Jacketts, genug, um sich für jede Gelegenheit zu kleiden.

Rupert warf nur einen flüchtigen Blick auf seine Koffer. »Wo ist meine schwarze Abendkleidung? Hast du sie vielleicht herausgeholt, damit sie gebügelt wird?«, fragte er Sara.

Da Alex wusste, dass Sara nicht gern log, mischte sie sich in die Unterhaltung ein. »Die hast du im Herrenhaus von Longford gelassen, würde ich behaupten, zusammen mit vielen anderen modischen Kleidungsstücken, die du nicht nach London mitbringen wolltest.«

»Mir scheint, dass auch einige Perücken fehlen«, meinte er verwirrt.

»Das wollte ich dir auch noch sagen, Rupert. Wie es scheint, kommen Perücken aus der Mode. Es wird de rigueur, sein eigenes Haar zu zeigen.«

»Das habe ich aber in letzter Zeit bei Almacks gar nicht festgestellt«, meinte er spöttisch. »Bist du sicher, dass du sie mir nicht abgenommen hast, Alex?« »Was sollte ich denn mit Männerperücken anfangen?«

»Es gibt tausend Dinge, die mir bei dieser Frage in den Sinn kommen. Oh, gut, dann werde ich wohl einen Abstecher auf das Land machen müssen. Kit besitzt einen brandneuen Phaeton und ein paar Füchse, die er unbedingt einmal ausprobieren will.«

»Ah, du kannst es wohl kaum erwarten, die Zügel in die eigenen Hände zu nehmen, wie?«

Rupert lachte gut gelaunt. »Du willst mich wohl aufziehen wegen meiner bevorstehenden Heirat, Mistress Schlaukopf. Bald wirst auch du so weit sein.«

Als Alex und Sara allein waren, begann Alex sich umzuziehen. »Ich habe von einem Ort gehört, der Gaunerhäuser genannt wird. Es soll ein Ort sein, an dem Jungen zu Dieben ausgebildet werden. Hast du schon einmal davon gehört?«

»Sicher habe ich das. Auch Mädchen werden dort ausgebildet, doch die Gefahr, ins Gefängnis zu kommen und für einen Diebstahl ausgepeitscht zu werden, ist zu groß, sodass die Mädchen der Prostitution nachgehen, sobald sie alt genug sind.«

»Und wann sind sie alt genug?«

»Mit zwölf oder dreizehn Jahren, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, Miss.«

»Ich will die Wahrheit wissen, Sara, auch wenn sie mir im Herzen wehtut. Diese Gaunerhäuser sollen in einer Gegend liegen, die Kolonie von St. Giles heißt. Wo genau ist das?«

»Das liegt nördlich von Soho, irgendwo in der Nähe der High Street.« Sara machte eine vage Handbewegung.

»Ist das nicht die Gegend, wo du gelebt hast?«

Sara errötete und presste die Lippen zusammen.

Alex drängte weiter. »Du möchtest nicht, dass ich sehe, wo du früher gewohnt hast, nicht wahr, Sara?«

»Nein, Miss. Meine Mutter war so erleichtert, als sie sah, dass ich von diesem schrecklichen Ort weg war und auch von

dem elenden Leben, das die meisten Menschen dort führen. Als ich das Glück hatte, eine Stellung als Zofe in dem wohlhabenden Teil der Stadt zu bekommen, hat sie mir das Versprechen abgenommen, nicht öfter als zwei-oder dreimal im Jahr zurückzukommen.«

»Ich bestehe darauf, diese Gegend zu sehen, ich werde heute dorthin gehen.«

»Das ist kein Ort für eine Lady.«

»Dann werde ich Männerkleidung tragen, und du musst mich Alex nennen.«

»Es wäre besser, wenn Sie sich nicht zu modisch kleiden, denn sonst werden Sie ausgeraubt werden.«

Alex zog die älteste Kleidung ihres Bruders an, und Sara schlang einen schäbigen Schal um ihre Schultern, dann gingen sie zur Charing Cross Road. Je weiter nördlich sie kamen, desto heruntergekommener waren die Straßen. Die Gebäude, an denen sie vorübergingen, wurden zusehends schäbiger. Die Gegend war voller stinkender Gassen und verfallener Häuser. Abgerissene, barfüßige Kinder liefen zwischen abgemagerten Hunden auf den von Ratten heimgesuchten Straßen einher und suchten nach Essensresten. Männer schliefen in den Eingängen der Häuser, und die Mädchen waren betrunken. Es schien, als hätte jede Frau, an der sie vorbeigingen, ein Baby an der Brust, während sie bereits das nächste Kind erwartete.

Alex griff nach Saras Hand und drückte sie. »Es tut mir Leid, Sara. Ich hatte keine Ahnung.« Keine Ahnung, dass es solche Slums überhaupt gab.

»Wenn Hopkins, der Butler, herausfindet, woher ich komme, werde ich entlassen.«

»Ich verspreche dir, dass du immer eine Stellung haben wirst, Sara, und ich werde nicht zulassen, dass Hopkins etwas über dich erfährt. Ich weiß, dass Bedienstete größere Snobs sein können als die Mitglieder der gehobenen Gesellschaft.«

Sara nahm Alex mit in ein heruntergekommenes Gebäude, in dem es Dutzende von Einraum-Wohnungen gab. Der Gestank war entsetzlich. Alex hielt sich die Nase zu und wartete, während Sara an eine ramponierte Tür klopfte. Sie wurde von einer alten Frau geöffnet, und Alex stellte erschrocken fest, dass es sich bei dieser Frau um Saras Mutter handelte, die zwar erst um die vierzig Jahre war, jedoch sehr alt aussah.

»Himmel, du sollst deinen Freund nicht hierher bringen, Liebes!«

Sara nahm den Cockney-l5ialekt ihrer Mutter an und erklärte, wer Alex war. Sie sprach so schnell, dass Alex nur etwa jedes zehnte Wort verstand, obwohl sie fasziniert zuhörte.

Saras Mutter war sauber und das Zimmer ordentlich, ein deutlicher Kontrast zu den anderen Bruchbuden in dem verwahrlosten vierstöckigen Haus.

»Bist du ein Einzelkind?« Alex war neugierig, wie es möglich war, dass Sara aus einer solchen Gegend kommen konnte.

»Nein, meine Mutter hatte sieben Kinder, ich bin das jüngste. Die Jungen sind alle erwachsen und leben nicht mehr zu Hause, der Himmel allein weiß, wo sie sind. Zwei meiner Schwestern sind tot, Gott sei ihrer Seele gnädig.«

»Wer hat dir beigebracht, wie man richtig spricht? Wo hast du das Benehmen einer Dame gelernt, Sara?«

»Von Maggie, die auf der anderen Seite des Flurs lebt. Sie hat mich zu sich genommen, als ich noch ein kleines Mädchen war und meine Mutter so viele Mäuler zu stopfen hatte. Maggie war eine vornehme Frau, die harte Zeiten erlebt hat. Ich habe ihr alles zu verdanken. Ich werde sie Ihnen vorstellen, aber Sie sollten nicht zu nahe an sie herankommen«, warnte Sara. »Sie hat die Schwindsucht.«

Ehe sie gingen, sah Alex, wie Sara ihre Mutter umarmte und ihr etwas Geld gab. Sie würde mit Dottie darüber reden, der Zofe den Lohn zu erhöhen. Dann gingen sie über den

Flur. Maggies Gesicht strahlte, als sie Sara entdeckte, doch Alex fühlte einen dicken Kloß im Hals, als sie die eingefallenen Wangen und tief liegenden Augen der Frau sah, die Sara aus der Hölle errettet hatte.

»Maggie, das ist mein Freund Alex.«

»Wie geht es Ihnen, Sir? Es ist mir eine Freude, den Gentleman kennen zu lernen, der Saras Freund ist.«

Alex verbeugte sich. »Meine Lady, die Freude ist ganz auf meiner Seite.« Alex fragte sich, ob Maggie jemals schön gewesen war. Wenn es so war, dann war das Einzige, was von ihrer Schönheit geblieben war, ihre Stimme. Alex stellte sich vor, dass Maggie früher einmal groß, schlank und elegant gewesen war. Jetzt allerdings war sie dünn und in sich zusammengesunken, als würde sie ihre schmerzende Brust schützen wollen. Alex trat ein paar Schritte zurück, damit die beiden sich allein unterhalten konnten. Wie unerträglich muss dieses Leben für eine Frau sein, die in eine privilegierte Schicht geboren wurde. Wie kann sie das ertragen? Alex zog die sieben Schilling, die sie bei der Zeitung verdient hatte, aus der Tasche und legte sie auf den Kaminsims.

Als sie gingen, deutete Sara auf das vierstöckige Gebäude auf der anderen Seite der Straße. »Das ist das Gaunerhaus - die beiden obersten Stockwerke.«

Alexandra begriff jetzt, dass die Kinder, die zu Dieben wurden, um ihre Stellung im Leben zu verbessern, vollkommen im Recht waren. Da die Gesellschaft sich keinen Deut um sie scherte, hatten sie keine andere Wahl, als sich um ihre eigenen Interessen zu kümmern, ganz gleich, welches Gesetz sie dabei brachen.

»Dort wäre ich auch hingekommen, wenn Maggie Field sich nicht eingemischt hätte.«

»Hast du eine Ahnung, unter welchen Umständen sie hierher gekommen ist?«

Sara schüttelte den Kopf, dann meinte sie: »Ich glaube, ich habe den Platz ihrer Tochter eingenommen, die sie unter tragischen Umständen verloren hat, an denen sie vielleicht selbst schuld war.«

Als die jungen Frauen wieder am Berkeley Square ankamen, war Dottie gerade in der Eingangshalle. Sie warf Sara und der schäbig gekleideten Alex einen missbilligenden Blick zu. »Ich würde gern oben mit dir sprechen, Alexandra.«

Dottie ging in ihr Zimmer4 und Alex hatte keine andere Wahl, als ihrer Großmutter zu folgen. »Als ich dich zuvor in Männerkleidung gesehen habe, habe ich angenommen, dass es eine einmalige Sache sei. Was um alles in der Welt hast du vor, Alexandra?«

»Dottie, ich tue nur das, was ich möchte, ich lerne Dinge über die Welt und schreibe Artikel für die Zeitung. Es gibt so viele Dinge, die richtiggestellt werden müssen! Lass mich dir meinen Artikel über die Kletterjungen zeigen.«

»Ich habe ihn im Political Register gelesen. Er war sehr lobenswert, aber was ist mit dem Buch, das du schreiben wolltest? Eine solche Sache wäre für eine Lady wesentlich angemessener, denke ich, denn du würdest in einem Morgenkleid an deinem Schreibtisch sitzen und schreiben.«

»Die Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe, sind alle Mist! Wir brauchen Reformen und die Regierung tut gar nichts. Meine Artikel werden die Öffentlichkeit vielleicht dazu bewegen, zu verlangen, dass die Regierung Änderungen vorantreibt. Meinen nächsten Artikel werde ich über die Gaunerhäuser schreiben. Wenn ich mich als Mann verkleide, ist es für mich leichter und auch sicherer, durch London zu streifen.«

»Und wenn ich es dir verbiete?« Dottie sah so entschlossen aus wie ein Schlachtross, bereit, Feuer zu spucken.

Alex legte in einer unbewusst flehenden Geste die Hände zusammen. »Oh, bitte, verbiete es mir nicht. Es hat mir die Freiheit gegeben, nach der ich mich gesehnt habe und meine Augen für das geöffnet, was hinter den engen Mauern der gehobenen Gesellschaft geschieht. Es gibt mir das Gefühl, lebendig zu sein und auch etwas Lohnendes zu tun. Es verbreitert mein Wissen und gibt mir eine Bildung, die ich aus Büchern allein niemals bekommen würde.

»Unsinn! Du glaubst, solche Argumente werden mich umstimmen? Du musst aus deiner Zeit hier in London das Beste machen, Alexandra. Du solltest Bekanntschaften schließen und sie dir zu Nutzen machen. Männer fühlen sich nicht angezogen von Ladys, die sich einer guten Sache verschreiben, sie betrachten sie als Fanatikerinnen!«

»Ich verspreche dir, ich werde keine Fanatikerin werden! Bitte erlaube mir, diese Seite des Lebens kennen zu lernen, ehe ich mich dazu verpflichte, zu heiraten und mich häuslich niederzulassen.«

»Du wirst mir noch viel mehr versprechen müssen, Alexandra.«

Alex klammerte sich an diesen Strohhalm und war bereit zu verhandeln. »Ich werde dir alles versprechen, was vernünftig ist.«

»Wenn ich dir die Freiheit erlaube, diesem Ruf zu folgen und durch ganz London zu laufen, mit all dem Gesindel und Pöbel, dann möchte ich dein ehrliches Versprechen, dass du im nächsten Jahr Lord Hatton heiratest.«

»Ich... vielleicht will Christopher mich ja gar nicht heiraten!«

»Das ist der größte Unsinn, den ich je gehört habe! Der Mann wählt nicht aus, sondern die Frau. Frauen sind für Männer viel interessanter und faszinierender als umgekehrt. Eine kluge Frau wie du kann jeden Mann um den Finger wickeln und ihn dazu bringen, das zu tun, was sie will.«

»Bist du denn auch bereit, mir die vollkommene Freiheit zu lassen?«

Dottie zögerte. Sie dachte daran, Einschränkungen zu machen, entschied sich jedoch dagegen. »Vollkommene Freiheit, im Austausch für dein Versprechen, Lady Hatton zu werden.«

Flüchtig dachte Alex an Nicholas, ihre erste Liebe. An die Liebe, die jetzt gestorben war. Sie hatte darum getrauert, und jetzt akzeptierte sie, dass eine Ehe mit Christopher unvermeidlich war. »Ich verspreche es dir ehrlich, Dottie.«

»Und ich verspreche dir, dass du es nicht bereuen wirst, Liebling.«

Leutnant Nicholas Hatton fragte sich, ob er es bereute, in die Royal Horse Artillery eingetreten zu sein. Obwohl es eine große Herausforderung war, wusste er, dass er seine Sache bis jetzt gut gemacht hatte und nur sehr wenig bedauerte.

Seine Männer jedoch wurden unruhig, weil das Ende des Monats Oktober bereits abzusehen war und das belagerte Pamplona sich noch immer nicht ergeben hatte. Schließlich entschied sich Leutnant Hatton, die Offensive zu ergreifen und die Dinge voranzutreiben. Die Artillerie besaß einen Überfluss an Schwarzpulver, das bei der Belagerung der spanischen Stadt nicht eingesetzt worden war, und Hatton kam der Gedanke, es zu nutzen. Er suchte nach Freiwilligen und wählte junge, unverheiratete Männer aus.

Am letzten Oktobertag holten sie zwanzig Fässer Schwarzpulver und verteilten sie entlang der äußeren Mauern der Festung. Er befahl den Freiwilligen, eine Eimerkette zu bilden, doch was sie dann von Hand zu Hand weiterreichten, waren keine Eimer, sondern Fässer mit Schwarzpulver. Hatton und Sergeant O'Neil hielten Zündschnüre bereit, und als die Fässer an sie weitergereicht wurden, zündeten sie sie an und warfen sie über die hohe Mauer. Die Männer arbeiteten in einem stetigen Rhythmus, während eine Explosion der anderen folgte und die Luft mit beißendem schwarzem Rauch erfüllte.

Leutnant Hattons Arm war vom Handgelenk bis zur Schulter taub, als er endlich die weiße Flagge der Kapitulation in den Rauchwolken entdeckte. Ein lauter Jubel kam von den Männern und den anderen Soldaten, die sich nach der ersten Explosion versammelt hatten. Als General Rowland Hill die Kapitulation entgegennahm, schritt ein zufriedener Nicholas Hatton die Reihe der mutigen Freiwilligen ab, schüttelte jedem die Hand und murmelte »Gut gemacht.« Diese Worte waren für die Männer das höchste Lob, das sie je bekommen hatten.

Als seine Truppen Pamplona betraten, das durch sein Geschick und die Mithilfe von Sergeant O'Neil gefallen war, war Hatton stolz auf seine Männer. Da sie den besiegten Männern nichts antaten und ihre Lust nicht an den Frauen befriedigten, ignorierte er ihre Plünderungen und war zufrieden, dass sie keine Brände legten. Nick war äußerst erleichtert, dass Pamplona sich ergeben hatte, ohne Verluste bei seinen Männern erlitten zu haben.

Doch das Glück dauerte nicht an. Jetzt, wo Pamplona sicher war, gab General Hill seinen Offizieren den Befehl, ihre Männer an die französische Grenze zu verlegen, um sich dort mit Wellingtons Streitkräften zu vereinen, die eine Schlacht mit der Armee von General Soult führen sollten. Nick befahl seinen Männern, das Lager abzubrechen. Wegen des nicht nachlassenden Regens, der den Boden in einen Morast verwandelt hatte, war es eine enorme Anstrengung, die Wagen, auf denen die Kanonen standen, zu bewegen, ganz besonders in so hügeligem Gelände. Über eine Woche verbrachte Nick täglich achtzehn Stunden im Sattel. Er stieg nur ab, um den Männern zu helfen, die Räder auszugraben, die bis über die Achsen in den Schlamm eingesunken waren, oder ein lahmes Pferd zu versorgen.

Während Hills Armee sich der Grenze näherte, fürchteten die Franzosen die Rache und griffen mit aller Macht an. In einem blutigen Gefecht wurden zwei von Hattons Männern getötet; einer wurde von einem Schuss getroffen, der beide Knochen in seinem linken Bein zertrümmerte. Nick war sofort aus dem Sattel und schiente das Bein notdürftig. Er befahl zwei Rekruten, eine Decke zu holen, in der der verwundete Mann zum Feldhospital getragen wurde. Dann galt seine Aufmerksamkeit den Toten. Er kannte ihre Namen und wusste, aus welcher Gegend von England sie kamen. In den kalten, nassen Stunden vor der Morgendämmerung schrieb er an ihre Familien, versicherte sie seines Mitgefühls und würdigte den Mut der Soldaten.

Als Hills Soldaten die Nivelle erreichten, stellten sie fest, dass der schnell fließende, Hochwasser führende Fluss unmöglich zu überqueren war. Wellingtons Streitkräfte befanden sich auf der anderen Seite und wehrten die Angriffe der französischen Armee ab. Hills Bataillone würden über Sieg oder Niederlage entscheiden. Hill wandte sich an seine Offiziere, um an den Flussufern nach Booten zu suchen, doch ihre Bemühungen waren vergebens. Leutnant Hatton besprach die Lage mit General Hill. »Sir Wellingtons Männer mussten offensichtlich vor uns ebenfalls den Fluss überqueren.«

»Ich würde behaupten, zu der Zeit führte der Fluss noch nicht so viel Wasser wie jetzt.«

»Zweifellos, General. Aber sie haben ihn überquert, und ich schließe daraus, dass die Boote, die sie dazu benutzt haben, noch auf der anderen Seite des Flusses sein müssen.«

»Eine logische Folgerung. Sehen Sie eine Lösung?«

»Ich biete mich an, durch den Fluss zu schwimmen und die Boote zu holen, Sir.«

»Sie wollen durch dieses reißende Wasser schwimmen? Das Risiko ist sehr groß, Leutnant.«

»In Hatton haben wir nicht nur einen See, sondern auch einen Nebenfluss der Themse, der in jedem Frühjahr Hochwasser führt. Bereits mit sieben Jahren konnte ich diesen Fluss durchschwimmen, Sir, und mit acht habe ich es sogar hin und zurück geschafft. Ich werde mich nicht von einem unbekannten Fluss abschrecken lassen, General.«

Nick Hatton unterstellte seine Männer dem Kommando von Sergeant Tim O'Neil, dem er auch seine Pistolen und sein Pferd übergab, dann stieg er in das eisige Wasser des Flusses und begann, gegen die Strömung zu schwimmen. Er hatte den Fluss noch nicht zur Hälfte überquert, als bereits die Kälte in seine Knochen drang, und er begriff, dass die spärlichen Rationen und die langen Tage im Sattel ihm seine ganze Energie geraubt hatten. Aber er wusste auch, dass ihn all die Anstrengungen widerstandsfähig gemacht und seine Muskeln gestärkt hatten, deshalb nahm er das brodelnde, braune Wasser in Angriff.

Als er die Flussmitte erreicht hatte, erinnerte er sich an einen Vorfall aus seiner Jugend: Er schwamm mit seinem Zwillingsbruder und Rupert, als sich Alexandra plötzlich entschied, es auch zu versuchen. Sie sprang in das Wasser und schwamm einige Stöße, bis die wirbelnde Strömung sie nach unten zog. Sofort war er bei ihr, um sie zu retten, doch als er ihren Kopf über Wasser hielt und versuchte, ans Ufer zu schwimmen, schlug sie ihn und rief: »Nein, nein, ich will auf die andere Seite. Hilf mir, dorthin zu kommen, Nick.«

Er lächelte insgeheim, dann betrachtete er mit wilder Entschlossenheit das brodelnde Wasser. Hilf mir, dorthin zu kommen, Alex.

Er fürchtete, dass seine Lungen platzen würden, doch schließlich erreichte er das andere Ufer und zog sich an Land.

Mehr als eine Stunde lang suchte er das Flussufer ab, doch er fand nur ein Skiff und ein kleines Ruderboot. Endlich, als seine Beine vor Erschöpfung zu zittern begannen, entdeckte er vier große, flache, hölzerne Frachtkähne, die zusammengebunden waren. Sein Fund erfüllte ihn mit neuer Energie. Er band das Skiff an die Frachtkähne, schnitt das Seil, mit dem sie am Ufer festgemacht waren, mit dem Messer durch und ruderte langsam zurück. Dabei betete er zu allen Heiligen, dass die Strömung ihm helfen würde. Als er in das Lager zurückkehrte, jubelten ihm nicht nur seine Männer zu, auch die Streitkräfte von General Hill feierten seine wagemutige Tat.

In dieser Nacht wurden im Schutz der Dunkelheit Männer, Tiere und Artilleriegeschütze über den Fluss gebracht, um Hills Streitkräfte mit denen von Wellington zu vereinen. Am folgenden Tag wurde Leutnant Nicholas Hatton zum Hauptmann ernannt. Nick wusste nicht, ob er sich geschmeichelt fühlen sollte, denn jetzt standen viermal so viele Männer unter seinem Kommando.

Wellington war außer sich vor Freude. »Soult hat Schanzen gebaut. Jetzt kann ich mehr Streitkräfte an bestimmten Stellen zusammenziehen als die Franzosen!«

Zum ersten Mal kämpften Hauptmann Hatton und seine Männer in einer Schlacht. Wellingtons Worte stellten sich als gute Vorhersage heraus. Als eine französische Stellung nach der anderen fiel, war Soult gezwungen, seine rechte Flanke zurückzuziehen. Die Engländer besiegten an einem einzigen Tag vier Divisionen und eroberten neunundfünfzig Kanonen. Nur das Wetter hielt Wellington davon ab, den fliehenden Feind zu verfolgen. Da der Fluss unüberbrückbar und der Boden knietief aufgeweicht war, befahl er seinen Soldaten zu warten. Nick entdeckte ein paar verlassene Ruinen, wo sie ihr Lager aufschlugen.

Die Schlacht von Nive dauerte fünf Tage. Obwohl einer von Wellingtons obersten Generälen, John Hope, von den Franzosen gefangen genommen wurde, gewannen die britischen Truppen ständig an Boden. Die Niederlage für die Franzosen kam, als drei deutsche Bataillone desertierten und Soult befahl, seine deutschen Truppen zu entwaffnen. Voller Euphorie feierten die britischen Soldaten den Sieg.

Nicks Freude über den Sieg war nur von kurzer Dauer. Viertausend Gegner waren getötet worden. Als er das Schlachtfeld nach verwundeten Männern absuchte, sah er die abgeschlachteten Körper. Er blickte in die Gesichter der toten französischen Soldaten und sah, wie jung sie noch waren. An eine Siegesfeier war nicht zu denken.

 

Obwohl sie nach dem Standard der gehobenen Gesellschaft eher klein war, waren alle darauf erpicht, die Hochzeit von Olivia Harding und Rupert Sheffield, Viscount Longford, zu feiern. Die Braut trug den traditionellen Kranz und den Schleier, die Brautführerin sah in dem vergissmeinnichtblauen Kleid bezaubernd aus. Auch die Mutter der Braut strahlte in einem braunroten Kleid.

Lady Longford trug ein geschmackvolles graues Kleid und hatte eine hell orangefarbene Perücke gewählt, in der Hoffnung, Annabelle Harding zu verärgern. Als sie aus der Kirche kamen, warf sie einen amüsierten Blick auf das braunrote Kleid der Brautmutter und murmelte dann Lord Harding zu: »Es wäre weiser, wenn sie meinem Rat gefolgt wäre und ein gänsekackegrünes Kleid gewählt hätte.«

Alexandra, die von Harry Harding, dem Trauzeugen, begleitet wurde, fuhr zusammen mit Braut und Bräutigam in der Kutsche zum Empfang. Ich wette, wir wissen alle vier Bescheid über Olivias Geheimnis. Alex betrachtete die Braut und schob das Bild von ihr und Nick Hatton aus ihren Gedanken. Olivia lächelte, als gäbe es nichts auf der Welt, was sie beunruhigen könnte, und so ist es ja auch! Aber in was für eine entsetzliche Lage bringt sie mich; Olivia ist nach der Hochzeit meine Schwester. Alex warf ihrem Bruder einen Blick zu und fühlte sich schuldig für ihre Gedanken. Ruperts Elend lässt meine Lage vergleichsweise unbedeutend erscheinen. Sie fragte sich, warum um alles in der Welt er Olivia geheiratet hatte und kam schließlich zu dem Schluss, dass er eine tiefe Zuneigung zu ihr haben musste. Als Rupert vor dem Haus in der Clarges Street aus der Kutsche stieg, griff Alex nach seiner Hand und drückte sie. »Ich liebe dich, Rupert.«

Die Räume des Stadthauses waren voller Gäste, von denen einige der Zeremonie in der Kirche nicht beigewohnt hatten. Lady Spencer, eine Freundin von Dottie, wurde von ihrem Enkel Hart Cavendish begleitet, der hauptsächlich wegen Alexandra gekommen war. Sein Hochzeitsgeschenk bestand aus wunderschönem georgianischem Silber, auf das das Longford-Wappen eines Stag Couchant eingraviert war.

Rupert war für die moralische Unterstützung durch seinen Freund Kit dankbar. Er war erstaunt über Hattons Großzügigkeit; Kit hatte dem jung verheirateten Paar eine eigene Kutsche geschenkt, und die Karte, die er Rupert überreichte, beinhaltete, dass sich Rupert von Tattersalls sein eigenes Paar zusammenpassender Pferde aussuchen durfte.

Christopher Hatton brachte einen Toast auf das junge Paar aus. Das Hochzeitsgeschenk würde ein großes Loch in sein Bankkonto reißen, aber es würde auch sein Schuldgefühl beseitigen.

Mit gesenkten Augenlidern beobachtete Olivia Kit. Zweifellos war er einer der am besten aussehenden Männer, und seine Nähe ließ ihren Puls schneller schlagen und ihr Herz verrückt spielen. Doch Olivia hatte eine harte Lektion gelernt. Sie ließ sich nicht länger von ihrem Herzen führen, sondern nur noch von ihrem Verstand, Rupert war für sie ein besserer

Ehemann, als Kit Hatton es jemals sein würde. Rupert war gekauft worden, und er würde jeden Tag - und jede Nacht - nach ihrer Pfeife tanzen.

Alexandra stellte fest, dass drei Begleiter um ihre Aufmerksamkeit buhlten. Hart Cavendish hatte keine Schwierigkeiten, Harry Harding beiseite zu schieben, aber es war ihm unmöglich, Kit Hatton zu übergehen. Als es später wurde, legte Hart besitzergreifend den Arm um sie. »Hochzeiten sollen eine anregende Wirkung auf Frauen haben. Fühlst du schon etwas?«, murmelte er frech in ihr Ohr. »Kommst du heute Abend mit mir nach Hause, Liebling?«

Sie lachte ihm ins Gesicht. »Du musst mich mit einer Tänzerin aus der Oper verwechselt haben, wenn du mir eine carte blanche anbietest. Ich habe die Absicht, heute Abend mit Dottie nach Hause zu fahren, aber wenn du dich nach der Begleitung des jungen Master Alex an einem Abend in dieser Woche sehnst, dann werde ich deine Einladung gern weitergeben.«

Kurze Zeit später bat Kit sie, die Feier mit ihm zu verlassen. »Mein Trauerjahr hat mich um die Freude gebracht, heute Abend mit dir zu tanzen, aber ich würde dich gern auf eine lange Ausfahrt in meiner Kutsche mitnehmen, Alexandra.«

»Wie äußerst verlockend, Lord Hatton. Meine Großmutter würde mir allerdings niemals erlauben, zusammen mit dir so kurz vor Mitternacht hier zu verschwinden. Vielleicht ein anderes Mal.«

Zwei Stunden nach Mitternacht lag Rupert mit seiner Braut im Bett. Er dachte daran, dass er es kaum hatte erwarten können, Olivia in ihr Haus in der Clarges Street zu bringen, und wie aufgeregt er vor seiner Hochzeitsnacht gewesen war. Olivia war wesentlich fordernder gewesen, als er es erwartet hatte. In der Tat hatte ihr Appetit nach sexuellen Gelüsten den seinen noch überstiegen. Obwohl er vollkommen erschöpft neben ihr lag, konnte er nicht einschlafen. Er dachte an das Wappen der

Longfords auf dem georgianischen Silber. Der Stag Couchant war so passend. Er hatte nicht nur Hörner, er lag auch - eine Stellung, die er zweifellos immer dann würde annehmen müssen, wenn Olivia es wünschte. Ein Sprichwort, das er einmal von Dottie gehört hatte, kam ihm in den Sinn: Mit Caesars Geld geht auch die Verpflichtung einher, sich Caesars Regeln zu beugen!