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9

 

Schon lange vor Sonnenaufgang war Alexandra aufgestanden und hatte ihre Sachen für London gepackt. Rupert stand mitten zwischen seinen Koffern und Reisetaschen, als sie in sein Zimmer trat. »Würdest du bitte auch mein Gepäck nach unten tragen?«

»Sehe ich aus wie ein Gepäckträger?«, fragte Rupert. »Läute nach einem Diener.«

»Ich kann gar nicht glauben, wie unaufmerksam du bist. Dottie hat vor ungefähr einer Woche einige Bedienstete entlassen, und seitdem gibt es im Herrenhaus von Longford nur noch Mrs. Dinwiddie, unsere uralte Haushälterin, und den alten Ned, der sich um die Pferde kümmert. Aber lass nur, ich werde meine Taschen selber tragen.«

»Aber wer wird meine... Wo zum Teufel willst du hin, Alexandra?«

»Nach London natürlich. Das Haus am Berkeley Square ist voll von Bediensteten, die nichts zu tun haben. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass alle nur für dich da sind, deshalb komme ich mit. Ich vermute, wir werden mit der Kutsche der Hattons fahren?«

»Die transportiert nur unser Gepäck. Wir nehmen die Pferde.«

»Dann gibt es ja genügend Platz für Dottie und mich.«

»Dottie?« Rupert sah sie erschrocken an. »Und was ist, wenn sie auch in London die Diener entlässt?«

»Das sollte dich doch nicht kümmern. Wenn du in London bist, schläfst du sowieso den ganzen Tag und bist die ganze Nacht unterwegs. Außerdem kannst du immer noch in der Curzon Street wohnen, zusammen mit deinem Freund Lord Hatton.«

»Du scheinst für alles eine Antwort zu haben«, erklärte er gereizt.

»Nun ja, wenigstens weiß ich, wer dein Gepäck nach unten tragen wird, Viscount Longford«, erklärte sie übertrieben freundlich.

Gegen zehn Uhr ritt Rupert nach Hatton Hall, doch es dauerte mehr als zwei Stunden, ehe die riesige schwarze Kutsche mit dem Wappen der Hattons in den Hof des Herrenhauses von Longford rollte. Der Kutscher verstaute das Gepäck und wollte Lady Longford in die Kutsche helfen, als diese ihm drohte, ihn mit ihrem Stock zu schlagen. »Treten Sie zurück, Sirrah! Ich bin noch nicht reif für den Friedhof.«

»Ich bitte um Entschuldigung, Ma'am.«

Dottie sah, wie Alexandra ihr Pferd bestieg und kletterte in die gut gepolsterte Kutsche. Sie schob das Fenster herunter. »Du würdest es viel bequemer haben, hier mit mir in der Kutsche zu sitzen. Der lange Ritt nach London wird dich erschöpfen, Liebling. Willst du deine Meinung nicht doch noch ändern?«

Alex lachte. »Es sind sechs Meilen, keine sechzig! Kaum weit genug, um die Pferde ordentlich galoppieren zu lassen.«

Dottie schloss das Fenster und lehnte sich in die ledernen Polster. Wie konnte sie sich mit Alexandra streiten, wo doch diese auf die schlaue Idee gekommen war, nach London zu fahren? Die Schließung des Herrenhauses von Longford für die nächsten Monate würde die Kosten auf ein Minimum reduzieren. Mrs. Dinwiddie und der alte Ned waren die geeigneten Aufpasser, und dazu noch gratis.

Sie kamen auf der Great Western Road gut voran und ihr Weg führte sie an den hübschen Blumengärten im Osterley Park vorbei, deren Duft die warme Sommerluft erfüllte. Sie ritten am Syon-Haus vorüber, einem großen, viereckigen Herrenhaus, das von außen hässlich aussah, jedoch eine wunderschöne Innenausstattung besaß. Als sie die Außenbezirke von London erreichten, mussten sie langsamer reiten, doch die Stadt war für Alexandra so faszinierend, dass sie den langsamen Ritt begrüßte. Der Kutscher bog in die Cromwell Road ein, die nach Knightsbridge führte, und fuhr dann an dem geschäftigen Piccadilly vorbei nach Mayfair. Er blieb vor dem großen Haus am Berkeley Square stehen, sprang vom Kutschbock und ging zu dem Leithengst, um ihn an dem schmiedeeisernen Kutschpfahl vor dem Haus anzubinden. Dann lud er Koffer und Taschen aus und ließ das Gepäck der Hattons für die kurze Fahrt zur Curzon Street in der Kutsche.

»Wo zum Teufel ist der Mann?«, beklagte sich Lady Longford laut. Als der erschöpfte Kutscher vorsichtig auf die Viscountess zuging und einen misstrauischen Blick auf ihren Stock aus Ebenholz warf, schimpfte sie: »Die erste Pflicht eines Kutschers sind seine Passagiere und nicht die Koffer! Sie hätten es nicht gewagt, Henry Hatton so zu behandeln. Geben Sie mir Ihren Arm, Mann, Ihren Arm!«

Alexandra, die inzwischen mit Zephyr zum Stall hinter dem Stadthaus geritten war, hatte den Zornesausbruch ihrer Großmutter nicht miterlebt. Als sie um die Ecke des Gebäudes bog, sah sie, wie Dottie sich schwer auf den Arm des Kutschers stützte. Er übergab sie dem Butler, der Lady Longford an der mit Gold besetzten Mahagonitür bereits erwartete.

»Willkommen in London, meine Lady. Die Dienerschaft und ich freuen uns, Sie zu sehen, und wir fühlen uns geehrt, Ihnen wieder zu Diensten zu sein.«

»Das werde ich schon bald ändern, Hopkins«, erklärte Dottie spöttisch.

Der Butler, der ihre exzentrische Art kannte, verbeugte sich.

Alex schlüpfte hinter ihrer Großmutter ins Haus. »Hallo, Hopkins.«

»Guten Tag, Mistress Alexandra. Viscount Longford wartet bereits ungeduldig auf Sie.«

Sie grinste den Butler an. »Ihn Viscount Longford zu nennen, bedeutet, zu viel Respekt vor Rupert zu haben. Wie können Sie das nur ernst meinen, Hopkins? Und ich versichere Ihnen, es sind seine Koffer, auf die er ungeduldig wartet.«

Als Rupert nach unten gelaufen kam, sagte Alex spöttisch: »Du kommst gerade rechtzeitig, um das Gepäck nach oben zu tragen.«

»Keine Zeit für übermütige Ausgelassenheit. Ich brauche Abendkleidung. Wir sind auf der Bank Hart Cavendish begegnet, und er hat uns eingeladen, heute Abend zusammen mit ihm im Devonshire House zu Abend zu essen.«

»Ich nehme an, du hast auch eine Einladung für Alexandra und mich bekommen?« Dotties Stimme ließ keine Ablehnung zu. Obwohl sie nicht die Absicht hatte, hinzugehen, war die Einladung doch wichtig für sie.

»Ah, nun ja, da die alte Lady Spencer auch da sein wird, würde ich behaupten, dass du mehr als willkommen sein wirst.«

»In meiner Anwesenheit wirst du sie Gräfin Spencer nennen. Hier, das kannst du zuerst nach oben tragen.« Dottie reichte ihm eine riesige Hutschachtel, in der sie ihre Perücken aufbewahrte. »Dein Busenfreund Hatton trauert, wenn es um seine Verlobte geht, jedoch nicht, wenn es darum geht, sich im Devonshire House zu vergnügen. Komm, Alexandra, wir müssen ein Kleid aussuchen, in dem du unwiderstehlich aussiehst.«

Um sechs Uhr trug Alexandra ein cremefarbenes seidenes Faille-Kleid, dessen Dekollete ihre festen jungen Brüste perfekt anhob. Bunte Samtbänder schmückten die Empiretaille des Kleides, und Sara, die geschickte Kammerzofe, war damit beschäftigt, die gleichen Bänder in Alex' rotgoldene Locken zu knüpfen.

»Du siehst bezaubernd aus, Liebling, aber du brauchst noch etwas, das dir das gewisse Flair gibt!« Dottie legte den Kopf schief, zuerst zur einen, dann zur anderen Seite. »Ich habe es! Du brauchst einen meiner Fächer.«

Alex sah erschrocken aus. Dottie besaß eine Sammlung von Fächern aus Federn in allen möglichen Schattierungen, die zum theatralischen Aussehen ihrer Kleidung beitrugen. Ihre Großmutter verschwand in ihrem Zimmer und kam nach einer Weile mit einem ihrer Schätze zurück. Als Alex den riesigen Fächer aus Straußenfedern in die Hand nahm und langsam damit wedelte, fand sie ihr Bild im Spiegel sehr ansprechend.

»Verdammt, die Kutsche wird um sechs Uhr kommen, und ich kann die Krawatte nicht binden.« Rupert stand hilflos an der Tür.

Alex ignorierte ihn. »Dottie, es ist schon beinahe sechs Uhr, du musst dich anziehen!«

»Himmel, Kind, warum sollte ich im Devonshire House zu Abend essen? Wir haben einen unvergleichlichen Küchenchef gleich hier am Berkeley Square, der mir coq au vin versprochen hat, gefolgt von einem süßen Kirschauflauf. Rupert wird dich begleiten, aber denke daran, Lod Hatton mit Verachtung zu behandeln und dir dein Lächeln für Hartington aufzusparen. Es wird Christopher verrückt machen!«

Der Butler kam, um anzukündigen, dass die Kutsche angekommen war.

»Alex, sage ihnen, dass ich gleich da bin«, befahl ihr Rupert. »Hopkins, helfen Sie mir mit dieser verdammten Krawatte.«

Alex griff nach ihrem Umhang, gab ihrer Großmutter einen Gute-Nacht-Kuss und lief leichtfüßig nach unten. Der Kutscher verbeugte sich und öffnete ihr die Tür, doch sie blieb einen Augenblick lang wie angewurzelt stehen, als sie begriff, dass die Hatton-Zwillinge in der Kutsche saßen.

Ein Paar dunkler Augenbrauen hob sich überrascht. »Alex, du siehst...«

»Hinreißend aus? Nun, du musst nicht in Panik geraten. Ich versichere dir, dass keiner von euch beiden heute Abend in Gefahr ist.«

Die Zwillinge warfen einander einen sarkastischen Blick zu. Insgeheim war Nick genauso bestürzt wie Alex, er hatte keine Ahnung gehabt, dass sie nach London kommen würde. Insgeheim fluchte er. Seine Nächte waren bereits erfüllt von Träumen von ihr, und er hatte gehofft, dass er durch den räumlichen Abstand zwischen ihnen nicht mehr so oft an sie denken musste. Durch ihre Nähe am heutigen Abend würden seine erotischen Träume noch stärker werden.

Alexandra stieg in die Kutsche, mit dem Selbstvertrauen einer Frau, die wusste, dass sie umwerfend aussah. Innerlich jedoch zitterte sie vor Unentschlossenheit. Die schwarze Abendkleidung der Männer und das dämmrige Innere der Kutsche machten es ihr unmöglich, die Zwillinge voneinander zu unterscheiden. Sie setzte sich neben den einen, ignorierte jedoch beide. Lieber Gott, ich bin nach London gekommen, um ihm zu entfliehen, und jetzt sitze ich dicht neben ihm! Abrupt änderte sie ihren Sitzplatz und murmelte vor sich hin, dass sie nicht gern mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sitze.

Rupert setzte sich auf ihren Platz. Als die Kutsche losfuhr, lächelte ihr Bruder glücklich. »Ah, das ist genauso wie in den guten alten Zeiten... wir vier zusammen!«

»Bis auf die Tatsache, dass du jetzt ein Viscount bist und ich ein Lord«, scherzte Kit und stieß seinem Freund den Ellbogen in die Seite.

Alexandra war entsetzt. Sie hatte sich gerade absichtlich neben Nicholas Hatton gesetzt, den Mann, vor dem sie davonlief. Sie starrte aus dem Fenster und tat so, als interessiere sie sich für das, was draußen vorging, doch in Wirklichkeit sah sie nichts, während Nicks Nähe sie überwältigte. Als die Kutsche auf den Piccadilly bog und sie gegen ihn stieß, wurde sie rot vor Zorn. Sie fühlte, wie seine Wärme durch ihr Kleid drang und drohte, ihre eisige Abwehr zu schmelzen.

Nicholas ballte die Hände zu Fäusten, damit er seine Hand nicht auf ihre legen konnte. Wenn Alexandra ihm so nahe war, war die Versuchung, sie zu berühren, zu groß. Seine Nasenflügel bebten, als ihm ihr Duft in die Nase stieg. Ihre Anziehungskraft war unwiderstehlich, gerade weil sie für ihn tabu war.

»Später werden wir noch zu White gehen«, erzählte Kit Rupert. »Unsere Mitgliedschaft sollte mittlerweile bestätigt sein.« Hart Cavendish hatte für seine drei Freunde gebürgt, damit sie Mitglied im ältesten Gentlemens Club in London werden konnten.

»Wie hoch sind die jährlichen Gebühren?«, fragte Rupert.

»Ich werde mich schon darum kümmern«, bot ihm Kit lässig an.

Alexandra errötete. Wie ungeschickt von Rupert, gerade jetzt von Geld zu sprechen, wo Nicholas gar nichts mehr besaß. Und wie großzügig von Christopher, den faux pas ihres Bruders zu übergehen.

Die Kutsche fuhr durch das Tor des Devonshire House, des größten Hauses am Piccadilly. Rupert erinnerte sich an seine Kinderstube und sprang zuerst hinaus, um seiner Schwester zu helfen. Kit wollte die Kutsche wegschicken, da sie die Absicht hatten, die ganze Nacht zu bleiben, doch Nick bat den Kutscher, zu warten, damit er später Alex sicher nach Hause bringen konnte.

Alex fühlte sich zurückgesetzt bei dem Gedanken, dass die drei die ganze Nacht durch London streiften, während sie wie ein Kind ins Bett geschickt wurde. Verdammt, das Leben ist so unfair zu den Frauen! Sie sah den düsteren Blick auf seinem Gesicht und wusste, dass er von ihr heftige Proteste erwartete. Sie schwor sich, ihn zu enttäuschen. Sie hob das Kinn, wedelte mit ihrem Fächer aus Straußenfedern und schwebte die Stufen zum Devonshire House hinauf.

Es war Alexandras erster Besuch in diesem Haus, und ihre Augen weiteten sich, als sie die Marmortreppe hinaufging und die glitzernde Menschenmenge betrachtete, die sich unter den großen Kronleuchtern aus Kristall versammelt hatte. Ein Lakai in Livree nahm ihr den Umhang ab, und sie sah sich um und fragte sich, wie um alles in der Welt sich so viele Menschen gleichzeitig zum Essen setzen sollten.

Hart Cavendish, der junge Herzog von Devonshire, entdeckte sie sofort. An seiner Seite waren die beiden dunkelhaarigen, gut aussehenden Zwillinge. »Alexandra, willkommen im Devonshire House. Sie sehen ganz einfach umwerfend aus.« Er hob ihre Hand an seine Lippen. »Rupert, du alter Halunke, warum hast du mir nicht gesagt, dass deine Schwester in der Stadt ist? Ich hätte ihr Blumen geschickt. Kommen Sie, ich möchte Sie vorstellen.« Er griff nach ihrem Arm und zog sie dann aus dem Kreis ihrer drei Begleiter mit sich fort wie eine Trophäe.

Alexandra sprach aus, was ihr zuerst in den Sinn kam. »Ich hatte keine Ahnung, dass so viele Menschen zu dieser Jahreszeit in London sind.«

»Oh, es gibt eine ganze Menge Unterhaltung, den ganzen Herbst und Winter über. Das Essen heute Abend wird zu Ehren des Grafen von Liverpool gegeben.«

Alex konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. »Sie meinen Robert Banks Jenkinson, der neue Premierminister von England?«

Hart lächelte sie geheimnisvoll an. »Ich habe bezweifelt, dass jemand, der so jung und so bezaubernd ist wie Sie, sich für Politik interessiert.«

»Sie irren sich. Ich interessiere mich sehr für Politiker... sowohl für das, was sie tun als auch für das, was sie nicht tun. Bitte zeigen Sie mir Jenkinson. Ich möchte mir den Mann einmal ganz genau ansehen, der unter Spencer Perceval erst im letzten Jahr als Kriegsminister gedient hat und so rücksichtslos ehrgeizig war, dass er dem alten Perceval einen Tritt in den... Rücken gegeben hat!«

Hart lachte. »Ich glaube, es war ein anderer Teil seines Körpers.«

Londons elite faszinierte Alexandra. Aufmerksam beobachtete sie, was sich zwischen den Geschlechtern der Gesellschaft abspielte. Sie sah, wie die Damen ihre Töchter im heiratsfähigen Alter in die Nähe der begehrtesten Junggesellen manövrierten und bemerkte, dass Kit Hatton und ihr Bruder von Debütantinnen, die bereits seit Saisonbeginn in London waren, umringt wurden.

Ihr Blick wanderte über die glitzernde Menschenmenge, sie suchte Nicholas. Er hatte deutlich gemacht, dass sie nicht sein Typ war, und sie war neugierig zu sehen, wer sein Typ war. Er unterhielt sich gerade mit einem männlichen Freund, und keine Frau versuchte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wiederholt beobachtete sie ihn hinter ihrem Fächer und stellte fest, dass diejenigen, die mit ihm sprachen, ältere, kultivierte Damen waren, die ihm ein viel zu intimes Lächeln schenkten. Alex wurde grün vor Eifersucht, obwohl sie sich selbst einzureden versuchte, dass seine Eroberungen sie nicht interessierten. Als er schließlich zum Premierminister ging und ihn in eine, wie es schien, ernsthafte Unterhaltung verwickelte, fühlte sie eine große Erleichterung.

Alex richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Begleiter und stellte fest, dass sie von jungen Männern umgeben waren, die darauf warteten, ihr vorgestellt zu werden. Sie konnte nicht anders als sich geschmeichelt zu fühlen. Hart stellte ihr die Lords Fitzmaurice, Tavistock und Burlington vor. Es gab so viele Titel, dass sie die Grafen von den Viscounten nicht mehr unterscheiden konnte.

Harts Schwester Harriet, Lady Granville, liebevoll bekannt als Hary-O, begrüßte sie freundlich. »Wie nett, Sie zu sehen. Ich hoffe, Lady Longford ist auch mit in die Stadt gekommen. Da unsere Großmütter so gute Freundinnen sind, nehme ich an, wir werden einander oft sehen. Haben Sie etwas dagegen, wenn ich meinen Bruder entführe? Ich brauche ihn im Esszimmer, wenn wir diese Menschenmenge jemals unterbringen wollen.«

Hart brachte Alexandra zu einer Gruppe junger Damen, mit denen sie bekannt war: Deborah Mitford, Elizabeth Cecil und Lucy Lyttelson, Debütantinnen, die in dieser Saison vorgestellt wurden und mit ihren Müttern gekommen waren. Als Hart sie abholte, warfen sie ihr eifersüchtige Blicke zu. Es gab nur sehr wenige Herzöge im Königreich, und Hart Cavendish stand, was Reichtum und Stellung betraf, an zweiter Stelle, gleich hinter dem Königshaus.

Schließlich öffneten sich die großen Doppeltüren des Esszimmers, und zwei Lakaien in Devonshire Livree standen zu beiden Seiten der Tür. Das schien das Signal zu einem Rennen zu sein, denn die jungen Damen kamen angelaufen, um einen Platz neben einem passenden Tischgenossen zu finden, wie ihre Mütter es ihnen offensichtlich geraten hatten.

Alexandra war etwas zurückhaltender. Sie wedelte lässig mit ihrem Fächer und sah zu, wie sich die anderen Gäste mit den Ellbogen einen Weg in das Esszimmer bahnten. Als sie die Doppeltüren erreichte, war sie beeindruckt von der Größe des üppig ausgestatteten Raumes und der Länge der Tische. Es gab zwei Tische, jeder etwa vierzig Fuß lang, mit herrlichem Damastleinen, georgianischem Silber und Kristallgläsern aus Venedig. Hinter jedem zweiten Stuhl stand ein Lakai, bereit, seine Aufmerksamkeit den beiden Leuten zu widmen, für die er zuständig war.

Sie entdeckte ihren Bruder und Christopher Hatton, die bei den jungen Erbinnen der gehobenen Gesellschaft saßen. Keiner der beiden hatte offensichtlich an sie gedacht. Dann entdeckte sie, dass der Stuhl neben Nicholas Hatton frei war, und sie fragte sich, ob er ihn wohl für sie freigehalten hatte. Doch dann kam ihr die Erkenntnis, dass er bei den Damen eine persona non grata war. Er wurde wegen des Jagdunfalles und des darauf folgenden Skandals absichtlich geschnitten.

Ihr Herz machte einen Sprung. Wie konnten sie nur so scheinheilig und eingebildet sein? Sie hob trotzig das Kinn und ging auf dem kürzesten Weg zu Nick Hatton hinüber. Er stand sofort auf und rückte ihr galant den Stuhl zurecht. Sie setzte sich und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln, dabei erwartete sie, dass er schrecklich wütend auf sie war.

Er war jedoch nur belustigt. »Du hast ein viel zu weiches Herz, Alex«, murmelte er, so dass nur sie es hören konnte. »Es ist nicht nötig, Mitleid mit mir zu haben.«

»Ich kann nicht glauben, dass sie dich so behandeln«, flüsterte sie verärgert. »Sie wissen doch, dass es ein Unfall war.«

Nick lachte leise. »Abgesehen davon, dass du ein sanftes Herz hast, bist du auch noch erstaunlich naiv. Die Damen der gehobenen Gesellschaft schneiden mich nicht, weil ich meinen Vater erschossen habe, ich werde ausgestoßen, weil ich keinen Teil des Hatton-Erbes bekommen habe.«

Sie saß benommen neben ihm, während sie seine Worte verdaute, und sie begriff, dass er die Wahrheit sagte. »Es sind die Mütter und die Töchter, die sich hier wie wild aufführen! Die Männer scheinen sich ja einigermaßen zivil zu benehmen. Ich habe gesehen, dass Robert Banks Jenkinson mit dir gesprochen hat.«

»Der Graf von Liverpool war Kriegsminister, ehe er Premierminister wurde.« Nick schien noch etwas sagen zu wollen, doch dann änderte er seine Meinung.

»Offensichtlich geht dem Grafen sein Ehrgeiz über alles.«

»Ehrgeiz ist bei einem Mann eine bewundernswerte Eigenschaft, Alex.«

Sie zog eine Augenbraue hoch. »Und was würdest du als bewundernswerte Eigenschaft bei einer Frau ansehen?«

»Loyalität... etwas, das du im Überfluss besitzt. Mut..., den du zeigst, wenn du dich absichtlich neben mich setzt.«

»Blödsinn! Ich habe ganz einfach ein trotziges Wesen und genieße es, der gehobenen Gesellschaft auf die Füße zu treten.«

Sein Mund verzog sich. »Satansbraten.«

Oh Gott, Nick, sieh mich doch nicht so an. Warum zum Teufel kannst du nicht deine Skrupel beiseite schieben und mich heiraten? Alex zügelte ihre Gedanken und senkte den Blick, ehe er erkennen konnte, wie liebeskrank sie war. Als der Gentleman, der rechts von ihr saß, sie ansprach, hatte sie keine Ahnung, was er gesagt hatte. Sie lächelte ihn höflich an und tat so, als sei sie interessiert, während ihre Gefühle die ganze Zeit über in Aufruhr waren.

Nick war dankbar, als sie ihre Aufmerksamkeit von ihm abwandte. Ihre Nähe wirkte verheerend auf seine Sinne, und ihre üppigen Brüste, die in dem Empirekleid sehr gut zur Geltung kamen, hatten ihn körperlich so erregt, dass seine Hose zu eng wurde. Am Ende des Essens hatte sich der dumpfe Schmerz bis in sein Herz ausgebreitet.

Lady Harriet Granville kam von der Empore herunter und bat die Gäste ins Musikzimmer, wo Kuchen und Fruchtlikör serviert wurden. Heute Abend wurde nicht getanzt, obwohl Musikanten aus Devonshire im Hintergrund spielten, während die meisten der Gäste sich unterhielten.

»Da sind Sie ja.« Hart Cavendish hatte sie gesucht. »Ich wollte, dass Sie beim Essen bei der Familie sitzen, Alexandra. Hary-O und ich hatten uns so auf Ihre Gesellschaft gefreut.«

»Nicholas und ich haben uns hier auf den billigen Plätzen sehr wohl gefühlt«, neckte sie ihn und wedelte mit dem Fächer.

»Verzeih mir, ich dachte, du seist Christopher«, entschuldigte sich Hart und war erleichtert, dass sie nicht mit dem Mann zusammen war, von dem behauptet wurde, er sei ihr Verlobter.

»Danke, dass Sie mich gerettet haben, die Hattons sind nur Harm und Hazard.« Sie nahm seinen Arm. »Sollen wir ins Musikzimmer gehen?«

Hart biss sich auf die Lippe und war hin und her gerissen. Der Rest des Abends versprach, gähnend langweilig zu werden.

Nick lachte. »Der kleine Satansbraten neckt dich gnadenlos, Hart. Sie weiß verdammt gut, dass wir auf dem Weg zu White sind. Wenn du Kit und Rupert holst, werde ich die Lady zu ihrer Kutsche begleiten.«

Alexandra ging, um ihren Umhang zu holen, und als sie zurückkam, wartete Nick oben an der Marmortreppe auf sie. Die Hand an ihrem Ellbogen, ging er mit ihr die Treppe hinunter in den Hof und auf die schwarze Kutsche zu. Er winkte Todd, auf dem Kutschbock sitzen zu bleiben, und öffnete Alexandra die Tür. »Du bist überhaupt nicht galant. Du willst nur sichergehen, dass ich nach Hause und ins Bett komme.«

»Jawohl.« Er stand vor ihr und blickte auf sie hinunter. In sein Bett. Sie machte keine Anstalten, in die Kutsche zu steigen, und das Schweigen zwischen ihnen dehnte sich aus. Der Lärm von der Straße trat in den Hintergrund und die Dunkelheit hüllte sie einen Augenblick lang ein. Schnell zog er sie in seine Arme, senkte den Kopf und küsste sie voller Verlangen. Sie öffnete ihm die Lippen und schmiegte sich in seine Arme.

»Auf Wiedersehen, Alex.«

Ehe ihre Gedanken eine klare Form annehmen konnten, war er verschwunden. Benommen stieg sie in die Kutsche und war schon fast zu Hause, als sie begriff, dass er »Auf Wiedersehen« gesagt hatte und nicht »Gute Nacht«.