19
Christopher Hatton wurde, zusammen mit seinem Freund Rupert, Mitglied des angesehenen Four-In-Hand Sportclubs. Kit war nur deshalb damit einverstanden, weil dort keine ernsthaften Rennen stattfanden. Die Mitglieder des Clubs fuhren mit ihren Phaetons und ihren Zweispännern nach Salt Hill, ungefähr zwanzig Meilen von London entfernt. Dort speisten sie in der Windmühle, tranken bis sie nicht mehr konnten, und fuhren dann zurück in die Stadt.
Während Kit die St. George Street zum Hanover Square entlangbrauste, wo sich die Mitglieder des Clubs versammelten, trafen immer mehr Sportwagen ein. Er glaubte, Rupert in seinem neuen weißen Jackett gesehen zu haben, deshalb hielt er am Straßenrand an und sprang aus seinem Wagen. Als der große, schlanke Mann sich dann umwandte, stellte Kit fest, dass er ihn mit Jeremy Eaton verwechselt hatte.
»Was zum Teufel tust du hier?« Kit konnte seinen Ärger nicht verbergen. Bei den Mitgliedern des Clubs handelte es sich meistens um Lords mit Titeln, dies war der letzte Ort, an dem er Eaton erwartet hatte.
»Hallo, Harm. Wie es scheint, lieben wir die gleichen Orte.«
Ganz sicher verfolgst du mich, du Bastard!
»Hübsche Tiere. Ich habe gehört, dass du dir einen Phaeton gekauft hast. Deine Invstitionen haben sich sicherlich als lohnend erwiesen. Die meinen waren nicht so erfolgreich.«
»Wie schade. Du solltest deinen Vater um Rat fragen.«
»Mein Vater und ich sind uns nie einig... genau wie es bei dir und deinem Vater war«, meinte er gedehnt.
»Was willst du damit sagen? Mein Vater hat mich geliebt.«
»Nur merkwürdig, dass es deine Hand war, die den Abzug betätigt hat.«
»Hör mal, ich habe genug davon. Wenn du der ganzen Welt mitteilen willst, dass ich und nicht mein Zwillingsbruder Nick meinen Vater bei einem Unfall erschossen habe, dann tu es. Niemand wird dir glauben.«
»Bei einem Unfall?«, fragte Jeremy und blies sich in die Hände, um sie zu wärmen. »Wenn ich erst einmal enthülle, dass es nichts gab, was auf einen Unfall hingedeutet hat, würden mir alle glauben, möchte ich behaupten.«
Kit begann zu zittern und zog seinen Umhang enger um sich. »Ich an deiner Stelle würde meinen Mund halten.«
Eaton lachte. »Den Mund muss man erst halten, wenn Fliegen in der Gegend sind.«
»Wie viel?«
»Zehntausend klingt in meinen Ohren fair.« Er blickte zum Himmel. »Es könnte Schwierigkeiten geben. Es braut sich ein Sturm zusammen, und ich möchte lieber nicht hineingeraten. Wir sehen uns morgen Abend bei Whites, ich bin dienstags immer dort. Oder noch besser, wir treffen uns morgen früh in der Barclays Bank. Pünktlich um zehn.«
Nachdem sein Cousin ihn verlassen hatte, griff Kit in seine Manteltasche und zog eine Flasche daraus hervor. Er hob sie an die Lippen und stellte fest, dass seine Hände zitterten. Dieser verdammte Parasit! Wenn ich ihn jemals auf der Straße sehe, werde ich ihn überfahren! Der Whiskey wärmte und tröstete ihn. Wenn ich mein Bankkonto plündere, wird sein alter Herr es für mich wieder auffüllen.
Alexandra zweifelte immer wieder an ihrem Vorhaben. Sie zog Dotties lange, silberblonde Perücke aus und das Netzkostüm, das diese als Lady Godiva getragen hatte. Es war ihre letzte Hoffnung, denn Alex wusste, dass sie niemals vollkommen nackt auf der Bühne stehen könnte. Wenn sich irgendeine andere Gelegenheit ergeben würde, an das Geld zu kommen, würde sie diese Gelegenheit sofort ergreifen. Um ihre Gedanken von ihrem Auftritt, der mit beängstigender Geschwindigkeit auf sie zukam, abzulenken, stimmte sie zu, mit Hart Cavendish eine Opernaufführung in Covent Garden zu besuchen.
In dem Augenblick, in dem sie seiner Einladung zustimmte, schrieb der Herzog von Devonshire eine Nachricht an Aberdeen, den Sekretär des Prinzen von Wales, in der er bat, Prinnys Loge in Covent Garden benutzen zu dürfen. Als Aberdeen seine Zustimmung gab, wie er es in der Vergangenheit auch für den Vater des Herzogs getafl hatte, ging Hart einkaufen. Er wusste, was er wollte und legte sich einen sorgfältigen Plan zurecht.
Als Hart das Haus am Berkeley Square erreichte, kam Alexandra mit einem Lächeln die Treppe hinunter. Es würde für ihn eine angenehme Überraschung sein, mit ihr auszugehen, wenn sie als Frau gekleidet war.
»Du siehst so bezaubernd aus, dass mir der Atem stockt. Ich liebe dieses lavendelfarbene Kleid, ich hatte gehofft, du würdest es heute Abend tragen.«
Alex griff nach ihrem violetten Kaschmirschal und reichte ihn ihm. »Wie galant, Euer Ehren.«
Als er ihr den Schal um die Schultern legte, beugte er sich zu ihr und flüsterte in ihr Ohr: »Und warum nennst du mich nicht länger Liebling?«
»Das war eine Wette, und wenn du mich an diesen Abend erinnerst, werde ich nicht länger glauben, dass du galant bist.«
»Ich verspreche dir, ich werde dich heute Abend dafür entschädigen, Alexandra.«
Als sie in der Kutsche saßen, war Alexandra erleichtert, dass Hart sich wie ein perfekter Gentleman benahm und sich ihr gegenübersetzte. Verwirrt fragte sie sich, wie lange das wohl dauern würde. Die Gegend um den Covent Garden war überfüllt mit den Kutschen der gehobenen Gesellschaft. Jeder wollte die neue Oper sehen, oder, um es genauer zu sagen, in der neuen Oper gesehen werden. Nur wenige liebten die Oper oder verstanden sie.
Alexandra sah sich in der Menge um und suchte nach Harts Schwestern, doch sie konnte sie nirgendwo entdecken. Hart griff nach ihrer Hand. »Folge mir«, forderte er sie auf. Sie war überrascht, als er sie in die private Loge des Prinzen führte. »Wie um alles in der Welt... ? Hart, ich habe geglaubt, dass wir uns hier mit deiner Familie treffen werden.« Ich sollte nicht mit ihm allein in der privaten Loge des Prinzen von Wales sein. In aller Öffentlichkeit hier zu sitzen, wird die Leute zu Klatsch und Tratsch veranlassen!
Hart rückte ihr den Stuhl zurecht. »Ich wollte, dass du dich heute Abend als etwas ganz Besonderes fühlst.
Alexandra setzte sich, sah sich im Theater um und erstarrte dann. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Auf sie beide. Sie sah, wie die Ladys hinter ihren Fächern flüsterten. Indem er sie in die private Loge des Regenten brachte, erklärte der Herzog von Devonshire sie zu einem Paar. Als die Lichter ausgingen, entdeckte sie Christopher Hatton, der benommen und ungläubig zu ihnen hinaufsah.
Als sich der Vorhang hob, fühlte Alex, wie eine heiße Röte in ihre Wangen stieg, und schob den Stuhl schnell ein wenig weiter in die Loge. Du gewöhnst dich besser daran, angestarrt zu werden, schalt sie sich. Morgen wirst du selbst auf der Bühne stehen! Obwohl sie sich einredete, dass sie ihr Publikum wegen der Gardine und des Lichtes nicht würde sehen können, war ihr das kein Trost. Ihr Publikum wäre sicher in der Lage, sie zu sehen. Vollkommen.
La Cambiale di matrimonio war eine komische Oper von Rossini, einem neuen Komponisten, der in Venedig in Mode war. Alex verstand kein Italienisch, aber schon bald lachte sie über die Eskapaden von Braut und Bräutigam und über den
Preis, den sie für ihre Ehe zahlten. Sie dachte an Rupert und Olivia, dann gingen ihre Gedanken zu Hart und zu sich selbst. Sie hörte auf zu lachen. Er wollte, dass dies ein ganz besonderer Abend wurde! Guter Gott, sag mir bloß nicht, dass Hart mir einen Antrag machen will!
Sie warf ihm einen schnellen Blick zu und stellte fest, dass seine ganze Aufmerksamkeit ihr galt und nicht der Bühne. Er hatte den verzückten Blick eines Mannes, der verliebt war. Warum sonst hätte er ihr ihre ungewöhnlichen Wünsche erfüllen wollen?
Als sich ihre Blicke trafen, lächelte er. Er griff in seine Brusttasche und zog ein langes, schmales, in Samt eingeschlagenes Päckchen heraus, das er ihr in die Hand legte. »Für dich, Alexandra.«
Ihr Puls schlug schneller, die herrliche Arie trat in den Hintergrund, während sie mit zitternden Fingern den weichen Samt fühlte und ihre Aufmerksamkeit auf die schmale Schachtel richtete. Sie hatte ihrer Großmutter versprochen, Christopher Hatton zu heiraten, weil Dottie wollte, dass sie Sicherheit und einen Titel bekam. Der Herzog von Devonshire jedoch besaß königlichen Reichtum und konnte sie zu einer Herzogin machen; Dottie hätte dagegen sicher nichts einzuwenden!
Der Vorhang senkte sich unter dem Applaus, und die Lichter gingen an. Die meisten Zuschauer standen auf, um sich auf der Piazza eine Erfrischung zu gönnen. Doch Alexandra und Hart blieben in der abgeschiedenen Loge. Sie holte tief Luft und öffnete die Schachtel. Weiße Diamanten und purpurne Amethyste auf einer Halskette glitzerten auf dem schwarzen Samt. Fasziniert starrte sie darauf, die funkelnden Juwelen machten sie benommen.
Hart beugte sich zu ihr. »Alexandra, ich möchte dein Geliebter werden.«
Sie blinzelte und sah zu ihm auf. Es war ein Antrag, ein unanständiger Antrag! Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Dabei konnte sie nicht einmal behaupten, dass er sie nicht gewarnt hatte. Als er sie zum ersten Mal geküsst und sie ihm erklärt hatte, dass sie an einer Ehe nicht interessiert sei, hatte Hart im Brustton der Uberzeugung behauptet, dass auch er an einer Ehe nicht interessiert sei. Er bat sie, seine Geliebte zu werden, und meinte es vollkommen ernst.
Alexandra wusste tief in ihrem Herzen, dass sie nicht das Recht hatte, beleidigt zu sein. Wie konnte sie von ihm erwarten, dass er sie wie eine Lady behandelte, wenn sie sich nie so benommen hatte? Sie hatte Hart dazu ermuntert, sie in jeden verrufenen Club in London mitzunehmen. War es ein Wunder, wenn er von ihr erwartete, dass sie seine Geliebte wurde? Sie blickte auf die Diamantkette und begriff, dass sie die Antwort auf all ihre finanziellen Probleme in den Händen hielt. Die Juwelen waren eine unglaubliche Versuchung. Wenn sie ihm erlaubte, ihr diese Kette um den Hals zu legen, würde sie nicht zu Champagner Charlie gehen müssen. Aber dann gestand sie sich zögernd ein, dass er auf keinen Fall ihr Geliebter wurde, denn von Liebe war hier nicht die Rede.
Alexandra schloss die Samtschachtel und gab sie ihm zurück.
»Verdammt, Alex, ich weiß, dass du dir deine eigenen Juwelen kaufen kannst, aber willst du mir nicht die Freude machen, dir ein Geschenk zu geben?«
»Natürlich will ich das«, erwiderte sie leichthin. »Aber sicher keine Diamanten. Mich kann man nicht kaufen, Hart.«
»Ich will dich ja auch gar nicht kaufen, ich möchte ganz einfach nur...«
»Mit mir schlafen?« Sie warf ihm einen provozierenden Blick zu. »Du und noch tausend andere. Du reihst dich besser in die Warteschlange ein.«
Hart lachte und löste die Spannung zwischen ihnen. Die Lichter in dem Theater gingen wieder aus, dann hob sich der Vorhang, und die Musik ertönte. Als die Vorstellung vorüber war, erhielten die Darsteller großen Applaus.
Auf der Piazza von Covent Garden blieb Alexandra stehen, um die hübschen Dinge zu betrachten, die dort verkauft wurden. »Ich werde dir die Freude machen, dass du mir diese Maske kaufst, Euer Ehren.«
»Warum möchtest du dein hübsches Gesicht hinter einer Maske verbergen, Alexandra?«
»Natürlich um mein Erröten zu verstecken, das mir bei unanständigen Anträgen in die Wangen steigt.«
Sie hörte, wie Hart sagte: »Oh, hallo, Kit. Hat dir die Oper gefallen?«
Alex blickte in Christophers düsteres Gesicht und fühlte sich schuldig.
»Jawohl, das hat sie. Italienisch ist eine meiner Lieblingssprachen. Herrliche Künstler, diese Italiener. Ich habe vor kurzem Canalettos Regatta auf dem großen Kanal gekauft.« Er sah Alexandra an. »Ich würde dir das Bild gern einmal zeigen.«
Hart runzelte die Stirn. »Ich denke, du irrst dich mit dem Titel. Regatta auf dem großen Kanal hängt an meiner Wand in Chatsworth.«
Kits Gesicht nahm einen verschlossenen, beinahe maskenhaften Ausdruck an, aber seine grauen Augen veränderten sich in dramatischer Weise. Alex hatte am heutigen Abend bereits viel zu viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Das Letzte, was sie wollte, war ein verbaler Schlagabtausch der beiden Männer. Sie sagte schnell: »Es war nett, dich heute Abend zu sehen, Kit. Gute Nacht.«
Christopher Hatton war wütend auf die ganze Welt. Das Schicksal hatte sich gegen ihn verschworen, und er fühlte sich machtlos, etwas dagegen zu unternehmen. Die Tatsache, dass Hart Cavendish Alexandra in London ausgeführt hatte, war der letzte Tropfen, der das Fass zum Uberlaufen brachte! Die letzten Tage waren ein Albtraum gewesen. Das Geld war ihm nur so aus den Händen gerissen worden, zuerst von diesem Blutsauger Eaton und jetzt von einem skrupellosen Kunsthändler. Gleich morgen früh werde ich als Erstes das Bild von Canaletto holen und mein Geld zurückverlangen. Dann werde ich diesen Bastard verhaften lassen und ihn anklagen! Er würde gleich heute Abend hingehen, aber zu dieser Zeit wäre das Geschäft bereits geschlossen. Er ging den kurzen Weg von Covent Garden zum Hoops und Grapes und betrank sich.
Am Samstagnachmittg ergab sich Alex ihrem Schicksal. Sie zog das fleischfarbene Netzkostüm unter ihre Kleidung, das sich wie eine zweite Haut an ihren Körper schmiegte, dann zog sie zwei Unterröcke darüber und zwei Strumpfbänder. Je mehr Kleidungsstücke sie ausziehen konnte, desto kürzer wäre die Zeit, in der sie nackt auf der Bühne stand. Als Dottie die lange blonde Perücke und die Maske entdeckte, die auf ihrem Bett lagen, wusste Alex, dass sie ihre Großmutter mit einer Notlüge abspeisen musste.
»Gibt es heute Abend einen Maskenball?« Dottie schien verwirrt zu sein.
»Ja.« Man könnte es einen Maskenhall nennen.
»Wer wird dich denn begleiten, und wer gibt die Party?«
»Olivia und Rupert werden mich begleiten. Ein paar Freunde der Hardings geben die Party, ich kann mich nicht einmal mehr an ihren Namen erinnern.« Diese Lüge ist notwendig, um sicherzugehen, dass Dottie nicht mitkommt.
»Besser du als ich, Liebling. Ich würde mich lieber lebendig begraben lassen.«
Eine Stunde später nahm Alex ihren ganzen Mut zusammen und betrat den Club von Champagner Charlie. Ein Raum mit einer Empore war für die Vorstellung heute Abend bereitgestellt worden. Charlotte King, die genau wusste, was für eine Atmosphäre sie für den heutigen Abend schaffen wollte, hatte eine durchsichtige Gardine aus goldener Gaze aufhängen lassen. Sie würde von dem warmen Schein der Gaslampen beleuchtet werden, während das Publikum im Dunkeln saß. Alex war dankbar dafür, dass die Gardine sie vom Publikum trennte, es gab ihr das Gefühl, allein zu sein.
»Welche Hilfsmittel werden Sie heute Abend brauchen?«, fragte Charlie.
Alex hatte lange und gründlich darüber nachgedacht und wusste, dass es effektiver wäre, alles so einfach wie möglich zu machen. »Ich brauche ein Bett und einen Stuhl... vielleicht eine kleine Garderobe, an die ich meine Kleidungsstücke hängen kann.«
Zwei Diener brachten ein weißes, eisernes Bettgestell auf die Bühne, ein anderer eine Federmatratze, Laken und Kissen. Alex starrte darauf. »Schwarze Seidenlaken?«
»In Charlies Club gibt es nur schwarze Seidenlaken. Darauf sieht der weibliche Körper ganz besonders erotisch und verlockend aus, finden Sie nicht?«
Alex stimmte zu. Als die Bühne fertig war, sah sie zu, wie die Diener die Stühle für das Publikum aufstellten. Sie hoffte, dass nur etwa ein halbes Dutzend der Stühle besetzt sein würden. Als eines der Mädchen ihr die Einladung zeigte, die Charlie ihren Kunden geschickt hatte, war Alex sprachlos.
Charlotte King empfiehlt sich mit vorzüglicher Hochachtung Lord - und nimmt sich die Freiheit, ihn davon zu unterrichten, dass am Samstagabend pünktlich um acht Uhr die wunderschöne, jungfräuliche Caprice ihre gefeierte Vorstellung gehen wird, im Stil der Künstlerin der Posen, Emma Hamilton.
Um sieben Uhr dreißig zog sich Alex hinter die Gardine zurück und stand hinter der Tür auf einer Seite des Podiums, die zur Treppe führte. Die lange blonde Perücke und die Maske hatte sie aufgesetzt. Sie zog den Umhang noch enger um sich und fühlte, wie ihr Herz raste. Sie wünschte, der Boden würde sich vor ihr auftun und sie verschlingen. Doch das passierte natürlich nicht. Sie strengte die Ohren an, doch alles, was sie außer ihrem eigenen Herzschlag hörte, war das Geräusch der Tür, die sich öffnete. Minuten später wurden die Gaslampen angezündet, das Signal für sie. Einen entsetzlichen Augenblick lang fühlte sich Alex wie gelähmt und konnte sich nicht bewegen. Sie schloss die Augen und hielt die Luft an.
Ihre Bewegungen waren träge, aber dennoch gut einstudiert. Sie betrat das Schlafzimmer durch die Tür, die sie langsam hinter sich schloss. Als sie das erste Kleidungsstück ablegte, vernahm sie, wie im Publikum hörbar eingeatmet wurde. Sie hängte den Umhang über die Garderobe, dann sank sie zur nächsten Pose in die Knie. Als sie sich wieder aufrichtete, wirbelte sie herum; ihre Röcke hoben sich und schwangen wie die Blätter einer voll erblühten Rose. Alex wusste, dass sie in der Vorstellungskraft ihres Publikums ein magisches Bild schuf. Sie war eine junge Debütantin, die gerade von einem Maskenball zurückkehrte. Sie gähnte und reckte sich, um anzudeuten, dass sie müde war und ins Bett gehen wollte. Langsam begann sie einen der langen Wildlederhandschuhe auszuziehen und hörte ein Aufseufzen. In einer provozierenden Geste öffnete sie die Knöpfe ihres Kleides, einen nach dem anderen. Sie schob die Ärmel des Kleides über ihre Schultern, trat aus dem Rock und hängte ihn an die Garderobe. Dann setzte sie sich auf den Stuhl und begann, ihr Haar zu bürsten. Sie hob verführerisch ein Bein, bevor sie ihr Strumpfband auszog. Sie wiederholte die Bewegung mit dem anderen Bein, dann stand sie auf und zog den zweiten Unterrock aus. Sie setzte sich, um ihre Schuhe auszuziehen, dann legte sie das zweite Stumpfband und ihre Strümpfe ab.
Das zustimmende Murmeln aus dem Publikum sagte ihr, dass die Vorstellung bis jetzt ein Erfolg war. Nur noch mit einem kurzen Hemdchen bekleidet stand sie auf, die Hände auf den Hüften, und fragte sich, wie sie nur den Mut aufbringen würde, den nächsten Schritt zu tun. Ihr Schamgefühl sagte ihr, der Gardine den Rücken zuzuwenden, während sie ihr Mieder aufschnürte. Sie legte es auf den Stuhl und zog ihre Unterhose aus. Als sie dem Püblikum die Rundung ihres Pos zeigte, löste das spontanes Pfeifen aus, und ihr wurde klar, dass mehr als ein halbes Dutzend Zuschauer auf der anderen Seite des Vorhangs sein mussten. Alex fürchtete ohnmächtig zu werden, wenn sie ihre Vorstellung nicht bald beendete.
Sie legte beide Hände um ihre Brüste, wandte sich langsam um und begriff plötzlich, dass die rotgoldenen Locken auf ihrem Venushügel, die durch das Netzkostüm deutlich zu sehen waren, nicht zu ihrem silberblonden Haar passten. Sie nahm die Hände von den Brüsten, täuschte ein Gähnen vor, reckte sich ein letztes Mal und stieg dann in das Bett mit den schwarzen Seidenlaken. Die Gaslampen gingen langsam aus.
Der Applaus war überwältigend, und sie hörte die Männer rufen: »Encore, encore!«
Jemand hinter der Bühne zischte: »Vor den Vorhang!« Alex sprang aus dem Bett und griff nach ihrem Umhang. Sie rückte ihre Perücke gerade und berührte ihre Maske, um festzustellen, ob sie noch an der richtigen Stelle saß, dann trat sie vor die Gardine und verbeugte sich. Beinahe hätte sie vor Erstaunen den Mund weit aufgerissen: Viele Männer standen, weil sie keinen Platz mehr gefunden hatten. Sie trat wieder hinter den Vorhang und schwor, sich niemals wieder vor diesen Vorhang zu stellen, der für sie eine Schutzbarriere war.
Christopher Hatton, der befürchtete, ausgelacht zu werden, wenn er sich in der Stadt zeigte, zog sich in sich selbst zurück. Das Geschäft, in dem er das Gemälde von Canaletto gekauft hatte, war leer, der Kunsthändler war in der Nacht verschwunden. Kit hatte ein Vermögen ausgegeben, und er war königlich betrogen worden. Am Jahresende kamen die Rechnungen ins Haus, und um alles noch schlimmer zu machen, erhielt er eine Nachricht von der Barclays Bank, in der ihm mitgeteilt wurde, dass er sein Konto überzogen hatte. Immer, wenn in der Vergangenheit sein Konto leer gewesen war, hatte John Eaton es wieder aufgefüllt. Kit verfluchte seinen Finanzberater, er schickte eine Nachricht an sein Londoner Büro und bat ihn um einen Besuch in der Curzon Street.
John Eaton kam Mitte Dezember, in einem Hagelsturm. Er schüttelte seinen Mantel aus, reichte ihn dem Butler und wurde dann zu Kit geführt. »Ah, Lord Hatton, wie weise, an einem solchen Tag mit einem Glas Whiskey am Kamin zu sitzen.«
Kit goss Eaton einen Drink ein und kam sofort zur Sache. »Mein Konto ist überzogen, John. Wie konnte so etwas deiner Aufmerksamkeit entgehen?«
»Ich versichere dir, es ist mir nicht entgangen. Ich bin höchst besorgt über den Stand deiner Finanzen, mein Lord.«
»Und wie steht es mit dem >Stand meiner Finanzern?«, fragte Kit voller Sarkasmus.
Eaton hüstelte. »Es ist offensichtlich, dass deine Ausgaben deine Einnahmen bei weitem übersteigen.«
»Aber ich habe den Reichtum meines Vaters geerbt, wo ist er?«
»Die Antwort liegt bei dir, mein Lord.«
»Da bin ich aber ganz anderer Meinung, Sir! Du bist für meine Investitionen verantwortlich, daher liegt die Antwort bei dir!«
»Dein Vater hat in Schifffahrtslinien und Frachtladungen investiert. Leider hat der Krieg mit den Vereinigten Staaten dazu geführt, dass viele Schiffe gekapert worden sind. Henry hat auch große Investitionen in Amerika gemacht, seither haben wir jedoch dreizehn Kolonien verloren.«
»Ich dachte, wir seien im Krieg mit Frankreich!«
Eaton rollte mit den Augen. »Das sind wir auch, mein Lord, und Kriege kosten Geld. Kriege haben zum Zusammenbruch des Parlaments geführt.«
Für Kit Hatton waren das zweideutige Worte. »Du hast gesagt, mit dem Krieg kann man Geld verdienen.«
»Nur wenn man ihn auch gewinnt, mein Lord«, erklärte Eaton spöttisch. »Diese beiden Kriege verschlingen schnell den Reichtum Englands. Als Ergebnis davon sind die Preise und die Steuern gestiegen, und es hat massive Arbeitslosigkeit gegeben.«
»Es ist mein Wohlstand, um den es mir geht, ich brauche Geld!«
»Ich habe dich davor gewarnt, dein Bargeld zu verbrauchen, nicht wahr?«
»Das hast du getan«, gestand Kit. »Aber du hast mir auch versichert, dass du mir jede Summe leihen würdest, die ich brauche, zu niedrigeren Zinsen als die Bank... zwei Prozent, wenn ich mich recht erinnere.«
Wieder hüstelte Eaton. »Das bedeutet, zwei Prozent pro Monat.«
»Aber das sind ja vierundzwanzig Prozent Zinsen im Jahr!«
»Gegenüber den Bankzinsen von sechsundzwanzig Prozent, mein Lord.«
»Und was ist mit diesen Rechnungen?« Kit deutete auf einen Stapel Papiere neben der Karaffe mit dem Whiskey. »Ich habe eine Vollmacht unterschrieben, dass du meine finanziellen Angelegenheiten regelst.«
John Eaton griff nach den Papieren und überflog sie. »Diese Rechnungen müssen jährlich bezahlt werden, Steuern für Hatton Hall, Steuern auf das Land, Steuern für das Stadthaus in London, jährliche Löhne für das Personal.« Eaton beachtete nicht einmal die Rechnungen für Kleidung, Nahrungsmittel oder Wein.
»Lieber Gott, wenn die Steuern nicht bezahlt werden, werde ich mein Eigentum verlieren! Du hättest wenigstens die Steuern bezahlen müssen!«
»Ich bin dein Finanzberater, nicht dein Kindermädchen.«
»Dann gib mir einen finanziellen Rat, du verdammter Kerl!«
»Deine Investitionen sind beinahe erschöpft, sie sind als Sicherheit so gut wie wertlos. Ich werde dir einen weiteren Kredit einräumen, mit dem du deine Zahlungen zum Jahresende begleichen kannst, aber ich werde die Originalurkunde behalten, bis der Kredit zurückgezahlt ist.«
Kit ging zögernd in sein Schlafzimmer und kehrte mit der Original-Besitzurkunde von Hatton Hall zurück. Er reichte Eaton das Dokument mit den offiziellen roten Siegeln. »Die will ich zurückhaben, hast du verstanden?«
»Du kannst den Kredit leicht zurückzahlen, wenn du deine Ausgaben für Luxusgüter ein wenig einschränkst und auch deine sonstigen Ausgaben.«
»Ich bin ein Lord des Königreiches«, brachte Kit zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Dann würde ich vorschlagen, du tust das, was auch andere Lords mit einem Titel tun, wenn sie sich in finanziellen Schwierigkeiten befinden - du heiratest eine Erbin.«
Nachdem Eaton gegangen war, beschäftigte Kit sich nicht länger mit seinen Rechnungen. Er dachte an Alexandra.
In diesem Augenblick sah Alex zu, wie Dottie einen Brief las, den sie gerade von Lord Staines bekommen hatte.
Meine liebste Dorothy, es tut mir sehr Leid, dass ich nicht in der Lage sein werde, die Weihnachtstage mit dir zusammen zu verbringen. Mein Arzt hat mir befohlen, das Bett zu hüten, er sagt, dass ich einen leichten Schlaganfall erlitten habe. Der verdammte Kerl will sich nicht von mir überzeugen lassen, dass die beste Medizin für mich nur du bist, mein Liebling. Immer der Deine, Neville.
Dottie begann sofort, ihre Sachen zu packen. »Ich weiß, es sind nur noch drei Tage bis Weihnachten, aber ich werde fahren, um mich um Neville zu kümmern, Liebling. Das ist weitaus angenehmer als das Weihnachtsfest mit deinem Bruder und den Hardings zu verbringen. Pass auf deinen Ruf auf, Alexandra. Rupert muss dich zu allen Festlichkeiten begleiten, und während des Tages wird Sara mit dir gehen, wenn du das Haus verlässt.«
»Mach dir um mich keine Sorgen«, erwiderte Alex und fühlte sich erleichtert, weil ihre Ausflüge zu Champagner Charlie auf diese Weise wenigstens unbemerkt bleiben würden.