Vierundsechzig
Somers betrat den Empfangsbereich des Polizeihauptquartiers von Santa Mondega. Er war eine Million Mal hier durch gegangen, doch sie hatte noch nie so ausgesehen wie heute. Leichen von Officern in ihrem eigenen Blut und von Sekretärinnen über ihren Schreibtischen und auf dem Boden, wohin das Auge blickte. Ein paar Kriminelle in Handschellen waren ebenfalls erschossen worden, wie es aussah. Es war ein Massaker.
Wenigstens vierzig Tote, allein im Foyer.
Er entdeckte die Leiche von Amy Webster, die noch immer an ihrem Schreibtisch saß – doch der größte Teil ihres Kopfes war verschwunden. Er erkannte die Handschrift sofort. Das war das Werk eines einzelnen Mannes.
Die große Frage war: Wo steckte dieser eine Mann?
Am anderen Ende des Erdgeschosses befand sich eine Halle mit drei Aufzügen nebeneinander. Somers bemerkte ein rotes Licht über dem mittleren. Es war der nach unten zeigende Pfeil, und er verriet, dass jemand nach unten kam. Somers nahm seine Pistole aus dem Halfter und schob sie in seine graue Jacke, bevor er über die Leiche eines Zivilisten stieg und etwa dreißig Meter von den Aufzügen entfernt in Stellung ging. Er war bereit, sich mit demjenigen zu befassen, der aus dem Aufzug stieg, wer auch immer es war.
Ping!
Der Aufzug hielt im Erdgeschoss an, und die Türen glitten langsam zur Seite. Dort, mitten im Aufzug, stand die dunkle, kapuzenbewehrte Gestalt des Bourbon Kid. Seine Hände hingen an den Seiten herab. Er schien unbewaffnet, doch der Schein konnte täuschen. Somers wusste dies von allen Leuten am besten.
»Was glaubst du, wohin du gehst?«, fragte Somers. Als Bourbon Kid nicht sofort antwortete, machte Somers einen weiteren langsamen Schritt in Richtung der Aufzüge, die noch immer ein gutes Stück weit entfernt waren. Einen Schritt, der ausreichte, um eine Antwort vonseiten der unverwechselbaren, faszinierend rauen Stimme unter der Kapuze zu provozieren.
»Ich suche einen besseren Platz zum Sterben«, sagte Bourbon Kid.
»Dieser Platz ist genauso gut wie jeder andere«, schnarrte Somers zurück. »Du kannst mich mit deinen silbernen Kugeln nicht töten. Selbst wenn sie in Weihwasser eingeweicht und mit Knoblauch bestrichen wären. Du kannst mich meinetwegen mit einem Kruzifix erstechen, es ist mir egal. Ich bin unempfindlich gegen all diese Dinge, von denen du je gelesen oder gehört hast. Spiegel, Pfähle, Kreuze, Sonnenlicht, fließendes Wasser – nichts von alledem macht mir etwas aus. Wenn du mich angreifst, gibt es nur einen Gewinner. In meinen Adern fließt das Blut Christi und das Blut der Vampire. Kein Mensch kann mich töten, nicht einmal du.«
»Das weiß ich.«
»Tust du das? Tatsächlich? Wieso nur bezweifle ich das? Du bis hier und willst den Helden spielen. Du willst mir zeigen, dass du tapfer genug bist, um dich mir in den Weg zu stellen. Du hast Jessica und meine Söhne nicht ohne Grund getötet, und du hast Amy Webster so sicher wie das Amen in der Kirche nicht gezwungen, mir zu erzählen, dass das Auge des Mondes hier auf dem Revier ist, damit ich herkomme und mich mit dir auf einen Plausch bei Kaffee und ein paar selbst gebackenen Plätzchen hinsetze.« Er verstummte für einen Moment, während er die Kraft spürte, die in ihm aufwallte. Das frische Blut Jensens in seinen Adern. Dann fuhr er fort, und seine Stimme troff vor Gehässigkeit.
»Nein. Du glaubst, es mit mir aufnehmen und mich töten zu können. Ich verrate dir was: Ich bin unbesiegbar. Du schießt mich nieder, und ich stehe sofort wieder auf. Gib alles, was du hast, und ich versichere dir, wenn du fertig bist, reiße ich dich in Stücke. Deine einzige Chance besteht darin, dich selbst zu töten, bevor ich es tue. Nimm deine Schrotflinte, und blas dir das verdammte Hirn aus dem Schädel. Mach es jetzt sofort – Scheiße, trink meinetwegen vorher einen Schluck Bourbon, wenn du willst, und dann mach es offiziell, sorg für ein paar Schlagzeilen. Das ist es doch, was du so gerne tust, oder nicht? ODER Vielleicht Nicht?«
Somers wartete auf eine Antwort des anderen. Doch statt einer Antwort stieg Bourbon Kid aus dem Lift und kam auf Somers zu. Er blieb erst stehen, als der Abstand zwischen den beiden Männern weniger als drei Meter betrug.
»Ich habe dir bereits gesagt, ich bin zum Sterben hergekommen«, sagte er.
»Schön. Du hast drei Sekunden, um eine deiner verborgenen Waffen hervorzuholen und dich selbst zu erschießen. Tust du das nicht, werde ich dich auf eine Weise töten, wie noch nie zuvor ein Mensch getötet wurde.«
»Gut. Ich will, dass du genau das tust. Ich will wissen, ob du das Zeug hast, mich zu töten. Beweise mir, dass du dir nicht vor mir in die Hosen machst wie diese Pussy El Santino. Oder diese beiden Schwuchteln, die seine Brüder waren. Oder dieses potthässliche Miststück von einer Hure, das du Ehefrau genannt hast.«
Somers’ Augen wurden rot vor Wut.
»Das reicht!«, blaffte er. »Wenn du auf die harte Tour sterben willst, kann ich dafür sorgen.«
»Nichts anderes habe ich verdient.«
Der Dunkle Lord brauchte keine weitere Einladung. Er warf den Kopf in den Nacken und begann mit der Verwandlung in seine untote Gestalt. Seine Fingernägel wuchsen, seine Zähne vergrößerten sich, und seine Gesichtshaut wurde dünner und enthüllte die darunter liegenden Adern. Adern, die noch nicht genug von dem frischen Blut bekommen hatten, das sie tagtäglich benötigten.
»Du hast recht. Der Tod ist genau das, was du verdienst. Aber ich werde dich nicht töten. Ich werde dich zu einem von meiner Art machen. Du wirst bist in alle Ewigkeit weiterleben, als einer der Untoten, als einer von jenen, die du so verachtest.«
Ein klapperndes Geräusch hallte durch den Raum, als Bourbon Kid die beiden Schrotflinten fallen ließ, die er verborgen in den Ärmeln seines Trenchcoats bei sich getragen hatte. Sie prallten auf dem Boden auf und sprangen zu den Seiten davon. Als Nächstes fielen die beiden Skorpions aus den Ärmeln. Er trat der vergrößerten, alptraumhaften Gestalt entgegen, die vor ihm stand, schlug seine Kapuze nach hinten und enthüllte sein Gesicht. Es war übersät mit getrockneten Blutspritzern, ohne Zweifel von den zahlreichen Opfern, denen er an jenem Tag das Leben genommen hatte.
»Gib alles, was du hast«, forderte er den Dunklen Lord auf.
Somers legte den Kopf in den Nacken und stieß einen gewaltigen Schrei aus. Das Geräusch wurde begleitet von einem Schwall Gestank aus den tiefsten Tiefen seiner hässlichen Seele. Das war der Augenblick, auf den er so lange gewartet hatte. Eine Gelegenheit, sich endlich und ein für alle Mal der Bedrohung zu entledigen, die Bourbon Kid für ihn darstellte. Er sprang mit ausgestreckten Klauen vor und schwebte Millimeter in der Luft. Sein Gegner blieb unerschrocken stehen, wo er war. Noch immer schwebend packte Somers den Kopf seines Opfers mit beiden Händen und schlug seine Raubtierfänge tief in die Seite seines Halses. Die Reaktion des Bourbon Kid bestand darin, beide Arme um Somers zu schlingen und ihn dicht an sich zu ziehen wie einen lange verlorenen Bruder, der von den Toten zurückgekehrt war.
Somers riss den Kopf zurück und starrte Bourbon Kid in die Augen. Ein Rauchfähnchen stieg in der schmalen Lücke zwischen ihren Gesichtern in die Höhe. Somers’ Blick ging nach unten. Er spürte ein Brennen in seiner Brust. Irgendwie hatte irgendetwas zwischen ihm und dem Bourbon Kid Feuer gefangen. Er versuchte sich von dem anderen zu lösen, ihn von sich wegzustoßen, doch Bourbon Kid war so unglaublich stark, dass er sich zum ersten Mal machtlos erlebte. Das Brennen wurde von Sekunde zu Sekunde stärker, der Schmerz bald unerträglich. Er stieß ein frustriertes, wütendes Heulen aus.
»Aaarrrrrgh! Lass los! Lass mich auf der Stelle los, du elender Wurm!«
Sehr zu Somers’ Überraschung gehorchte Bourbon Kid. Er löste die Umklammerung um Somers’ Rücken, doch der Lord der Untoten konnte sich trotzdem nicht von ihm trennen. Auch ohne vom Bourbon Kid festgehalten zu werden, wurde er immer noch angezogen, als wären beide durch einen starken Kleber miteinander verbunden. Bourbon Kid benutzte seine freien Hände, um den Trenchcoat ein wenig weiter auseinanderzuziehen.
Augenblicklich merkte Somers, wie ernst seine Lage war. Unter dem Trenchcoat verborgen hatte Bourbon Kid Das Buch ohne Namen vor seine Brust gebunden. Jetzt wurde es fest gegen Somers’ Brust gedrückt, brachte seine Haut dazu, Blasen zu werfen und sich zu schälen und zu Asche und Rauch zu verbrennen.
»Kannst nicht durch Kreuze getötet werden, wie?«, ätzte Bourbon Kid grinsend. »Das ist es doch, was du gesagt hast, richtig?«
Somers traute seinen Augen nicht. Sein Leib war in Flammen gehüllt, die auch Bourbon Kid erfassten, doch dieser schien immun dagegen.
»Aaarrrrr GGGGHHHHHH ! Du Bastard! Du verfluchter Bastard!«, kreischte er. Er stolperte zurück, doch das Buch riss sich vom Bourbon Kid los und blieb an ihm haften, als würde es in seine Brust hineinschmelzen.
»Das Buch ohne Namen«, sagte Bourbon Kid. »Der Einband und die Seiten wurden aus dem Kreuz hergestellt, an das Jesus Christus genagelt wurde. Jetzt verrate mir eines: Kannst du tatsächlich nicht durch ein Kreuz getötet werden?«
Der Ausdruck auf Somers’ Gesicht war ein Bild der Raserei, des Schmerzes und der Angst. Er stand da und sah sich dem einzigen Ding auf dieser Welt gegenüber, das ihn töten konnte. Das war das Geheimnis, das er mit allen Mitteln zu schützen versucht hatte. Deswegen hatte er all die Menschen getötet, die dieses Buch gelesen hatten. Er war nicht in der Lage gewesen, das Buch selbst zu vernichten – es zu berühren bedeutete seinen Tod. Doch Vampire gehen nicht ohne Kampf, und Somers hatte nicht vor, allein dem Teufel gegenüberzutreten, wenn er es vermeiden konnte.
»Du kommst mit mir, du verdammter Mistkerl! Ich nehme dich mit in die Hölle.«
»Vielleicht.«
Bourbon Kid trat weit genug zurück, um sich aus den Flammen zu lösen, die Somers’ gesamten Leib einhüllten und verzehrten. Zehn Sekunden lang beobachtete er, wie die Kreatur vor ihm sich vom Dunklen Lord und dem mächtigsten Wesen auf der Erde in ein Häufchen Asche und viel Rauch verwandelte und dabei wie eine gefolterte Seele schrie.
Dann war es vorbei. Die Flammen wurden kleiner und erstarben, der Rauch verzog sich, und nichts mehr war übrig außer Asche.
Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
Der Bourbon Kid erhob sich und betrachtete für ein paar Sekunden das Gemetzel ringsum. Überall auf dem Boden lagen Leichen. Alle waren sein Werk. Das Wichtigste jedoch war, dass Detective Archibald Somers nicht mehr existierte. Er war erledigt, für immer. Das einzige Erbe, das der Dunkle Lord hinterlassen hatte, war ein ärgerlicher Kratzer am Hals seines Bezwingers.
Bourbon Kid betastete die Stelle mit der linken Hand, um nachzusehen, wie tief der Kratzer war. Seine Finger glitten über den kleinen Einschnitt, den Somers ihm zugefügt hatte. So schlimm schien es nicht zu sein.
Bourbon Kid zog die Hand zurück und warf einen Blick auf seine Fingerspitzen. Hmmm. Blut. Das könnte zu einem Problem werden.