Vierundfünfzig
Scraggs hatte den Anruf von Captain Rockwell entgegengenommen und augenblicklich reagiert. Rockwells Anweisungen waren präzise gewesen, und er hatte absolut deutlich gemacht, dass er sie auf den Buchstaben befolgt haben wollte. Die letzten Worte Rockwells hatten sich in Scraggs’ Gehirn eingebrannt. »Sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich dorthin kommen, und bringen Sie die Situation unter Kontrolle! Fassen Sie unter gar keinen Umständen irgendetwas an, ich meine irgendetwas, bevor Sie mit mir Rücksprache gehalten haben.«
Nach einer dramatischen zwanzigminütigen Jagd über rote Ampeln war er vor dem Haus der Mystischen Lady angekommen und hatte augenblicklich erkannt, dass er rasch handeln musste, wenn er Rockwells Befehl Folge leisten wollte. Vor dem Haus parkten bereits vier andere Streifenwagen, und ein halbes Dutzend uniformierter Beamter riegelte die unmittelbare Umgebung mit polizeilichem Absperrband ab. Scraggs sprang aus dem Wagen und rannte zum nächsten Streifenbeamten, einem rundlichen Mann, der an einem der Streifenwagen lehnte und in ein Mobiltelefon sprach. Scraggs erkannte in ihm Diesel Borthwick, einen ziemlich faulen, unterdurchschnittlichen Constabler von der Fußstreife.
»Hey, Diesel, ich übernehme von jetzt an das Kommando«, bellte er den untersetzten Officer in mittlerem Alter an. »Wie ist die gegenwärtige Situation?«
Borthwick blickte einigermaßen irritiert auf, wahrscheinlich weil Lieutenant Scraggs seine Unterhaltung am Telefon störte. »Ich rufe zurück«, murmelte er in die Sprechmuschel, bevor er das Gespräch beendete und seine Aufmerksamkeit auf Scraggs richtete.
»Nun, Lieutenant«, sagte er. »Wir haben eine Leiche. Eine etwa sechzig Jahre alte Frau, plus oder minus. Ihr Kopf ist hinter der Tür auf einen Kleiderhaken gespießt, der Rest der Leiche sitzt in einem Sessel hinter einem Schreibtisch. Die Augen und die Zunge fehlen, Sir.«
»Haben wir irgendwelche Spuren?«
Borthwick drückte sich vom Streifenwagen ab und richtete sich auf. »Ja«, antwortete er mit müder Stimme. »Wir haben einen Zeugen, der behauptet, Freddy Krueger wäre heute Morgen in aller Eile aus der Tür gerannt und in einem silbernen Porsche weggefahren. Das Kennzeichen kennen wir allerdings nicht.«
»Freddy Krueger?«, fragte Scraggs verwirrt.
»Ein Kostüm, Sir. Es ist Mondfestival, Sir, vergessen Sie das nicht …«
Aus Richtung des Hauses ertönte ein lautes Knallen. Scraggs blickte zur Tür, um zu sehen, woher es kam. Die Tür schwang im Wind immer wieder auf und krachend zu.
»Sonst noch was?«, fragte er und verzog das Gesicht zu einer Grimasse angesichts des Kopfes, den er soeben auf der Rückseite der Tür entdeckt hatte.
»Ja, Sir. Ich habe eine Theorie, Sir.«
Scraggs drehte sich überrascht zu Diesel Borthwick um. Der zurückgebliebene Streifenpolizist wurde eigentlich von keinem, der ihn kannte, verdächtigt, mehr als ein halbes Gehirn zu besitzen. Daher war es höchst ungewöhnlich, irgendeine Meinung oder irgendeinen Vorschlag aus seinem Mund zu hören.
»Tatsächlich? Und die wäre?«, fragte Scraggs.
»Ich denke, es war Selbstmord.« Borthwick grinste Scraggs an.
»Sie dämlicher Idiot!« Angewidert drehte sich Scraggs um und ging zum Haus davon. Zwei weitere uniformierte Beamte standen am Fuß der Treppe, die zur Tür hinaufführte, und bewachten den Eingang.
Scraggs stampfte zwischen ihnen hindurch und streifte beide an den Schultern, als keiner ihm Platz machen wollte. Er trat durch den Hauseingang und warf einen flüchtigen Blick auf den Kopf der unglückseligen Toten, der am Türhaken aufgespießt hing. Im Haus herrschte das Chaos, das am Abend zuvor dort veranstaltet worden war. Überall Blut, die Stühle umgeworfen, der Rumpf der Mystischen Lady in einem Sessel hinter dem Tisch direkt vor ihm. Und Officer Adam Quaid, der durch die Seiten eines dicken Buches blätterte, das auf dem Tisch lag.
»Hey! Quaid! Was zum Teufel machen Sie da?«, herrschte Scraggs den Officer an.
Quaid zuckte zusammen und blickte erschrocken auf. Er hatte Scraggs nicht kommen hören. Beinahe reflexartig salutierte er vor seinem vorgesetzten Offizier, obwohl das nicht nötig gewesen wäre. Salutieren war in Santa Mondega ein alter Hut, und es gab mehr oder weniger nur einen einzigen Grund, es zu tun: wenn man von einem vorgesetzten Offizier bei etwas nicht ganz Einwandfreiem erwischt wurde.
»Ich habe dieses Buch hier auf dem Tisch gefunden, Lieutenant, Sir. Ich denke, Sie sollten wirklich einen Blick darauf werfen«, murmelte Quaid nervös.
»Lassen Sie das Buch, wo es ist, und warten Sie draußen auf weitere Instruktionen«, befahl Scraggs. »Der Captain ist auf dem Weg hierher, und er wird verdammt sauer reagieren, wenn er sieht, wie Sie mit den Beweisen umgehen. Er hat ausdrücklich bestimmt, dass nichts angerührt wird!«
»Aber Sir!«, sagte Quaid und deutete auf das offene Buch auf dem Tisch. »Ich denke wirklich, dass Sie einen Blick darauf werfen sollten.«
»Ich sagte RAUS!«, brüllte Scraggs den Officer an. »Lassen Sie das gottverdammte Buch liegen, und warten Sie draußen!«
»Jawohl, Sir«, murmelte der Beamte zaghaft.
Scraggs starrte Quaid böse an, während der übergewichtige, Doughnut-süchtige Officer auf dem Weg nach draußen dümmlich an ihm vorbeitappte. Augenkontakt war allerdings nicht möglich, weil Quaid zu Boden starrte wie ein ungezogener Schuljunge. Scraggs sah ihm kopfschüttelnd hinterher, während der vor sich hin murmelnde Trottel sich auf dem Weg nach draußen so weit wie möglich vom abgetrennten Kopf der Mystischen Lady fernhielt. Als könnte sie ihn beißen.
Dann gibt es jetzt nichts mehr zu tun außer warten, dachte Scraggs bei sich. Der Captain müsste innerhalb der nächsten zwanzig Minuten eintreffen. Ob ich ihm sage, dass einer der Officer das Buch in den Fingern hatte? Hmmm, lieber nicht. Es macht ihn nur wütend.
Es dauerte fünf Minuten der Unentschlossenheit, ob er nun auf den abgerissenen Kopf der Mystischen Lady starren sollte oder auf den Rest ihrer Leiche hinter dem Tisch, bis Scraggs unruhig und nervös wurde und das Eintreffen des Captains kaum noch erwarten konnte. Was ist mit diesem gottverdammten Buch?, sinnierte er. Es kann nicht schaden, einen Blick auf die Seiten zu werfen, die offen daliegen – solange ich sie nicht anrühre.
Er bewegte sich vorsichtig seitwärts zum Tisch, während er die Tür unablässig im Auge behielt für den Fall, dass Captain Rockwell unangekündigt eintraf. Er wollte nicht beim Schnüffeln erwischt werden. Als er mit der Hüfte die Seite des Tisches berührte, hielt er inne und schielte nach unten auf das Buch, das relativ zu seiner Position mehr oder weniger verkehrt herum lag, sodass die Schrift auf dem Kopf stand. Etwas auf der offenen Seite erweckte sofort seine Aufmerksamkeit. Er drehte sich um, sodass er einen genaueren Blick darauf werfen konnte. War es möglich, dass …? Nein, sicher nicht! Mit einem Finger drehte er das Buch auf dem Tisch herum, bis es richtig vor ihm lag. Und tatsächlich, seine Augen hatten ihn nicht getäuscht. Er hatte soeben gesehen, was auch Officer Quaid aufgefallen war.
Ach du heilige Schande!